Forum Modernes Theater
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0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0017
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2023
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BalmeDie Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand bei Edward G. Craig und Heinrich v. Kleist
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2023
Rosemarie Brucher
Der Aufsatz untersucht den Einfluss von psychowissenschaftlichen Theorien zu Zuständen nicht-bewusster Intelligenz auf Heinrich von Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“ (1810) und Edward Gordon Craigs Text „The Actor and the Über-Marionette“ (1908). Im Fokus der Analyse stehen Phänomene der Bewusstseinsspaltung, wie sie etwa im Somnambulismus, aber auch in Zuständen der Trance bzw. der Hypnose zu Tage treten und prinzipiell als Formen des Halbbewusstseins verstanden werden können. Dabei argumentiere ich, dass sowohl Kleists als auch Craigs Favorisierung der (Über-)Marionette gegenüber darstellenden Künstler*innen ihre ideale Entsprechung in der im 19. Jahrhundert überaus populären Figur der Somnambul*in findet. Denn diese ist zeitgenössischen Zuschreibungen zufolge durch alle Vorzüge der Marionette gekennzeichnet, wie beispielsweise Passivität, Empfänglichkeit oder Identitätslosigkeit, ohne dabei jedoch nur ein lebloser Gegenstand zu sein. Kleist und Craig bereiten damit in einer Zeitspanne von einem Jahrhundert die Bühne für eine künstlerische Exploration des Unbewussten.
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Die Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand bei Edward G. Craig und Heinrich v. Kleist Rosemarie Brucher (Wien) Der Aufsatz untersucht den Einfluss von psychowissenschaftlichen Theorien zu Zuständen nicht-bewusster Intelligenz auf Heinrich von Kleists Schrift „ Über das Marionettentheater “ (1810) und Edward Gordon Craigs Text „ The Actor and the Über-Marionette “ (1908). Im Fokus der Analyse stehen Phänomene der Bewusstseinsspaltung, wie sie etwa im Somnambulismus, aber auch in Zuständen der Trance bzw. der Hypnose zu Tage treten und prinzipiell als Formen des Halbbewusstseins verstanden werden können. Dabei argumentiere ich, dass sowohl Kleists als auch Craigs Favorisierung der (Über-)Marionette gegenüber darstellenden Künstler*innen ihre ideale Entsprechung in der im 19. Jahrhundert überaus populären Figur der Somnambul*in findet. Denn diese ist zeitgenössischen Zuschreibungen zufolge durch alle Vorzüge der Marionette gekennzeichnet, wie beispielsweise Passivität, Empfänglichkeit oder Identitätslosigkeit, ohne dabei jedoch nur ein lebloser Gegenstand zu sein. Kleist und Craig bereiten damit in einer Zeitspanne von einem Jahrhundert die Bühne für eine künstlerische Exploration des Unbewussten. Sowohl in Heinrich von Kleists Schrift „ Über das Marionettentheater “ (1810) als auch in Edward Gordon Craigs schauspieltheoretischen Überlegungen zur Über-Marionette am Beginn des 20. Jahrhunderts wird das reflexive Bewusstsein darstellender Künstler*innen als nachteilig für den künstlerischen Prozess bewertet. Denn dieses sei Ursache für Ziererei und Selbstbezogenheit und stünde der natürlichen Grazie und einem ästhetischen Streben nach Entpersönlichung entgegen. Zeitgleich zu Kleists kunsttheoretischen Überlegungen tritt die Entdeckung des Unbewussten, so Henri Ellenbergers gleichnamige Studie, ihren kulturgeschichtlichen Siegeszug an, der bis in das 20. Jahrhundert andauern wird. 1 Stehen am Beginn dieser Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Franz Anton Mesmers Experimente mit dem ‚ thierischen Magnetismus ‘ 2 und die sich daraus ableitende Somnambulismusforschung, so avancieren veränderte Bewusstseinszustände im Laufe des 19. Jahrhunderts zum zentralen Forschungsgegenstand der sich etablierenden und zugleich ausdifferenzierenden Psychowissenschaften. Dabei rücken insbesondere solche Prozesse in den Fokus, wo eine intelligente Handlung, jedoch scheinbar ohne Kenntnis der handelnden Person, zu beobachten ist. Sogenannte „ involuntary movements, unconscious and yet intelligent “ 3 , wie sie beim automatischen Schreiben, bei somnambulen Aktivitäten oder - in ihrer ausgeprägtesten Form - bei alternierenden Persönlichkeitszuständen auftreten, kann man insgesamt als Formen des Halbbewusstseins fassen. Denn die betroffenen Personen sind nicht gänzlich bewusstlos, sondern in ihnen ist vielmehr ein von ihrem herkömmlichen Ich differentes Bewusstsein aktiv. Parallel zu diesem Fokus innerhalb der psychowissenschaftlichen Forschung nehmen Versuche Form an, diese Zustände des Halbbewusstseins, wie sie den Somnambulismus oder die Hypnose kennzeichnen, für die Kunst nutzbar zu machen, so auch in schauspieltheoretischen Überlegungen. Forum Modernes Theater, 34/ 2, 157 - 173. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0017 Der vorliegende Aufsatz fokussiert diese Adaptionen bewusstseinstheoretischer Überlegungen für die darstellenden Künste in einer Gegenüberstellung von Kleist und Craig und deren jeweiligen Überlegungen zur (Über-)Marionette. Dabei werde ich argumentieren, dass sowohl Kleists Gliedermann als auch Craigs Über-Marionette als veränderte Bewusstseinszustände verstanden werden können, nämlich als solche des Somnambulismus, wo Menschen in einen tiefen Schlaf versunken scheinen und dabei gleichwohl verschiedene intelligente Handlungen ausführen. Zugleich soll die Gegenüberstellung der beiden Autoren mögliche Parallelen zwischen Kleist und Craig aufzeigen, stellt doch der ungarische Kunsttheoretiker László F. Földényi in seiner Auseinandersetzung mit diesen pointiert fest: „ [ … ] Craigs Essay lässt sich ausschließlich an Kleists Essay messen. “ 4 1. Edward Gordon Craig, „ The Actor and the Über-Marionette “ Edward Gordon Craig war Schauspieler, Regisseur, Bühnenbildner und vor allem Theatertheoretiker. Als solcher gilt er bis heute als einer der wichtigsten Impulsgeber der Jahrhundertwende, der die Theaterentwicklungen des 20. Jahrhunderts wesentlich beeinflusst hat. Dahingehend stellt Katharina Wild zurecht fest: „ Wer sich heute theoretisch mit dem Theater auseinandersetzt, kommt an Craigs Thesen nicht vorbei. “ 5 1908 publiziert Craig den Essay „ The Actor and the Über-Marionette “ , der europaweiten Einfluss gewinnt und bis heute als seminaler Text gilt. Der Essay geht von der in Kunsttheorien häufig diskutierten Frage aus, ob Schauspiel als eigene Kunstform angesehen werden kann. Craig nimmt hierzu eine eindeutige Position ein: „ Acting is not an art. It is therefore incorrect to speak of the actor as an artist. “ 6 Um dies zu untermauern, verweist er auf die Unkontrollierbarkeit und damit Zufälligkeit von Schauspiel: „ For accident is an enemy of the artist. Art is the exact opposite of pandemonium, and pandemonium is created by the tumbling together of many accidents. Art arrives only by design. “ 7 Kunst basiere folglich auf Design und schließe jegliche Form von Zufälligkeit aus, weshalb auch nur diejenigen Materialien für die Künste nutzbar seien, die sich Berechnung und Design gänzlich unterwerfen ließen. Doch, so Craig: „ Man is not one of these materials. “ 8 Neben der prinzipiellen Unkontrollierbarkeit des Menschen und damit auch der Schauspieler*in ist es vor allem die unvermeidbare Zurschaustellung ihrer Persönlichkeit, die Craig als kunstfern verurteilt. Es gelänge ihr in der Regel nicht, ihr eigenes reflexives Selbstbewusstsein respektive ihr Ego zu überwinden. Die Konsequenzen hiervon seien Gefallsucht und Ziererei. Sein angestrebtes Ziel für die Kunst der Zukunft ist hingegen der „ verzicht auf das persönliche “ , wodurch man „ eine kraft erhält, die sich von allen anderen unterscheidet und jeder anderen kraft überlegen ist. “ 9 Ob dieser mehrdimensionalen Unvereinbarkeit von Schauspieler*in und Kunst setzt sich Craig ab 1905 zum Ziel, ein neues Material für das Theater zu finden; ein „ material which can be ,entirely enslaved ‘“ 10 : die Über-Marionette. So lautet denn auch die berühmt gewordene Schlussfolgerung seines Essays: „ The actor must go, and in his place comes the inanimate figure - the Über-Marionette we may call him, until he has won for himself a better name. “ 11 „ Then “ , so visioniert Craig, „ shall we no longer be under the cruel influence of the emotional confessions of weakness which are nightly witnessed by the people and which in their turn create in the beholders the very weakness which are exhibited. “ 12 Die Über-Marionette ist folglich, so auch Irène Eynat- Confino, „ Craig ’ s answer to the actor ’ s inborn incapacity to control emotion. “ 13 158 Rosemarie Brucher Was jedoch genau man sich unter einer Über-Marionette vorzustellen habe, beschäftigt seit der Publikation von Craigs Aufsatz seine Rezipient*innen. Nach Craig geht die Über-Marionette genealogisch auf Steinbilder antiker Tempel bzw. auf bewegliche religiöse Figuren zurück. Im Gegensatz zur gewöhnlichen, zum Spielzeug degenerierten Marionette soll die Über-Marionette, die es in ihrer heutigen Form erst neu zu kreieren gelte, noch in direkter Verbindung zu diesem sakralrituellen Ursprung stehen. Wie konkret sie gedacht werden muss, variiert zu den verschiedenen Zeitpunkten von Craigs Auseinandersetzung. Zunächst weisen Notizen auf den Wunsch ihrer tatsächlichen Umsetzung hin. So berichtet Craig einem Freund 1905: „ Expect to receive wonderful news within 3 months. I may then have my own theatre and my own company. NOT AC- TORS but a CREATURE of my own invention. “ 14 Dabei macht er sich zum Ziel, „ to find a material which is pliable and solid which takes the impression of the artist but does not change after the impression is over. “ 15 Ab 1911 will Craig die Über-Marionette jedoch zunehmend metaphorisch als eine andere Art von Schauspiel verstanden wissen. Dieser Selbstdeutung folgend wurde die Über-Marionette in der Sekundärliteratur zunächst vorwiegend als Metapher für eine bestimmte Form von Schauspiel interpretiert. Dahingehend stellte etwa Denis Bablet 1962 fest: „ Die Übermarionette, das ist der Schauspieler, der sich durch die Aneignung bestimmter Eigenschaften der Marionette von seinen Zwängen befreit hat. “ 16 Diese Lesart ändert sich wiederum Ende der 1980er Jahre, als der Einbezug unveröffentlichter Notizbücher die Einsicht festigt, dass Craig temporär eine tatsächliche Umsetzung der Über-Marionette im Sinn hatte. 17 Im Folgenden soll jedoch eine dritte Variante vorgeschlagen werden. So erlauben verschiedene Textstellen die Annahme, dass es sich bei der Über-Marionette auch um einen Zustand handeln könnte, in den die Schauspieler*in gerät - einen solchen nämlich der Trance bzw. des tranceartigen Somnambulismus. Dieser Lesart zur Folge wäre die Über-Marionette in erster Linie durch eine Bewusstseinsveränderung gekennzeichnet, wodurch sie in den Kontext der Verhandlung psychowissenschaftlicher Phänomene im Theater um 1900 rückt. So findet um 1900 die in Schauspieltheorien häufig gestellte Frage nach der emotionalen Identifikation der Schauspieler*in mit ihrer Rolle vor dem Hintergrund des Modells des doppelten Bewusstseins eine neue Akzentuierung, indem nun Prozesse der Spaltung zur Erklärung emotionaler Nähe bzw. Distanz herangezogen werden. 18 Theatertheoretiker wie Julius Bab oder Hermann Bahr sehen in der Tätigkeit der Schauspieler*in umgesetzt, was sie für die entscheidende Erkenntnis der zeitgenössischen Psychologie halten: „ die Vielheit des Ichs, daß jeder in jeder Stimmung und für jede Stimmung sein besonderes Ich hat und daß keiner zwei verschiedene Stimmungen hindurch derselbe ist. “ 19 Diese ,Vielheit des Ichs ‘ findet Bahr insbesondere durch Théodule Ribots 1885 publizierte Studie Les Maladies de la Personnalité bestätigt, auf die er explizit Bezug nimmt. Nicht nur Bahr greift für die Explikation von Schauspiel auf zeitgenössische psychowissenschaftliche Ansätze zurück, Bezüge dieser Art finden sich in den meisten namhaften Schauspieltheorien um 1900, so etwa bei Max Martersteig, William Archer oder Edward Gordon Craig. Dabei ist weder bei Craig noch bei allen Schauspieltheoretikern dieser Zeit die konkrete Lektüre psychiatrischer Theorien nachweisbar oder anzunehmen. Vielmehr ist sowohl das Wissen um als auch das Interesse für alternierende Bewusstseinszustände um 1900 kulturell bereits in einer Weise etabliert, dass die tatsächliche Lektüre für eine zumindest allgemeine Kenntnis der behandelten Phäno- 159 Die Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand mene und Konzepte nicht mehr zwingend vorausgesetzt werden muss. Denn die auf Hypnose- und Somnambulismustheorien aufbauende Debatte zu veränderten Bewusstseinszuständen erfuhr in Europa zu dieser Zeit sowohl in wissenschaftlichen als auch in nicht-wissenschaftlichen Kreisen einen Höhepunkt, was sich in dem nahezu inflationären Auftreten von spiritistischen Kreisen, theatralen Hypnosevorführungen, (halb)öffentlichen Vorträgen und Séancen mit Medien, semi-wissenschaftlichen und wissenschaftlichen Artikeln, publizierten Fallgeschichten sowie künstlerischen Auseinandersetzungen mit diesem Themenfeld niederschlug. Diese Debatte, so gilt es im Folgenden anhand von Craig aufzuzeigen, fließt auf verschiedene Weise in die Texte von Theatertheoretiker*innen ein und bestimmt die Ausformung ihrer Gedanken mit. Eine scheinbar beiläufige Präzisierung in der Beschreibung der Über-Marionette führt auf die Spur, diese als Bewusstseinszustand zu verstehen. So führt Craig aus: „ Its ideal will not be the flesh and blood but rather the body in trance - it will aim to clothe itself with a death-like beauty while exhaling a living spirit. “ 20 Vieles deutet darauf hin, dass unter Trance hier ein somnambuler Zustand verstanden werden kann, wie er um 1900 nicht nur in psychowissenschaftlichen Diskursen, sondern auch bereits in vielseitigen kulturell-künstlerischen Aneignungen eine zentrale Rolle spielt. So zeigt etwa der Lexikoneintrag zu ‚ Trance ‘ der Encyclopædia Britannica von 1911, dass der Begriff zur Entstehungszeit von Craigs Über-Marionetten-Essay primär im Kontext von Bewusstseinsspaltungen (Dissoziationen) verstanden wurde, wie sie nach damals gängiger Lehrmeinung auch dem Somnambulismus zugrunde lägen. 21 So nahm man an, dass bei diesem abgespaltene unbewusste Empfindungen, Erinnerungen oder Eindrücke eine selbstständige Persönlichkeit zu bilden begännen. Diese nicht-bewusste Intelligenz würde dann in somnambulen Phasen aktiv, ohne dass das herkömmliche Ich sich der Handlungen dieses ‚ zweiten Ich ‘ bewusst wäre. Solcherlei Vorgänge könnten sowohl selbstständig auftreten als auch durch Hypnose evoziert werden, in beiden Fällen handle es sich aber qualitativ um dasselbe Phänomen. Für die Deutung von Trance als somnambulen Zustand sprechen jedoch auch textimmanente Gründe, nämlich insbesondere die Analogien zwischen Somnambul*innen und Craigs Vorstellung der Über-Marionette, die es im Folgenden näher auszuführen gilt: deren Nähe zu Schlaf und Traum, deren Todesnähe sowie deren passiver Gehorsam. 2. Somnambulismus als psychogener Dämmerzustand Zunächst entspricht Somnambulismus als psychogener Dämmerzustand in idealer Weise Craigs Ästhetik der Stille, des Schlafes und der symbolischen Traumwelt, wie er sie wiederholt der Über-Marionette zuschreibt, zugleich aber auch insgesamt für das Theater der Zukunft fordert. So fragt Craig in Bezug auf Marionetten, die er zugleich als „ dream folk “ 22 bezeichnet: „ and is not their little life one perfect round of sleep? “ 23 Der Seinszustand der Über-Marionette wird von ihm folglich mit Schlaf gleichgesetzt, jedoch mit einer Form des Schlafes, die, wie beim Schlafwandeln, Aktivität zulässt. Denn Schlaf und Trance seien Zustände, die vom Bewusstsein befreite Bewegungsformen erlaubten, von jenem negativen Einflussfaktor also, der reale Schauspieler*innen daran hindern würde, Künstler*innen zu sein. Dass Somnambulismus und Hypnose in Craigs Denken auch an anderer Stelle eine Rolle spielen, zeigt sein Aufsatz „ On the Ghosts in the Tragedies of Shakespeare “ , wo 160 Rosemarie Brucher er in Bezug auf Macbeth auf den „ mysterious mesmerism which masters Macbeth “ 24 bzw. explizit auf dessen „ state of somnambulism “ 25 zu sprechen kommt. Dahingehend erläutert er, Macbeth sei „ a man in that hypnotic state which can be both terrible and beautiful to witness. We should realize that this hypnotism is transmitted through the medium of his wife [ … ]. “ 26 Und weiter: „ I seem to see him [Macbeth, R. B.] in the first four acts of the play as a man who is hypnotized, seldom moving, but, when he does so, moving as a sleep-walker. “ 27 Craig hebt vor allem die schlafwandlerische Bewegungsform von Macbeth hervor. Dieser minimalistische, ruhige und vor allem automatisierte Bewegungsstil der Somnambul*innen charakterisiert ebenso die Über- Marionette, deren Bewegungen durch „ gravity “ und „ calmness “ 28 gekennzeichnet sind. Und in der Tat findet sich bei Craig eine Textstelle, wo er explizit die Bewegungen von Marionetten mit jenen von Somnambul*innen vergleicht, wenn er schreibt: „ the slow and deliberate gesture of all Puppets - each has to move as a somnambulist. “ 29 Die Verbindung von Trance und Bewegung erinnert dabei an den Trancetanz, der sich um 1900 ähnlicher Beliebtheit erfreute wie spiritistische Séancen oder die öffentliche Vorführung von Hysteriker*innen. Bei dieser Form des Tanzes wurde die meist weibliche Tänzerin zu Beginn hypnotisiert und tanzte im Anschluss in diesem somnambulen Zustand improvisatorisch zu unterschiedlichen Musikstücken. Die wohl bekannteste Trancetänzerin um 1900 war Magdeleine Guipet, die 1903 etwa in Auguste Rodins Atelier und in der Pariser Opéra-Comique und 1904 im Münchner Schauspielhaus vor zahlreichen Zuschauer*innen auftrat. Der Kunstkritiker Otto Julius Bierbaum verfasste eine hymnische Kritik: Nie im Leben habe ich, auch bei den grössten Schauspielern nicht, einen menschlichen Körper, ein menschliches Gesicht seelische Vorgänge so zum allerstärksten und dabei nie über die Grenze des Schönen hinausgehenden Ausdruck bringen sehen. [ … ] ob man auch mehr und mehr die Empfindung gewann, dass das, was sich hier zeigte, eine Offenbarung von räthselhaften Kräften war, so hatte man doch nie das Gefühl von etwas Pathologischem, [ … ] sondern man gab sich dem Wunderbaren doch wie einer Leistung der Kunst hin, allerdings einer Kunst, die direkt aus den Tiefen der Inspiration kam. 30 Auch wenn Guipet Craig möglicherweise nicht bekannt war, so sicherlich Isadora Duncan, auf deren Ähnlichkeit der Posen wiederholt verwiesen wurde. 31 Duncan wiederum, die Craig 1905 in Deutschland kennenlernen wird, gilt ihm als Ideal tänzerischer Bewegung, wie zahlreiche euphorische Kommentare zu ihrer Arbeit belegen. Darüber hinaus lassen auch die Beschreibungen der idealen Bewegungsformen der Über-Marionette auf eine Nähe zum Tanz schließen. Die Über-Marionette kann somit zunächst als somnambuler Bewusstseinszustand verstanden werden, der sich primär im Körper im Sinne eines bestimmten Bewegungsstils manifestiert, weshalb Craig auch explizit vom ‚ body in trance ‘ spricht. 3. Somnambulismus und Tod Craig denkt die angestrebte schlafwandlerische Stille für sein Theater konsequent weiter, indem er der buchstäblichen Hitze der schauspielerischen Emotionen nicht nur eine Ästhetik des Schlafes, sondern auch eine solche des Todes entgegenhält. Dahingehend postuliert er: I think that my aim shall rather be to catch some far-off glimpse of that spirit which we call Death [ … ] they say they are cold, these dead things, I do not know - they often seem warmer and more living than that which parades as life. Shades - spirits seem to me 161 Die Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand to be more beautiful, and filled with more vitality than men and women [ … ]. 32 Diese Passage aus dem Über-Marionetten- Aufsatz stellt Leben und Vitalität einander gegenüber, wobei Letztere paradoxerweise dem Reich der Geisterwesen zugesprochen wird. Neben Vitalität ist es vor allem Schönheit, die Craig nicht nur an dieser Stelle in den Kontext von Tod rückt, sondern auch, wenn er von der „ death-like beauty “ 33 der Über-Marionette spricht. Seine ideale Entsprechung findet „ that spirit which we call Death “ daher auch erneut in der Über- Marionette, denn diese „ inanimate figure “ 34 „ will not compete with life - rather will it go beyond it. “ 35 In ihrer stillen Jenseitigkeit kann die Über-Marionette somit zum positiv besetzten Mittelpunkt Craigs Ästhetik des Todes werden. Die Nähe zum Tod kennzeichnet auch die somnambule Trance. So beschreibt bereits Jean Paul in seinem Aufsatz „ Mutmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus “ (1814) visionäre Momente, wie sie sowohl dem Sterben als auch dem Somnambulismus eigen sind. Demnach handle es sich vor allem beim Scheintod und der somnambulen Trance um zwei verwandte Formen des Seins. Auf die „ Verwandtschaft des thierischen Magnetismus mit dem Tode “ 36 , die sich etwa in der fehlenden Rückerinnerung an somnambule Zustände sowie in den häufig auftretenden kataleptischen Erstarrungen der Somnambul*innen zeige, verweist ebenso Gotthilf Heinrich Schubert, auf den ich in Bezug auf Kleist zurückkommen werde. Zugleich spielt auch die visionäre Dimension der Imagination, die Craig als wichtigste Grundlage künstlerischen Schaffens versteht und im Reich des Todes verortet, im Somnambulismus eine tragende Rolle. Eine besondere Klarsicht, die bis hin zu einer die Zukunft prognostizierenden Hellsicht reichen kann, bleibt über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg ein zentrales Charakteristikum somnambuler Trance. So löse sich nach Carl Alexander Ferdinand Kluges Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel von 1815 die Seele vorübergehend vom Körper und ermögliche auf diese Weise hellseherische Fähigkeiten, worin sich der „ Offenbarungscharakter “ 37 des Somnambulismus zeige. Man hoffte folglich durch die Erforschung der Zusammenhänge von Somnambulismus, Schlaf und Tod „ die Grenzen menschlicher Erkenntnis zu erweitern und das ‚ Ewige ‘ und ‚ Absolute ‘ erfahrbar und erkundbar zu machen. “ 38 Im Kontext des Spiritismus wiederum wird somnambulen Zuständen die Fähigkeit zugesprochen, mit Toten zu kommunizieren. Die Todesnähe der Somnambul*innen zeigt sich über die theoretische Auseinandersetzung hinaus auch in zahlreichen kulturellen Adaptionen, wo diese gemeinhin mit ausdruckslosen, todesähnlichen Gesichtern und starren Bewegungen dargestellt werden. Exemplarisch sei an einen der berühmtesten Somnambulen der Filmgeschichte erinnert, Cesare aus Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1919/ 20). Der Somnambule, der von Caligari für etwaige Untaten missbraucht wird, trägt nicht nur durch sein weißes, maskenhaftes Gesicht und seine ausgeprägten schwarzen Augenringe Züge des Todes, sondern ruht in untätigen Phasen überdies in einer sargähnlichen Konstruktion. Ähnlich verhält es sich mit der Über- Marionette, über die Craig feststellt: „ silently he waits until his master signals him to act “ 39 . 4. Somnambuler Gehorsam Über eine Ästhetik des Schlafes bzw. des Todes hinaus ist es die Anforderung des absoluten Gehorsams, die die Über-Marionette in den Kontext des Somnambulismus 162 Rosemarie Brucher rückt. Dieser Gehorsam gilt bei Craig dem Regisseur, d. h. dem ‚ stage director ‘ , der über eine „ entire and absolute control of the stage and all that is on stage “ 40 verfügen soll. Dem von ihm entwickelten Regiekonzept haben sich die Schauspieler*innen bis ins kleinste Detail zu unterwerfen. Während der Mensch zu einer solchen absoluten Unterwerfung aufgrund seines wesenhaften Freiheitsstrebens allerdings nicht fähig sei, entspreche die Kontrolle von außen gerade der ‚ Natur ‘ der Über-Marionette. ‚ Obedience ‘ und ‚ silence ‘ sind folglich die Begriffe, die sich als Charakteristika der Marionette durch Craigs Texte ziehen. So fragt Craig mit Blick auf die Marionette rhetorisch: „ And what other virtues can I name beside these two of silence and obedience? I think these are enough. “ 41 An anderer Stelle fügt Craig noch Passivität und Empfänglichkeit hinzu: it is just this passivity, obedience and responsiveness which renders the marionettes such valuable material for the artist of the theatre, which would make possible that which with the living material of the living actor ’ s body remains impossible, … the creation of a work of art. 42 Gehorsam, Passivität und Empfänglichkeit gegenüber äußeren Einflüssen, d. h. Suggestibilität, kennzeichnen auch die somnambule Trance und kulminieren in der Abhängigkeit der Somnambul*in von ihrem Hypnotiseur 43 , die man über Jahrhunderte hinweg als Zustand des Ausgeliefertseins begriff. Um 1900 wurde dieses Abhängigkeitsverhältnis rückblickend und nicht ohne Skepsis als eine „ Art von Lebens- und Empfindungsgemeinschaft “ definiert, vermöge deren der Wille des Magnetiseurs auf die organischen und geistigen Funktionen des Somnambulen einen bezwingenden Einfluß erhalten soll, während dem letztern gleichzeitig die Seelenzustände des Magnetiseurs direkt zum Bewußtsein kommen sollen. 44 Folgt man Craig, kulminieren sowohl bei der Über-Marionette als auch bei Somnambul*innen somit drei Zustände, die alle durch eine Form des Halbbewusstseins gekennzeichnet sind: Sterben, Schlaf und Trance. Das Nebeneinander von Tod und Leben - „ a death-like beauty while exhaling a living spirit “ 45 - verweist zudem auf eine Zwischenform des Seins. Doch lassen sich die in der Analyse von Craigs Über-Marionette gewonnenen Erkenntnisse auch auf andere Marionetten- oder Puppen-Theoretiker*innen übertragen, d. h., können auch andere Marionetten in den Kontext des Somnambulismus gestellt werden? Diese Frage soll im zweiten Teil meines Artikels anhand einer der berühmtesten Abhandlungen zur Marionette beantwortet werden: Heinrich von Kleists „ Über das Marionettentheater “ von 1810; ein Text, mit dem sich nicht zuletzt Craig selbst auseinandergesetzt hat. 5. Heinrich von Kleists „ Über das Marionettentheater “ Kleists Beschäftigung mit dem ‚ Thierischen Magnetismus ‘ , also den Somnambulismus- Theorien seiner Zeit, die bis hin zu einer „ Literarisierung des Somnambulismus “ 46 reicht, wurde in der Forschung bereits ausführlich behandelt. 47 Kleists Wissen über Somnambulismus geht in erster Linie auf den Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert zurück, den er 1807 in Dresden kennenlernt, wo Kleist bis 1809 lebt. Schubert verkehrte nicht nur in Kleists Freundeskreis um Rühle von Lilienstern, sondern gemeinsam mit seinen Freunden, darunter Theodor Körner und Ludwig Tieck, besuchte Kleist auch Schuberts Vorlesungen, die als Grundlage dessen 1808 verfassten Schrift Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft diente. Kleists Interesse für dieses Themenfeld war offenbar so groß, dass Schubert in seiner Autobiografie 1855 fest- 163 Die Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand hielt: „ [N]amentlich für Kleist hatten Mittheilungen dieser Art so viel Anziehendes, daß er gar nicht satt davon werden konnte und immer mehr und mehr derselben aus mir hervorlockte [ … ]. “ 48 Für Schubert bewiesen somnambule Zustände samt deren hellseherischen und prophetischen Anteilen „ den fließenden Übergang von diesem zum nächsten Leben wie die innige Verbindung des Einzelmenschen mit dem Naturganzen im Medium einer überall wirksamen Lebensseele. “ 49 Ähnlich verhalte es sich mit Träumen und gläubigen Ekstasen. Denn ursprünglich habe ein geistig-organischer Zusammenhang aller Dinge und folglich auch eine harmonische Einheit zwischen Mensch und Welt bestanden, in der „ der Mensch Aufschlüsse über die Geheimnisse von Leben und Kosmos in direkter, sozusagen gangliöser Kommunikation mit der Natur empfing. “ 50 Spuren dieser durch die Herausbildung von freiem Willen und Selbstbewusstsein zerbrochenen Einheit ließen sich vor allem im Somnambulismus erkennen. Zugleich verweise dieser auf die Möglichkeit eines neuen zukünftigen Lebens, in welchem der Einzelne wieder in Harmonie mit dem Ganzen existiere. In dieser antizipierenden Funktion könne der Somnambulismus als „ der Keim des zukünftigen Lebens in der Mitte des jetzigen “ 51 gelten. Er überwinde dabei mit seinen Ahnungen und Sympathien nicht nur Raum und Zeit, sondern lasse auch die Grenzen von Tod und Leben durchlässig werden. Insofern werden somnambule Zustände von Schubert insgesamt als solche begriffen, „ wo die menschliche Natur die Anker nach einer schöneren Heymath lichtet, und wo die Schwingen des neuen Daseyns sich regen. “ 52 Die Auseinandersetzung mit Schuberts Ansichten bzw. mit Somnambulismus generell sowie die „ Präferenz für präreflexive Zustände “ 53 nehmen Einfluss auf verschiedene Werke Kleists, vornehmlich auf Das Käthchen von Heilbronn, Prinz Friedrich von Homburg und Penthesilea, aber auch Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik. Ausgehend von meinen Überlegungen zu Craig möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern sich Kleists Interesse für somnambule Zustände auch in seinem Text „ Über das Marionettentheater “ niederschlägt. Zur Zeit seiner Entstehung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend unbeachtet, entwickelt sich der Text in der Folge zu einer der meistuntersuchten Schriften Kleists, ja, aus Sicht vieler Interpret*innen, sogar zum „‚ Schlüsseltext ‘“ 54 für Kleists Œ euvre insgesamt. Dem ungeachtet sei kurz an den Inhalt erinnert: Der Text berichtet von der Begegnung des Ich-Erzählers mit Herrn C., dem ersten Tänzer der Oper der Stadt M., bei der sie anlässlich eines Marionettentheaters ein Gespräch über Tanz, Bewegung, Grazie und die Überlegenheit von Marionetten gegenüber menschlichen Tänzer*innen beginnen. Dabei verfolgt Herr C. die These, dass „ es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann “ in seiner Fähigkeit zur Anmut „ auch nur zu erreichen “ 55 , da ihm hierzu sein Bewusstsein im Wege stünde, durch welches er seinen Zustand der Unschuld verloren hätte. Umgekehrt argumentiert Herr C.: „ Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. “ 56 Diese These wird im Folgenden anhand von drei Beispielen ausgeführt: dem Gliedermann, einem naiven Jüngling, der bei dem Versuch, die Anmut einer unbewussten Geste gezielt zu wiederholen, notwendig scheitert, sowie einem fechtenden Bären, der seine Gegner mühelos zu schlagen vermag. Bei allen drei Beispielen ist ein (reflexives) Bewusstsein gar nicht oder nicht vollständig ausgeprägt. Bei der Gegenüberstellung von Craigs Über-Marionette, Schuberts Somnambulismustheorien und Kleists Marionettentext 164 Rosemarie Brucher fällt zunächst auf, dass alle drei Autoren ein teleologisches Geschichtsmodell vertreten, das von einem paradiesischen ‚ goldenen Zeitalter ‘ der Verbundenheit von Mensch und Natur - bei Craig einer Sakralität des Lebens - ausgeht, in dem der Mensch durch eine natürliche Grazie gekennzeichnet war. Durch den Sündenfall, der mit dem Entstehen von Bewusstsein einherging, verlor der Mensch diesen Bezug zur Natur. Die Erlösung aus dieser Entzweiung kann jedoch bei allen drei Autoren nicht in einer Rückwärtsgewandtheit, sondern lediglich im Voranschreiten erfolgen. In Kleists Marionettenaufsatz heißt es entsprechend paradigmatisch: Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott. 57 Da der Mensch aber weder bloßer Gegenstand noch gottgleich, d. h. mit einem unendlichen Bewusstsein ausgestattet ist, scheinen ihm beide Optionen verschlossen. Mein Interesse gilt jedoch weniger diesem Dreistufenmodell (kein Bewusstsein, Bewusstsein, unendliches Bewusstsein), sondern der Rolle der Somnambul*in innerhalb dieses Modells. Vermag diese nach Schubert doch im Hier und Jetzt jenen zukünftigen Zustand der Unschuld vorwegzunehmen. Die Somnambul*in würde folglich eine Zwischenstufe zwischen Gliedermann und Gott verkörpern, in der sie, anders als der Mensch, an den jeweiligen Oppositionen teilhat: Auf der einen Seite fehlt ihr sowohl ein Ichbewusstsein im herkömmlichen Sinn als auch ein damit einhergehendes Willensvermögen, was sie in die Nähe von Automaten rückt. Auf der anderen Seite wird ihr aber die Fähigkeit eines allumfassenden Bewusstseins zugesprochen, das die Grenzen von Raum und Zeit sowie von Leben und Tod zu überschreiten vermag. Interpretierte man also Kleists Gliedermann analog zu Craigs Über-Marionette als somnambulen Bewusstseinszustand, so gewönne der utopische Gehalt des Textes eine andere Dimension. Bei beiden Autoren eröffnet sich somit eine weitere Lesart, die nicht ohne Auswirkungen auf das Gesamtverständnis der Texte bleibt. Doch finden sich noch weitere Indizien, die eine solche Interpretation des Gliedermanns als Somnambul*in erlauben und damit Parallelen zu Craigs Über-Marionette erschließen? Die Lektüre von Craig hat gezeigt, dass die Über-Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand verstanden werden kann, der sich primär im Körper im Sinne eines bestimmten Bewegungsstils manifestiert, der durch eine schlichte Grazie und Ruhe bestimmt ist. Auch bei Kleist wird wiederholt auf die Einfachheit, Ruhe, Leichtigkeit und Anmut der Bewegungen der Marionette verwiesen, die zugleich etwas „ sehr Geheimnsivolles “ 58 hätten. Dieses Geheimnisvolle resultiere aus der Steuerung durch den Puppenspieler, d. h. aus dem Umstand, dass eine andere ‚ Kraft ‘ durch die Marionette als Medium wirkt. Somit ist auch Kleists Marionette durch Passivität, Hingabe sowie die vollständige Unterwerfung unter eine externe Steuerung gekennzeichnet, wird diese doch vom Puppenspieler „ regiert “ 59 , der ihren Schwerpunkt „ in seiner Gewalt hat “ 60 . Dies wiederum trifft auch auf Somnambul*innen zu, die nicht nur vom Magnetiseur gelenkt werden, sondern auch von ihrem Unbewussten, das 165 Die Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand temporär die Steuerung übernimmt. Dementsprechend lässt sich die unter dem Eintrag ‚ puppet ‘ im Oxford English Dictionary gegebene Beschreibung einer „ person [ … ] whose actions are controlled by some other agency, despite appearing to be his or her own person whose acts, while ostensibly his own, are suggested and controlled by another “ 61 , uneingeschränkt auch auf Somnambul*innen übertragen. Sowohl die Marionette als auch die Somnambul*in sind schließlich durch ein „ complete lack of autonomy “ 62 gekennzeichnet. So schreibt auch Schubert mit Blick auf deren Passivität: [M]it andren Worten es tritt öfters die tiefer liegende Anlage des künftigen Daseyns, vorzüglich nur in einem passiveren Zustand des jetzigen hervor, und die wunderbare kaum geahndete Tiefe unsrer Natur, offenbart sich am meisten in den Augenblicken der gänzlichen Hingebung oder selbst des Schlummerns des jetzigen Strebens. 63 Die Nähe zum Tod, die bei Craig zentral war, lässt sich auch für Kleist argumentieren, hebt doch Herr C. explizit deren ‚ tote ‘ Glieder hervor. Dahingehend stellt auch Paul de Man in Bezug auf Kleists Text fest: „ Der Schwerkraft unterworfen, heißen die Gliederpuppen mit Recht tot, hängen und schweben sie doch wie Leichen: Anmut wird unvermittelt mit Tod, aber mit einem vom Pathos befreiten Tod assoziiert. “ 64 Wie bei der Somnambul*in zeigen sich auch bei Kleists Beispielen hellsichtige Züge, worauf abschließend in Bezug auf den fechtenden Bären zurückgekommen werden soll. Dessen Handlungssicherheit entspricht einem Verständnis des Unbewussten in der Romantik, wie es auch Schubert vertrat. Demnach würden „ Traum und Trance uns nicht nur mit der Wahrheit des eigenen Innern oder des Naturganzen, sondern auch der transzendental verbürgten göttlichen Fügung in Kontakt bringen. “ 65 Craigs Beschreibungen der Über-Marionette lassen eine Anthropomorphisierung derselben erkennen, die nicht nur deren Verständnis als somnambuler Zustand unterstützt, sondern auch deren Deutung als bestimmter Schauspielstil. Auch Kleist strebt nach organischen Entsprechungen für die Vorzüge der Marionetten, die allesamt durch eine dunkle und schwache Reflexion gekennzeichnet sind: tanzende Bauern, fechtende Bären, jugendliche Unbekümmertheit. Dadurch wird auch in diesem Punkt nahegelegt, dass seine Argumentation nicht (nur) auf das konkrete Objekt Marionette abzielt, sondern dass anhand dieser vielmehr metaphorisch ein Zustand - präziser - ein Dämmerzustand, bei gleichzeitiger Handlungsfähigkeit erfasst werden soll. Neben der Unkontrollierbarkeit der Schauspieler*in war es vor allem die unvermeidbare Zurschaustellung ihrer Persönlichkeit, die Craig verurteilt hatte, da diese zwangsläufig in Ziererei münde. Analog dazu betont auch Herr C. als Vorzug der Marionette, „ daß sie sich niemals zierte “ 66 . Stattdessen zeichne sowohl Marionette als auch Über-Marionette die „ beste Form der Unschuld “ 67 aus; eine Unschuld, die auch den Jüngling in Kleists Text kennzeichnet, bevor er sie vor den Augen des Icherzählers einbüßt und das „ Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder “ 68 findet. Auf die Korrelation von Bewusstsein und Grazie Bezug nehmend wird in der Auseinandersetzung mit Kleists ‚ Somnambulismus-Dramen ‘ häufig auf den Marionetten-Text verwiesen, um die „ Sicherheit der Grazie im Unbewußten “ 69 zu verorten. 70 Dabei wird aber, meiner Kenntnis nach, nicht die umgekehrte Schlussfolgerung gezogen, nämlich Kleists Marionette als somnambulen Bewusstseinszustand bzw. als Trance zu deuten. 71 Trance wäre demnach als eine Technik des temporären „ verzichts auf das persönliche “ 72 , eine vorübergehende Entpersönlichung, wie sie sowohl Craig als 166 Rosemarie Brucher auch Kleists Herr C. einfordern, zu verstehen. Als Technik verstanden, birgt der Somnambulismus schließlich die Möglichkeit, ihn für die Künste einzusetzen. Wenn Herr C. in Kleists Text folglich feststellt: „ das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist “ 73 , so lässt sich vor dem Hintergrund von Kleists Schubertlektüre fragen, ob sich nicht gerade „ in den Ausnahmezuständen somnambuler Bewußtseinsbefreiung uns das Paradies momentweise, quasi ‚ von hinten ‘“ 74 zu öffnen vermag? 6. Somnambule Kommunikation Wie ich in Bezug auf Craig aufgezeigt habe, ist sowohl die (Über-)Marionette als auch die Somnambul*in durch eine besondere Form der Kommunikation mit ihrem ‚ Meister ‘ charakterisiert. Hierbei ist eine sympathetische Verbundenheit das Ziel, die einerseits durch Subordination und andererseits durch eine superiore Lektürebzw. Übersetzungsfähigkeit gekennzeichnet ist. Auch bei Kleist wird das Verhältnis von Puppe und Puppenspieler als ein kommunikatives markiert, worauf unter anderem Paul de Man verweist, wenn er schreibt: „ Die ästhetische Kraft hat weder in der Puppe, noch im Puppenspieler ihren Sitz, sondern in dem Text, der sich zwischen ihnen entspannt. “ 75 Die Bewegungen der Marionette sind mit Herr C. dabei nichts anderes „ als der Weg der Seele des Tänzers “ 76 , wofür es notwendig sei, „ daß sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d. h. mit andern Worten, tanzt. “ 77 Die Kommunikation zwischen Puppe und Puppenspieler kann somit als Übersetzungsleistung eines Impulses verstanden werden, für deren Ausführung ein Medium außerhalb des Ich notwendig ist. Ähnlich verhält es sich auch mit der Somnambul*in. So erklärt der Spätromantiker C. G. Carus 1860, dass bei der Erzeugung des künstlichen Schlafes: ein gewisses unmittelbares Ineinanderwirken der Nervensysteme des Magnetiseurs und des Magnetisirten notwendig sei, um jenes vermehrte Strömen der Innervation im Magnetisirten zu bewirken, und daß dabei nicht bloß die Innervation des Magnetisirten angezogen werden, sondern unfehlbar auch ein Einströmen des Magnetsieurs auf Jenen statt finden müsse, ist klar: man könnte es daher eine Art von Vermählung zweier Nervenleben nennen [ … ]. 78 Diese „ Vermählung zweier Nervenleben “ entsprach auch Craigs Wunsch nach serviler Empfänglichkeit, durch die sich die Ideen des Regisseurs wie durch seelische Fäden auf die Über-Marionette übertragen sollten. Dabei würde diese sympathetische Empfindungsgemeinschaft vor dem Hintergrund des somnambulen Rapports wechselseitig ausfallen: Die Über-Marionette fühle, denke und handle durch den als Magnetiseur fungierenden Regisseur, zugleich handle jedoch auch der Regisseur durch die Über- Marionette als sympathetisches Material, auf das er als sein Medium angewiesen ist, denn: The good manipulator is not, as most people imagine, busily concerned with the details of which string to pull, which rod to push. He works the puppet as unconsciously as he works his own muscles: It becomes in fact an extension of himself. 79 Wenn Kleists Puppenspieler folglich seelisch zu tanzen vermögen muss, um, umgekehrt, die Puppe zum Tanzen zu bringen, so lässt sich auch hier folgern, dass die Trennung zwischen Puppe und Puppenspieler nicht mehr klar gezogen werden kann. Mit anderen Worten: „ action and reaction were one, perhaps indistinguishable “ 80 . Sowohl beim Somnambulismus als auch bei Craigs Regievorstellungen und nicht zuletzt bei Kleists 167 Die Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand Gliedermann ist folglich von einer identitären Vermischung auszugehen, wie sie traditionellerweise auch für das Verhältnis von Schauspieler*in und Rolle postuliert wurde und häufig immer noch wird. Bei Kleist ist jedoch ein weiterer Lektürevorgang relevant, nämlich jener des fechtenden Bären, über den Paul de Man sagt: „ Was auch immer die bizarre Figur des Bären repräsentieren oder symbolisieren mag, seine Beziehung zu C ist durch seine offenkundige Fähigkeit, ihn zu lesen, ausgezeichnet. “ 81 Dieser wundersame Bär ist als Fechter nicht zu schlagen, weil er auf sein Gegenüber in sympathetischer Perfektion zu reagieren vermag. So erinnert sich Herr C.: Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Aug, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht. 82 Wie auch die somnambule Nachtwandler*in, verfügt Kleists Bär über eine unbewusste Orientierungssicherheit, die Ulrich Johannes Beil gar als „ traumwandlerische Genialität “ 83 bezeichnet. Die Formulierung, „ als ob er meine Seele darin lesen könnte “ , findet sich wortgleich im Brockhaus Conversations-Lexikon von 1815, wo unter dem Eintrag ‚ Magnetismus ‘ beschrieben wird, dass der Somnambule mit dem Magnetiseur in einer Weise verbunden sei, dass er „ in dessen Seele zu lesen “ 84 vermag. Verantwortlich dafü sei der „ Instinct “ , der seinen Sitz in der Herzgrube habe und im Somnambulismus „ in grosser Thätigkeit sey “ 85 . Der Instinkt, auch ‚ innerer Sinn ‘ genannt, war bereits nach Mesmer als „ Medium leiblich-direkter Allverbundenheit, als ein von der Vernunft geschiedenes und von dieser zumeist überlagertes Empfindungsvermögen “ 86 zu verstehen. Der Instinkt ist es auch, wenngleich nicht explizit benannt, der die Superiorität des Bären ausmacht. Er erlaubt es ihm, „ im Jenseits der Zeichen zu lesen und sich, die Arbeit der Hermeneutik überspringend, die Bedeutung ganz unmittelbar zu erschließen. “ 87 Zugleich ist der fechtende Bär wie die (Über-)Marionette durch Gehorsam gekennzeichnet, so liegt er nicht nur explizit in Ketten, sondern ist auch gänzlich passiv - er pariert Schläge bloß, teilt aber selbst keine aus. Schließlich kann auch der Bär, wie die Somnambul*in als Zwischenstufe zwischen Nicht-Bewusstsein und göttlichem Bewusstsein verstanden werden; eine Zwischenstufe, die sich aber erst, so galt es aufzuzeigen, in dem tatsächlichen Halbbewusstsein der Somnambul*innen einzulösen verspricht. Die vergleichende Analyse von Kleist und Craig hat gezeigt, dass sowohl Kleists als auch Craigs Marionettentext als Plädoyer für veränderte Bewusstseinszustände und damit für die Erforschung des Unbewussten gelesen werden können. Denn während weder die Marionette als lebloser Gegenstand noch der naive Jüngling noch das Tier als Entsprechung dessen, was in den beiden Texten als künstlerisches Ideal imaginiert wird, überzeugen - was nicht zuletzt dazu beigetragen hat, dass Kleists utopischer Schluss vielfach als Ironie gelesen wurde 88 - , war die Somnambul*in, trotz der ambivalenten Haltung beider Autoren zum Somnambulismus, zur Entstehungszeit von Kleists Text wie auch um 1900 weitgehend positiv besetzt. Zudem erweist sich der Vorzug der Exploration halbbewusster Zustände für beide Autoren zuvorderst im Feld des Ästhetischen. Die Kunst wird dabei als jener Wirkungsbereich imaginiert, in dem dissoziative Prozesse ihren pathologischen Anteil überwinden und sich stattdessen in den Dienst des Schönen, der Grazie und der Anmut stellen sollen. Mit Craig schließt sich demnach eine zweifache Klammer zu Kleist. Zum einen versucht er Kleists Gedanken 168 Rosemarie Brucher aufzugreifen und konkret künstlerisch in Form der Über-Marionette umzusetzen. Wenn Franz-Josef Deiters folglich feststellt, dass „ C.s Ausrufung des Marionettentheaters zum Paradigma der Theaterkunst [ … ] die Verabschiedung des Mediums Mensch von der Bühne zur Folge “ 89 habe, dann fordert Craig diese Verabschiedung nicht nur dezidiert ein, sondern stellt mit seinem Entwurf der Über-Marionette zugleich bereits eine Alternative zur Schauspieler*in zur Diskussion. Zum anderen verbindet die beiden Texte, dass sie jeweils zu einem zentralen Zeitpunkt der Somnambulismus-Forschung entstanden sind, die nach ihrem Höhepunkt um 1900 zugleich auch ihren vorläufigen Abschluss findet. Vor dem Hintergrund der Renaissance dissoziativer Störungsbilder seit den 1970er Jahren, zu denen auch somnambule Bewusstseinsveränderungen zählen, gälte es weiterführend zu untersuchen, ob damit auch ein stärkerer Einbezug von Modellen der (Bewusstseins) Spaltung in Schauspiel und Schauspieltheorien einherging. Zudem werfen postdramatische Theatertexte, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen und sich durch eine polyphone, defigurative und postidentitäre Rede auszeichnen, die Frage nach geeigneten Sprech- und Schauspieltechniken auf. Auch wenn nicht-bewusste Identitäten, wie sie Kleist und Craig beschrieben haben, nicht mit polyphonen Textflächen einer Autorin wie Elfriede Jelinek gleichzusetzen sind, da postdramatische Texte häufig gar keinen Rückschluss mehr auf ein sprechendes Subjekt erlauben, so können Konzepte der Dissoziation, der Depersonalisation oder der Entpersönlichung möglicherweise dennoch für Spielweisen des Postdramatischen produktiv gemacht werden. Anmerkungen 1 Vgl. Henri Ellenberger, The Discovery of the Unconscious. The History of Evolution of Dynamic Psychiatry, New York 1970. 2 Der 1734 geborene Arzt Franz Anton Mesmer vertrat die Lehre, dass alle organischen Körper mittels eines unsichtbaren magnetischen Fluidums - Allflut, Lebensfeuer oder ‚ gravitas animalis ‘ genannt - mit anderen Körpern auf der Erde, Himmelskörpern und dem gesamten Universum verbunden seien, und nannte dieses Phänomen ‚ thierischen Magnetismus ‘ . Wenn dieses Fluidum, das auch den menschlichen Körper durchdringe, blockiert bzw. ungleich verteilt sei, komme es zur Entwicklung von Krankheiten. Dem Magnetiseur falle es zu, dieses blockierte Fluidum in Form von ‚ heilsamen Krisen ‘ zu konzentrieren und schließlich wieder in gleichmäßigen Fluss zu versetzen. Hierfür setzte Mesmer zunächst Magneten ein, kam aber um 1776 zu dem Schluss, dass die heilende Wirkung nicht den Magneten, sondern dem physischen Einfluss des behandelnden Magnetiseurs zuzuschreiben sei, der hinsichtlich des vermuteten feinen Fluidums über besondere Kräfte verfüge. 3 Pierre Janet, The Mental State of Hystericals. A Study of Mental Stigmata and Mental Accidents, London, New York 1901, S. 427. 4 László F. Földényi, „ Der Tod und die Über- Marionette “ , in: Heinrich von Kleist, Edward Gordon Craig, F. László Földényi, Marionetten und Übermarionetten, Berlin 2012, S. 89 - 110, hier S. 91. 5 Katharina Wild, Schönheit. Die Schauspieltheorie Edward Gordon Craigs, Berlin 2011, S. 21. 6 Edward Gordon Craig, „ The Actor and the Über-Marionette “ , in: Ders., On the Art of the Theatre, London 1968, S. 54 - 94, hier S. 55. 7 Ebd., S. 55. 8 Ebd., S. 56. 9 Edward Gordon Craig, Über die Kunst des Theaters, Berlin 1969, S. 47. 10 Handschriftlicher Brief Edward Gordon Craigs an Edward Hutton, o. O., o. J. (März 169 Die Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand oder April 1908), Dorothy Nevile Lees Collection, British Institute, Florenz, zit. nach: Thomas Spieckermann, The world lacks and needs a Belief. Untersuchungen zur metaphysischen Ästhetik der Theaterprojekte Edward Gordon Craigs von 1905 bis 1918, Trier 1998, S. 55. 11 Craig, „ The Actor and the Über-Marionette “ , S. 81. 12 Ebd., S. 84. 13 Irène Eynat, „ Gordon Craig, the Über-marionette, and the Dresden Theatre “ , in: Theatre Research International 5/ 3 (1980), S. 171 - 193, hier S. 179. 14 Edward Anthony Craig, Gordon Craig. The Story of his Life, New York 1968, S. 198, zit. nach: Christopher Innes, Edward Gordon Craig. A Vision of Theatre, Amsterdam 1998, S. 111. 15 Edward Gordon Craig, Über-Marions A+B, Berlin 1905, 1906, unveröffentlichtes Dokument, Collection Gordon Craig, Bibliothèque de L ’ Arsenal, Paris, zit. nach: Spieckermann, The world lacks and needs a Belief, S. 55. 16 Denis Bablet, Edward Gordon Craig, London 1966, S. 134. 17 Siehe hierzu u. a.: Spieckermann, The world lacks and needs a Belief; Irène Eynat-Confino, Beyond the Mask. Gordon Craig, movement and the actor, Carbondale 1987; Olaf Laksberg, Marionette, che passione! Die Puppe im Werk von Gordon Craig. Beiträge zur Geschichte des Figurentheaters, München 1993; Patrick Le B œ uf, „ On the Nature of Edward Gordon Craig ’ s Über-Marionette “ , in: New Theatre Quarterly 26/ 2 (2010), S. 102 - 114. 18 Verwiesen sei hier auf die von der Verfasserin 2022 eingereichte Habilitationsschrift Theater & doppeltes Bewusstsein: Zur Verhandlung dissoziativer Phänomene in Schauspieltheorien um 1900, die sich aus historischer Perspektive für die Zusammenhänge von Schauspieltheorie und Psychowissenschaften interessiert und dabei in erster Linie Theoretiker fokussiert, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dissoziativen Bewusstseinszuständen befasst haben. Die Publikation ist in Arbeit. 19 Hermann Bahr, „ Zur Entwicklung der modernen Schauspielkunst “ , in: Claus Pias (Hg.), Hermann Bahr. Kritische Schriften II: Die Überwindung des Naturalismus, Weimar 2013, S. 179 - 184, hier S. 183. 20 Craig, „ The Actor and the Über-Marionette “ , S. 84 f. 21 Vgl. Eugène Azam, Hypnotisme, double conscience et altération de la personnalité. Préface par le professeur J.-M. Charcot, Paris 1887; Alfred Binet, On Double Consciousness. Experimental Psychological Studies, Chicago 1905; Max Dessoir, Das Doppel- Ich, Leipzig 1896; Henri Ellenberger, The Discovery of the Unconscious. The History of Evolution of Dynamic Psychiatry; Pierre Janet, L ’ Automatisme Psychologique, Paris 1889. 22 Edward Gordon Craig alias Adolf Furst, „ A Note on Marionettes “ , in: Arnold Rood (Hg.), Gordon Craig on Movement and Dance, New York 1977, S. 60 - 67, hier S. 60. 23 Craig alias Furst, „ A Note on Marionettes “ , S. 60. 24 Edward Gordon Craig, „ The Ghosts in the Tragedies of Shakespeare “ , in: Ders., On the Art of the Theatre, S. 264 - 280, hier S. 274. 25 Craig, „ The Ghosts in the Tragedies of Shakespeare “ , S. 264. 26 Ebd., S. 274. 27 Ebd., S. 269. 28 Craig, „ The Actor and the Über-Marionette “ , S. 82. 29 Edward Gordon Craig zit. nach: Innes, Edward Gordon Craig, S. 125. Innes zitiert Craig an dieser Stelle ohne Quellenangabe. 30 Otto Julius Bierbaum, „ Magdeleine G. “ , in: Münchner Neuesten Nachrichten (19.02. 1904), S. 1 f., zit. nach: Albert von Schrenck-Notzing, Die Traumtänzerin Magdeleine G. Eine psychologische Studie über Hypnose und dramatische Kunst, Stuttgart 1904, S. 84 f. 31 Vgl. Nico Kirchberger, Schau(spiel) des Okkulten. Die Bedeutung von Mesmerismus und Hypnotismus für die bildende Kunst im 19. Jahrhundert, Berlin 2016. 32 Craig, „ The Actor and the Über-Marionette “ , S. 74. 33 Ebd., S. 84 f. 170 Rosemarie Brucher 34 Ebd., S. 81. 35 Ebd., S. 84. 36 Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808, S. 357. 37 Brucke Martin, Magnetiseure. Die windige Karriere einer literarischen Figur, Freiburg i. Breisgau 2002, S. 32. 38 Philipp Osten, „ Über Wachen und Schlafen. Medizinische Schlafdiskurse im 19. Jahrhundert “ , in: Anna Ahlheim (Hg.), Kontrollgewinn - Kontrollverlust. Die Geschichte des Schlafs in der Moderne, Frankfurt a. M. 2014, S. 73 - 98, hier S. 76. 39 Edward Gordon Craig, „ Gentlemen, The Marionette! “ , in: Ders., The Theatre Advancing, London 1921, S. 107 - 112, hier S. 109. 40 Edward Gordon Craig, „ The Artists of the Theatre of the Future “ , in: Ders., On the Art of the Theatre, S. 1 - 53, hier S. 18. 41 Craig, „ Gentlemen, The Marionette! “ , S. 109. 42 Craig alias Furst, „ A Note on Marionettes “ , S. 64. 43 Da es sich hierbei ausschließlich um Männer gehandelt hat, verzichte ich hier auf eine gegenderte Schreibweise. 44 Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Leipzig/ Wien 1897, S. 744. 45 Craig, „ The Actor and the Über-Marionette “ , S. 84 f. 46 Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, Stuttgart 1995, S. 246. 47 Vgl. Ursula Thomas, „ Heinrich von Kleist and Gotthilf Heinrich Schubert “ , in: Monatshefte 51 (1959), S. 349 - 261; Katharine Weder, Kleists magnetische Poesie: Experimente des Mesmerismus, Göttingen 2008; Barkhoff, Magnetische Fiktionen; Ingrid Kollak, Literatur und Hypnose: der Mesmerismus und sein Einfluß auf die Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1997; Maria Tatar, Spellbound: Studies on Mesmerism and Literature, Princeton 1978; Uffe Hansen, „ Prinz Friedrich von Homburg und die Anthropologie des animalischen Magnetismus “ , in: Deutsche Schillergesellschaft. Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 47 - 79; Cornelia Zumbusch, „ Hypnotisiert: Pathologien der Beobachtung in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Kleist, Schnitzler, Fontane) “ , in: Helmuth Lethen et al. (Hg), Beobachtung aufzeichnen, Göttingen 2016, S. 77 - 191; Heinz Schott, „ Erotik und Sexualität im Mesmerismus: Anmerkungen zum ‚ Käthchen von Heilbronn ‘“ , in: Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists, Heilbronn 2000, S. 152 - 174. 48 Gotthilf Heinrich Schubert, Der Erwerb aus einem vergangenen und die Erwartungen von einem zukünftigen Leben. Eine Selbstbiographie, zweiter Band, erste Abtheilung, Erlangen 1855, S. 228. 49 Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 99. 50 Ebd., S. 101. 51 Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, S. 3. 52 Ebd., S. 360. 53 Fabian Stoermer, „ Laut und Sinn in der Poetik Heinrich von Kleists “ , in: Beiträge zur Kleistforschung (2002), S. 117 - 138, hier S. 128. 54 Ingeborg Scholz (Hg.), Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. Analysen und Reflexionen, Hollfeld 2003, S. 9. 55 Heinrich von Kleist, „ Über das Marionettentheater “ , in: Ders., Erzählungen und Anekdoten, kleine Schriften, Band 3 der Werke und Briefe in vier Bänden, hg. Siegfried Streller, Berlin/ Weimar 1978, S. 473 - 481, hier S. 476. 56 Ebd., S. 479. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 473. 59 Ebd., S. 474. 60 Ebd., S. 475. 61 Eintrag „ puppet, n. “ in: Oxford English Dictionary Online, o. J., letzte veränderte Version Dezember 2021. https: / / www-oed-com [Zugriff am 22.06.2022]. 62 Chiara Cappelletto, „ The puppet ’ s paradox “ , in: Anthropology and Aesthetics 59/ 60 (2011), S. 325 - 336, hier S. 334. 63 Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, S. 322. 64 Paul de Man, „ Ästhetische Formalisierung: Kleists ‚ Über das Marionettentheater ‘“ , in: Ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt/ Main 1988, S. 205 - 233, hier S. 229. 171 Die Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand 65 Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 247. 66 Kleist, „ Über das Marionettentheater “ , S. 475. 67 Edward Gordon Craig, „ Le Théâtre de Marionnettes “ , in: Arts, beaux-arts, littérature, spectacle 67 (10.05.1946), deutsche Übersetzung abgedruckt in Laksberg, Marionette, che passione! , S. 438. 68 Kleist, „ Über das Marionettentheater “ , S. 477. 69 Walter Müller-Seidel, Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln/ Graz 1961, S. 136. 70 Vgl. u. a. Li Jinghao, „ Die Grazie des unendlichen Bewusstseins. Präreflexive Zustände bei Kleist “ , in: Literaturstraße. Chinesischdeutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 20/ 2 (2019), S. 161 - 177; Walter Müller-Seidel, Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, Darmstadt 1972. 71 Jonathan W. Marshall zieht Parallelen zwischen Kleists Marionetten-Aufsatz und der in Bezug auf Craig erwähnten Trancetänzerin Guipet. Dabei zeigt er auf, „ how Kleist ’ s fraught vision of a mechanical, puppet-like form of performance that approached the aesthetic perfection of man before the Fall would come to be rendered in a particularly nervous, fleshy form within late nineteenth and early twentieth century visions of subconscious performance. “ Jonathan W. Marshall, „ Kleist ’ s ‚ Übermarionette ‘ and Schrenck-Notzing ’ s ‚ Traumtänzerin ‘ : Nervous Mechanics and Hypnotic Performance under Modernism “ , in: Bernd Fischer/ Tim Mehigan (Hg.), Heinrich von Kleist and Modernity, Rochester 2011, S. 257 - 277, hier S. 257. Verfolgt Marshall damit auch einen ähnlichen Ansatz wie mein vorliegender Artikel, so stehen bei ihm mögliche (somnambule) Entsprechungen zu Kleists Idee des Gliedermanns um 1900 im Fokus, wie etwa Charcots Hysterikerinnen, Dada-Performances oder die Ästhetisierung von Objekten im Bauhaus, ohne aber deren potenzielle Analogien im Detail darzulegen. Auch Craigs Über-Marionette findet Erwähnung. Die Konsequenz, auch Kleists Gliedermann als somnambulen Bewusstseinszustand zu lesen, wird jedoch von Marshall nicht gezogen. 72 Edward Gordon Craig, Über die Kunst des Theaters, Berlin 1969, S. 47. 73 Ebd., S. 475. 74 Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 248. 75 de Man, „ Ästhetische Formalisierung “ , S. 228. 76 Kleist, „ Über das Marionettentheater “ , S. 473. 77 Ebd., S. 473. 78 Carl Gustav Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, Pforzheim 1846, S. 221 f. 79 Jan Bussell, „ The Art of the Puppet Theatre with Special Reference to Its Position in England “ , in: Margareta Niculescu et al. (Hg.), The Puppet Theatre of the Modern World. An International Presentation in Word and Picture, Boston 1967, S. 38 - 40, hier S. 38 f. 80 Richard Block, „ Strings Attached: Interpretive Ruse in Kleist ’ s ‚ Über das Marionettentheater ‘“ , in: New German Review 3 (1995), S. 42 - 60, hier S. 53. 81 de Man, „ Ästhetische Formalisierung “ , S. 212. 82 Kleist, „ Über das Marionettentheater “ , S. 479. Marshall vergleicht den Blickkontakt des Bären mit der Technik der Blickfixierung durch den Hypnotiseur. Vgl. Marshall, „ Kleist ’ s ‚ Übermarionette ‘ and Schrenck- Notzing ’ s ‚ Traumtänzerin ‘“ , S. 262. 83 Ulrich Johannes Beil, „‚ Kenosis ‘ der idealistischen Ästhetik. Kleists ‚ Über das Marionettentheater ‘ als Schiller-réécriture “ , in: Kleist-Jahrbuch (2006), S. 75 - 99, hier S. 81. 84 Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, sechster Bd., Stuttgart 1817, S. 45. https: / / books. google.at/ books? id=me80AAAAMAAJ&pri ntsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_su mmary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false [Zugriff am 22.06.2022]. 85 Eberhard Gmelin, Neue Untersuchungen über den Thierischen Magnetismus, Tübingen 1789, S. 473. 86 Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 30. 87 Beil, „‚ Kenosis ‘ der idealistischen Ästhetik “ , S. 88. 88 Vgl. u. a. James A. Rushing, „ The limitations of the fencing bear: Kleists ‚ Über das Marionettentheater ‘ as ironic fiction “ , in: The 172 Rosemarie Brucher German quarterly 525/ 39 (1988), S. 528 - 539; Helmut J. Schneider, „ Dekonstruktion des Hermeneutischen Körpers. Kleists Aufsatz ‚ Über das Marionettentheater ‘ und der Diskurs der klassischen Ästhetik “ , in: Kleist- Jahrbuch (1998), S. 153 - 175. 89 Franz-Josef Deiters, „‚ umsonst! er war außer Stand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen ‘ . Die Suspendierung des Menschen von der Bühne in ‚ Über das Marionettentheater ‘“ , in: Ders., Die Entweltlichung der Bühne: Zur Mediologie des Theaters der klassischen Episteme, Berlin 2015, S. 189 - 198, hier S. 193 f. 173 Die Marionette als somnambuler Bewusstseinszustand
