Forum Modernes Theater
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0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0018
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2023
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BalmeWie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat. Eine Analyse am Beispiel des Staatstheaters Darmstadt, 1950-2018
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Karl-Heinz Reuband
Die frühesten Umfragen mit Fragen zum Theaterbesuch wurden in Deutschland 1950 in Darmstadt und vier Nachbargemeinden durchgeführt. Basis waren repräsentative Befragungen der Bevölkerung. Die Sekundäranalyse unter Rückgriff auf den Originaldatensatz zeigt, dass das Staatstheater Darmstadt in diesen Jahren überproportional von jüngeren Altersgruppen besucht wurde. Umfragen mehr als 50 Jahre später, in den Jahren 2006 bis 2018, zeigen demgegenüber, dass der Theaterbesuch in Darmstadt überproportional unter den Älteren verbreitet ist. Während 1950 die Verbreitung des Theaterbesuches mit steigendem Alter abnahm, verhält es sich heutzutage umgekehrt. Darmstadt stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Untersuchungen aus Köln weisen in die gleiche Richtung. Die Befunde aus den 1950er Jahren legen nahe, dass die Überrepräsentation Jüngerer im Theaterpublikum der 1960er und 1970er Jahre keine atypische Ausnahmesituation abbildet, sondern als Teil eines längerfristigen Trends zu begreifen ist, der eine Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation bewirkte.
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Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat. Eine Analyse am Beispiel des Staatstheaters Darmstadt, 1950 - 2018 Karl-Heinz Reuband (Düsseldorf) Die frühesten Umfragen mit Fragen zum Theaterbesuch wurden in Deutschland 1950 in Darmstadt und vier Nachbargemeinden durchgeführt. Basis waren repräsentative Befragungen der Bevölkerung. Die Sekundäranalyse unter Rückgriff auf den Originaldatensatz zeigt, dass das Staatstheater Darmstadt in diesen Jahren überproportional von jüngeren Altersgruppen besucht wurde. Umfragen mehr als 50 Jahre später, in den Jahren 2006 bis 2018, zeigen demgegenüber, dass der Theaterbesuch in Darmstadt überproportional unter den Älteren verbreitet ist. Während 1950 die Verbreitung des Theaterbesuches mit steigendem Alter abnahm, verhält es sich heutzutage umgekehrt. Darmstadt stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Untersuchungen aus Köln weisen in die gleiche Richtung. Die Befunde aus den 1950er Jahren legen nahe, dass die Überrepräsentation Jüngerer im Theaterpublikum der 1960er und 1970er Jahre keine atypische Ausnahmesituation abbildet, sondern als Teil eines längerfristigen Trends zu begreifen ist, der eine Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation bewirkte. 1. Paradoxien der Altersbeziehung Das Sozialprofil des Theaterpublikums hat sich längerfristig verändert. Davon besonders betroffen ist die Altersstruktur. Untersuchungen auf der Grundlage von Bevölkerungs- und Besucherumfragen im Musik- und Sprechtheater haben gezeigt, dass in den 1960er und 1970er Jahren die Jüngeren im Publikum überrepräsentiert waren, während es heutzutage die Älteren sind. Die Altersbeziehung hat sich damit in ihr Gegenteil gekehrt, der Effekt des Alters ist ein anderer geworden. Demgegenüber blieb der Einfluss von Geschlecht und Bildung im Wesentlichen gleich: Frauen zählen etwas häufiger zu den Besuchern 1 als Männer und höher Gebildete häufiger als Personen mit niedrigem oder mittlerem Bildungsgrad. Zwar ist der Anteil höher Gebildeter heutzutage größer als früher, aber gestiegen ist ebenso das Bildungsniveau der Bevölkerung. Der Bildungseffekt als solcher ist insofern der Gleiche geblieben. 2 Ungeklärt ist, ob die Überrepräsentation der Jüngeren im Publikum der 1960er und 1970er Jahre eine zeitspezifische Besonderheit darstellt oder sich darin ein Muster widerspiegelt, das es schon früher gab. Für die Annahme zeitspezifischer Besonderheiten gibt es durchaus Indizien - sowohl auf der Ebene kultureller Angebote als auch kultureller Nachfrage. Ob sich diese Einflussfaktoren aber auf die Publikumsstrukturen nachhaltig auswirkten oder andere bedeutsamer waren, ist eine andere Frage, die sich nur im Rahmen eines Langzeitvergleichs, der die Zeit der 1950er Jahre mit in den Fokus der Betrachtung rückt, klären lässt. Dass die 1960er und 1970er Jahre im Kulturbereich eine Umbruchphase darstellen, steht außer Zweifel. Im Theaterbetrieb vollzog sich ein Wandel, der neue Formen Forum Modernes Theater, 34/ 2, 174 - 194. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0018 der Darstellung und des experimentellen Theaters mit sich brachte. Auch die Besuchszahlen änderten sich: Nachdem die Zahl der Theaterbesuche einen Aufwärtstrend genommen hatte, stagnierte sie in den 1960er Jahren zunächst und ging dann, weniger im Bereich des Musiktheaters als im Bereich des Schauspiels, zurück. 3 Manche Autoren sahen den Rückgang in den Besuchszahlen primär als Folge einer veränderten Inszenierungspraxis, verbunden mit dem Aufkommen des Regietheaters. 4 Und sie vermuteten, dass dies mit einem Wandel in der Zusammensetzung des Publikums einhergegangen wäre: Das konservative Publikum hätte sich vermehrt von den Bühnen abgewandt. 5 Wenn man das konservative Publikum vor allem mit den Älteren gleichsetzt - wofür einige Indizien aus dieser Zeit sprechen 6 - , hieße dies, dass sich die Älteren verstärkt dem Theatergeschehen entzogen hätten. Damit müsste das Publikum im Durchschnitt jünger geworden sein. Eine Verjüngung des Publikums ist jedoch ebenfalls denkbar, wenn die kulturelle Nachfrage aufgrund von Änderungen in der Sozialstruktur und/ oder in den Werteorientierungen überproportional unter den Jüngeren steigt. In der Tat vollzog sich Mitte der 1960er Jahre in Deutschland, wie in den meisten westlichen Industriegesellschaften, ein Wertewandel, der postmaterialistischen Werteorientierungen in der jüngeren Generation erheblichen Auftrieb gab. Zu diesen postmaterialistischen Werteorientierungen zählen - in der von Ronald Inglehart entwickelten, aber in Bezug auf Kultur nicht weiter verfolgten Konzeption - an oberster Stelle die Wertehierarchie ästhetischer Bedürfnisse und Orientierungen. 7 Für Inglehart hat der wachsende materielle Wohlstand, der in Deutschland Mitte der 1950er Jahre begann und sich in der ‚ Wirtschaftswunder ‘ -Zeit der 1960er Jahre fortsetzte, 8 die wesentliche Grundlage für die Herausbildung der postmaterialistischen Orientierungen gelegt. Sobald materielle Grundbedürfnisse befriedigt sind und sich ein Gefühl von Sicherheit eingestellt hat, gewinnen nach Inglehart nicht-materielle Bedürfnisse an Bedeutung. Doch nicht nur der Wertewandel kommt als ein möglicher Einflussfaktor für die Alterszusammensetzung in Betracht. In den 1960er Jahren setzte in der deutschen Gesellschaft - vorangetrieben durch staatliche Maßnahmen - eine Bildungsexpansion ein, welche die Zahl der höher Gebildeten in der jüngeren Generation in kurzer Zeit stark ansteigen ließ 9 und so zugleich das Potential für kulturelle Interessen verbreiterte. Denn höhere Bildung geht im Allgemeinen mit überproportional hohem kulturellen Interesse und überproportional häufigem Besuch von Theatern und anderen kulturellen Einrichtungen einher. 10 Bislang war es unmöglich, der Frage zeitspezifischer Besonderheiten und längerfristiger Entwicklungen nachzugehen. Besucherumfragen in Theatern aus den 1950er Jahren gibt es nicht. Ebenso wenig liegen aus dieser Zeit publizierte Befunde aus Bevölkerungsumfragen zum Theaterbesuch vor. Was es allerdings gibt, sind zwei repräsentativ angelegte lokale Bevölkerungsumfragen aus den 1950er Jahren, die im GESIS- Datenarchiv (Köln) als Datensatz verfügbar sind, einige wenige Fragen zum Theaterbesuch enthalten und - nach einer etwas aufwändigen Aufbereitung des Originaldatensatzes - einer empirischen Sekundäranalyse zugänglich sind. Die eine bezieht sich auf Darmstadt und Umgebung, die andere auf Köln. 11 Mit Hilfe dieser beiden Erhebungen kann das Sozialprofil der Theaterbesucher der frühen 1950er Jahren erstmals näher bestimmt und im Kontext längerfristigen Wandels eingeordnet werden. Unter den genannten beiden Erhebungen ist die Umfrage aus Darmstadt besonders relevant: Sie stellt die älteste repräsentativ angelegte Umfrage in Deutschland mit 175 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat Fragen zum Theaterbesuch dar und umfasst über die Frage zur Besuchshäufigkeit hinaus Fragen zur Bewertung des Theaterbesuchs. 12 Des Weiteren bietet sie in Kombination mit Umfragen aus jüngeren Jahren die Möglichkeit, der sozialen Zusammensetzung des Publikums in Darmstadt im Langzeitverlauf nachzugehen. Die Erhebung war Bestandteil eines Projekts, das als ‚ Darmstadt-Studie ‘ in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit Bekanntheit erlangte und als Pionierstudie der deutschen Gemeindesoziologie gilt. Sie wurde in den Jahren 1948 bis 1950 in Darmstadt und in vier Nachbargemeinden durchgeführt. Neun Monographien erschienen zu dem Projekt in den Jahren 1952 bis 1954. Die Monographie zum Freizeitverhalten, in die vermutlich auch Fragen zum Theaterbesuch einbezogen worden wären, blieb unvollendet. 13 2. Das Staatstheater Darmstadt Das Staatstheater Darmstadt kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Ein erstes kleineres Theatergebäude entstand 1711 als Hoftheater, in dem gelegentlich auch Opern zur Aufführung kamen. Ein größeres Gebäude wurde rund 100 Jahre später im Jahr 1819 eröffnet - weiterhin als Hoftheater, aber nunmehr zugänglich für ein breiteres Publikum und mit einer Kapazität von 1.800 Plätzen. 14 1871 brannte das Theater vollständig aus und wurde 1879 mit rund 1.200 Sitzplätzen neu eröffnet. Mit Beginn der Weimarer Republik wurde das Hoftheater zu einem Landestheater. Im September 1944 wurde es im Bombenkrieg zerstört, die Innenstadt von Darmstadt fiel zu nahezu 80 % der Zerstörung anheim. Nach dem Krieg blieb als einzige mögliche Spielstätte die Orangerie erhalten, ein Barockgebäude aus dem 18. Jahrhundert, das daraufhin für den Theaterbetrieb hergerichtet wurde. Dort fand bis in die frühen 1970er Jahre die Mehrheit der Aufführungen statt. Die Bestuhlung reichte für 530 bis knapp 600 Zuschauer. Seit Mitte der 1960er Jahre stand für bestimmte Aufführungen, wie etwa experimentelles Theater, überdies ein Saal im wiederaufgebauten Schloss mit 199 Plätzen zur Verfügung. 15 Des Weiteren fanden gelegentlich Veranstaltungen in der Stadthalle und in den Räumlichkeiten der Christlichen Landesbühnen Mittelrhein statt. Der Hauptteil jedoch entfiel auf die Orangerie. Erst mit dem 1972 eingeweihten Neubau des Theaters hatte das Landestheater (nunmehr in ‚ Staatstheater ‘ umbenannt) wieder eine eigenständige, speziell für sie geschaffene Spielstätte. Das ‚ Große Haus ‘ , das vor allem für Opernaufführungen genutzt wird, bietet heute über 950 Sitzplätze, das ‚ Kleine Haus ‘ etwas mehr als 480 Sitzplätze und die (mit der Sanierung 2002 - 2006 entstandenen) ‚ Kammerspiele ‘ rund 100 Sitzplätze. Das Staatsbzw. Landestheater Darmstadt ist ein Mehrspartenhaus, in dem Opern, Operetten, Musicals, Tanz, Konzerte und Schauspiel zur Aufführung gelangen. 16 Der Mehrspartencharakter spiegelt sich im Spielplan seit jeher deutlich wieder. So entfielen 1949 59 % der Aufführungen auf das Musiktheater (Oper, Operette, Tanz), 7 % auf Konzerte und 33 % auf das Schauspiel. Ein Jahr später entfielen 55 % auf das Musiktheater, 7 % auf Konzerte und 38 % auf das Schauspiel. Wie viele Besucher sich den jeweiligen Sparten zuwandten, ist unbekannt. Bekannt ist allenfalls, dass im Jahr 1949 rund 127.000 Karten und im Jahr 1950 140.000 Karten verkauft wurden (1948 waren es noch 175.000) und dass die Auslastung - gemessen an der Zahl der Plätze - 1949 60,2 % und 1950 74,5 % betrug. 17 Das Staatstheater bestimmt heutzutage nach wie vor die Theaterlandschaft in Darmstadt. Zwar ist die Zahl der privaten und z. T. auch öffentlich geförderten Theater gestiegen, 18 aber die größte Zahl der Theaterbesucher entfällt auf das Staatstheater. Die- 176 Karl-Heinz Reuband ses ist nach wie vor geprägt durch seinen Mehrspartencharakter. Im Vergleich zu 1948 - 50 hat das Musiktheater im Spielplan zwar an Stellenwert verloren: 57 % der Aufführungen in der Spielzeit 2017/ 18 entfielen auf das Schauspiel, 23 % auf Oper und Musical (Operetten wurden nicht angeboten), 5 % entfielen auf Tanz sowie 15 % auf Konzerte. Gemessen an der Zahl der Besuche jedoch ist der Wandel weniger spektakulär: auf Oper und Musical entfällt ein Anteil von 43 %, auf Tanz 8 %, auf Konzerte 18 % und auf das Schauspiel 31 %. 19 Der hohe Stellenwert des musikalischen Programms auf der Ebene der Rezeption bleibt also weiterhin bestehen. Dass das große Schauspiel-Angebot sich nicht in einem analogen Anteil der Besuche niederschlägt, ist dabei nicht als Ausdruck für ein Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage anzusehen, sondern erklärt sich aus der Vielzahl kleinerer Aufführungsformate mit einer geringeren Platzzahl als im Bereich der Oper. In der Spielzeit 2017/ 18 z. B. fand keine einzige Veranstaltung im Großen Haus statt, vielmehr fanden diese im Kleinen Haus, in den Kammerspielen, der Bar der Kammerspiele oder im Foyer des Großen Hauses statt. 20 In der Spielzeit 2017/ 2018 bezifferte sich die Zahl der Besuche im Staatstheater Darmstadt auf 209.843. 21 Würde man die Karten für das Kinder- und Schülertheater bzw. die Schüler-, und Studierendenkarten davon abziehen, käme man auf 180.565 bzw. 164.325. 22 Der Abzug macht für diese Kalkulation insofern Sinn, als dass diese Karten einen durchaus nennenswerten Anteil am heutigen Theatergeschehen repräsentieren, nicht so aber in den 1950er Jahren. 23 Die Zahlen, die sich dadurch ergeben, entsprechen nahezu den Kartenverkäufen von 1948. Gegenüber den Kartenverkäufen der Jahre 1949 und 1950 sind es zwar deutlich mehr, allerdings ist die Einwohnerzahl in der Zwischenzeit auch gestiegen: 1950 lebten in Darmstadt 95.000 Einwohner, heute sind es (durch Eingemeindungen mitbedingt) rund 162.000. Würde man die Kartenzahlen auf die Bevölkerungszahl umrechnen, käme man für 2017/ 18 auf einen Wert, der niedriger läge als 1950. 24 Unklar muss allerdings bleiben, inwiefern Veränderungen in der regionalen Herkunft des Publikums mit zu diesen Ergebnissen beigetragen haben. Schließlich setzt sich das Publikum aus lokal ansässigen und auswärtigen Besuchern zusammen, der Nenner der Berechnung jedoch stützt sich allein auf die Einwohnerzahl von Darmstadt. Dass zu anderen Zeiten höhere Besuchszahlen erreicht wurden als 2017/ 18 - insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren - , macht überdies deutlich, dass man im Fall von Darmstadt von keinem linearen Abwärtstrend seit den 1950er Jahren sprechen kann. 25 Während sich in der Auslastung gegenüber den frühen 1950er Jahren kein grundlegender Unterschied abzeichnet, 26 haben sich in der Art des Kartenerwerbs einschneidende Veränderungen ereignet. Zwar kann man nichts über die Verhältnisse um das Jahr 1950 sagen, 27 aber dass seit Ende der 1950er Jahre massive Verschiebungen stattgefunden haben, ist unverkennbar. So stellten 1959 die Tageskarten (Vollpreiskarten) unter den verkauften Karten lediglich einen Anteil von 20 %. Die Mehrheit entfiel zu 43 % auf Abonnements ( „ Platzkarten “ ) und zu 37 % auf Karten für Besucherorganisationen. 1978/ 79 war der Anteil der Tages-/ Vollpreiskarten auf 30 % gestiegen, 1988/ 89 auf 33 %, 2011/ 12 auf 50 % und 2017/ 18 auf 63 %. Abonnements stellten nun nur noch einen Anteil von 31 % der verkauften Karten und Besucherorganisationen 6 %. Die Mehrheitsverhältnisse von freiem und vertraglich gebundenem Kartenerwerb haben sich also komplett umgedreht. 28 Inwiefern die Veränderungen Auswirkungen auf die Struktur der Befragten hatten und dies Eingang in 177 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat den Strukturwandel gefunden hat, der sich in den Jahren vollzogen hat, ist eine offene Frage. 29 3. Empirische Grundlagen und methodisches Vorgehen Die Darmstadt-Umfrage von 1950, welche die Ausgangsbasis des vorliegenden Vergleichs bildet, entstand als Teil eines groß angelegten, umfassenden sozialwissenschaftlichen Projekts, das unter dem Namen ‚ Darmstadt-Studie ‘ in die Literatur eingegangen ist. Mehrere Orte waren Bestandteil des Projekts: Neben Darmstadt gingen vier Nachbargemeinden (in der Publikation „ Hinterlandgemeinden “ genannt) in die Untersuchung ein. Deren Einbeziehung in die Untersuchung lag die Vorstellung zugrunde, dass sich die Grenzen zwischen Stadt und Land im Lauf der Zeit partiell aufgelöst hätten (nicht zuletzt durch die Kriegsfolgen) und sich die Stadt in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht immer mehr auf das sie umgebende Hinterland ausbreiten würde. Stadtnähe und -ferne seien dabei weniger durch tatsächliche Entfernung als durch gute oder schlechte Verkehrsanbindung zu erfassen. 30 Durch die Einbeziehung der Nachbargemeinden in die Untersuchung ist es möglich, den Besuch des Staatstheaters Darmstadt auch durch die auswärtigen Zuschauer zu erfassen und damit der Frage nachzugehen, wie sehr sich die einheimischen und auswärtigen Zuschauer in ihrem Sozialprofil unterscheiden. Natürlich handelt es sich bei den auswärtigen Befragten nur um einen Ausschnitt des gesamten auswärtigen Besucherkreises, doch das Muster, das sich bei ihnen zeigt, dürfte typisch sein für die Mehrheit der Besucher von außerhalb. Die Grundlage der Erhebungen in Darmstadt und den Nachbargemeinden bildeten jeweils Zufallsstichproben aus amtlichen Registern der Stadt bzw. Gemeinde von Bürgern ab 21 Jahren. Die Interviews wurden mündlich face-to-face durchgeführt. Auf Darmstadt entfielen 381 Befragte, auf die anderen Gemeinden 423 Befragte. 31 In Darmstadt wurden nach dieser Studie mehrere Jahrzehnte lang keine repräsentativen Bevölkerungsumfragen mehr durchgeführt, die zugleich auch Fragen zur kulturellen Partizipation der Bürger beinhalteten. Erst 2006 wurde von Seiten des Statistischen Amtes der Stadt entschieden, ähnlich wie in anderen Städten Bevölkerungsumfragen als Instrument einer regelmäßigeren Sozialberichterstattung zu etablieren. Fragen zur kulturellen Partizipation gehörten als Bestandteil eines Fragemoduls zur Nutzung städtischer Einrichtungen dabei mit zum Frageprogramm. Fünf Erhebungen wurden bislang durchgeführt, die letzte stammt von 2018. Die Grundlage bilden jeweils Zufallsstichproben aus dem Einwohnermelderegister von Bürgern ab 18 Jahren; die Befragungen erfolgten schriftlich-postalisch. Die Zahl der Befragten lag in der Regel bei etwas mehr als 3.000 Personen. 32 Sowohl die Umfrage von 1950 als auch die späteren Umfragen stellen Mehrthemen- Erhebungen dar. Die Fragen zum Besuch des Theaters oder anderer kultureller Einrichtungen nehmen nur einen kleinen Platz im Fragebogen ein. Dies ist für unsere Analyse methodisch gesehen durchaus von Nutzen. Denn Ein-Themen-Bevölkerungsumfragen laufen stets Gefahr, dass sich die an dem Thema Interessierten überproportional an der Erhebung beteiligen. Bevölkerungsumfragen, die allein Fragen zu kultureller Partizipation und kulturellen Themen beinhalten, führen erfahrungsgemäß zwangsläufig zur Überrepräsentation von Kulturinteressierten. Die Häufigkeit des Theaterbesuchs wird in den hier herangezogenen Erhebungen erfasst über retrospektiv formulierte Fragen. 178 Karl-Heinz Reuband Während in der Studie von 1950 der Besuch innerhalb des letzten Jahres erfragt wurde, ist in den Bürgerumfragen der Stadt vom Besuch innerhalb der letzten zwei Jahre die Rede. 33 Eine direkte Umrechnung des Zweijahreszeitraums in einen Einjahreszeitraum - etwa durch Halbierung der Werte - ist aufgrund der zeitlichen Publikumsfluktuationen 34 kaum möglich. Aber für die Analyse der sozialstrukturellen Zusammenhänge dürfte dies ohnehin ohne größere Bedeutung sein. Schließlich geht es im Folgenden um die Art der Beziehung zu den sozialen Merkmalen der Besuche, weniger um die jeweiligen Prozentanteile. 4. Theaterbesuch in den 1950er Jahren Die Häufigkeit des Theaterbesuchs wurde in der Umfrage von 1950 relativ differenziert erfasst, indem nach der Zahl der Besuche im letzten Jahr gefragt wurde. An dieser Stelle genügt es, die numerischen Häufigkeitsangaben in „ mehrmals im Jahr “ , „ einmal im Jahr “ und „ seltener/ nie “ zusammenzufassen. Das Publikum, wie es in Besucherumfragen gewöhnlich ermittelt ist, ähnelt - so belegen es andere Untersuchungen - weitgehend denen, die in Bevölkerungsumfragen von sich sagen, sie würden „ mehrmals “ im Jahr ins Theater gehen. Diejenigen, die von sich sagen, sie würden dies „ einmal im Jahr “ tun, zählen dagegen eher zu den sporadischen Besuchern, die nicht notwendigerweise jedes Jahr ins Theater gehen. 35 Im erweiterten Sinne kann man sie dem Theaterpublikum dennoch zurechnen. Wie man der Umfrage von 1950 entnehmen kann, zählten in Darmstadt im Jahr 1950 rund 17 % der Befragten zu denen, die im Vorjahr mehrmals im Jahr im Theater gewesen waren. Weitere 6 % gaben an, einmal dort gewesen zu sein. Zusammen stellt dies einen Anteil von 23 % dar. In den ländlichen Gemeinden liegen die Anteile naturgemäß niedriger - denn auch wenn manche Gemeinden nahe an Darmstadt gelegen sind, ist doch der Weg dorthin umständlich: geographisch, verkehrstechnisch wie auch psychologisch. Sich in einen Nachbarort zu begeben, bedeutet in der Regel, eine Hemmschwelle zu überwinden, selbst wenn der Weg relativ kurz ist. 36 In den Nachbargemeinden lag der Anteil der mehrmaligen Besucher im Jahr bei 4 %, der Anteil der einmaligen Besucher im Jahr bei 2 %. Zusammen sind dies 6 %, die mindestens einmal im Jahr das Staatstheater in Darmstadt aufsuchen. Bemerkenswert ist, dass sowohl bei den lokal ansässigen als auch bei den auswärtigen Zuschauern die Zahl der mehrmaligen Besucher pro Jahr über den einmaligen liegt. Dies spricht für eine relativ enge Bindung an das Theater. Ein derartiges Muster ist auch für die Gegenwart nicht untypisch - zumindest in Großstädten, in denen die Gelegenheitsstruktur für den Theaterbesuch günstig ist. In den kleineren und mittleren Orten, wo die Gelegenheit eingeschränkt ist, verschieben sich unter den Besuchern die Relationen etwas zugunsten des selteneren Besuchs. 37 Dass letzteres in den Nachbargemeinden von Darmstadt in den frühen 1950er Jahren nicht zutrifft, ist vermutlich sowohl der geographischen Nähe zu Darmstadt als auch einer stärkeren Bindung und Attraktivität des Theaterbesuchs für die Bevölkerung der damaligen Zeit geschuldet. Dabei muss es nicht notwendigerweise allein das künstlerische Interesse gewesen sein, das für den relativ häufigen Besuch sorgte. In einer Zeit, in der aufgrund der Kriegsfolgen viele Freizeitmöglichkeiten eingeschränkt waren und es das Fernsehen mit seinem täglichen Programm noch nicht gab, dürfte der Theaterbesuch bei nicht wenigen Menschen partiell auch den Charakter eines angenehmen Zeitvertreibs gehabt haben. Wie stellt sich nun die sozialstrukturelle Einbettung des Theaterbesuchs in den frü- 179 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat hen 1950er Jahren dar? Differenziert man nach sozialen Merkmalen der Befragten, so wird deutlich (vgl. Tabelle 1 und 2): Männer und Frauen gingen zu dieser Zeit in Darmstadt nahezu gleich häufig ins Theater, unter den Befragten aus dem Umland verhält es sich ähnlich. Fasst man den mehrmaligen mit dem einmaligen Besuch im Jahr zusammen, ergibt sich zwar eine leichte Tendenz zu einem häufigeren Besuch auf Seiten der Frauen, aber alles in allem bleiben die Geschlechterunterschiede gering. Des Weiteren kann man der Übersicht entnehmen: je höher die schulische Bildung ist, desto häufiger ist der Theaterbesuch üblich. Das Besuchsniveau liegt in der Darmstädter Bevölkerung, wie weitere Analysen erbringen, in jeder Bildungsgruppe deutlich höher als in den eher ländlichen Nachbargemeinden. Was bedeutet, dass selbst hohe Bildung - die gewöhnlich mit hohem kulturellen Interesse und überproportional großen finanziellen Ressourcen einhergeht - nicht ausreicht, um die geographischen und psychologischen Barrieren des Besuchs an einem anderen Ort als dem Wohnort zu überwinden. Was neben dem Interesse für den Besuch zählt, ist nun mal die Gelegenheitsstruktur. Von zentralem Interesse für die Fragestellung ist, dass die Häufigkeit des Theaterbesuchs in den höheren Altersgruppen Tabelle 1: Häufigkeit des Besuchs des Staatstheaters Darmstadt im letzten Jahr nach sozialen Merkmalen - Bevölkerung in Darmstadt, 1950 (in %) Geschlecht Alter Bildung Mann Frau 21 - 40 41 - 55 56+ Volksschule Höhere Schule Abitur Mehrmals 17 17 21 17 13 11 27 38 Einmal 4 7 2 9 4 5 7 6 Gar nicht 79 76 76 74 83 84 66 56 (N=) 100 (170) 100 (161) 100 (131) 100 (132) 100 (114) 100 (220) 100 (56) 100 (19) Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des Originaldatensatzes. Rundungsbedingt ist es möglich, dass die Zahlen aufaddiert nicht immer exakt 100 % bilden. Tabelle 2: Häufigkeit des Besuchs des Staatstheaters Darmstadt im letzten Jahr nach sozialen Merkmalen - Bevölkerung im Hinterland, 1950 (in %) Geschlecht Alter Bildung Mann Frau 21 - 40 41 - 55 56+ Volksschule Höhere Schule Abitur Mehrmals 3 4 5 3 2 2 15 (14) Einmal 1 2 2 3 - 2 5 - Gar nicht 96 94 93 94 98 96 80 (86) (N=) 100 (162) 100 (238) 100 (189) 100 (125) 100 (105) 100 (376) 100 (40) 100 (7) Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des Originaldatensatzes 180 Karl-Heinz Reuband abnimmt. Dies wird besonders deutlich, wenn man den mehrmaligen Theaterbesuch in den Fokus rückt. Die Tendenz zeigt sich aber auch dann, wenn man die Befragten einbezieht, die von sich sagen, nur einmal im letzten Jahr im Theater gewesen zu sein. Ob jemand in Darmstadt oder in den eher ländlichen Gemeinden lebt, hat auf die Art der Altersbeziehung keinen Einfluss - allenfalls die Häufigkeit des Besuchs ist betroffen. Des Weiteren zeigt sich, dass die beschriebene Altersbeziehung sowohl für Personen mit niedrigerem als auch höherem Bildungsgrad Gültigkeit hat - bei letzteren sogar noch etwas ausgeprägter. Geht man davon aus, dass die Befunde der Darmstadt-Studie auf andere Orte in Deutschland übertragbar sind, würde dies heißen, dass die Überrepräsentation der Jüngeren im Theaterpublikum der 1960er und 1970er Jahre keine zeitspezifische Besonderheit ist, sondern Verhältnisse widerspiegelt, die (mindestens) bis in die 1950er Jahre zurückreichen. Inwiefern für die Überrepräsentation der Jüngeren ein zu dieser Zeit überproportional ausgeprägtes kulturelles Interesse verantwortlich ist oder ein Lebensstil, der kulturelle Partizipation begünstigt, muss an dieser Stelle offen bleiben. 38 Der generationsbezogene postmaterialistische Wertewandel vermag die Alterszusammensetzung jedenfalls nicht zu erklären - denn in den frühen 1950er Jahren war man noch weit von dem wirtschaftlichen Wohlstand entfernt, der einen postmaterialistischen Wertewandel in der Jugendphase hätte begünstigen können. Ebenso wenig hatte zu dieser Zeit bereits eine Bildungsexpansion eingesetzt. Angesichts der Tatsache, dass Opern, Operetten sowie (klassische) Konzerte das Veranstaltungsprogramm des Staatstheaters Darmstadt dominieren und sich in analoger Weise in den Besuchen niederschlagen, stellt sich die Frage, welche Einstellungen die Jüngeren zur klassischen Musik einst einnahmen. Heutzutage gilt, dass die Wertschätzung klassischer Musik in den höheren Altersgruppen weiter verbreitet ist als unter den Jüngeren. Aber gilt dies auch für die 1950er Jahre? Manche Autoren gehen davon aus, dass spannungsgeladene Musik wie Rock und Pop (sowie andere Musikstile) den Bedürfnissen der Jüngeren generell näher steht als denen der Älteren und bei den Jüngeren deshalb mehr Anklang finden. Demzufolge wäre der Musikgeschmack ein Altersphänomen, das im Lauf des Lebensverlaufs unterschiedliche Inhalte annimmt. Doch diese Sicht ist zu einfach. Musikpräferenzen sind auch ein Generationsphänomen. Und die Entwicklung von Musikformen, wie Rock und Pop, die in den 1960er Jahren und später aufkamen und sich vom Musikgeschmack der Älteren abgrenzten, haben Generationseffekte hinterlassen. 39 Leider gibt es zum Musikgeschmack der Bevölkerung für die 1950er Jahre nur unzureichende Informationen. Zu den wenigen Bevölkerungsumfragen, in denen der Musikgeschmack erfragt wurde, zählt eine vom Institut für Demoskopie aus dem Jahr 1953, sie richtet sich an die Rundfunkhörer: „ Welche Art von Musik hören Sie besonders gern im Rundfunk? “ Auf der Liste der vorgegebenen Musikarten nannten 13 % der 18 bis 29-jährigen Opernmusik - und unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht nennenswert von der Gesamtbevölkerung, ebenso wenig von den Älteren. Des Weiteren nannten 47 % der 18 bis 29-jährigen Operettenmusik, wiederum im Einklang mit der Bevölkerungsmehrheit (häufiger gar als die über 60-jährigen). Hingegen fanden Symphoniekonzerte und Kammermusik weniger Anklang und wurden etwas häufiger von den Älteren als den Jüngeren wertgeschätzt. 40 Würde sich in diesen Antworten der damals generell geltende Musikgeschmack der Bevölkerung abbilden (und nicht nur die Präferenzen in Bezug auf Rundfunk- 181 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat sendungen), hieße dies, dass das altersspezifische Bild musikalischer Präferenzstrukturen, das heutzutage Geltung hat, in den 1950er Jahren noch nicht ausgebildet war. Damit wäre ein gewichtiges Hemmnis, das Jüngere davon abhalten könnte, ins Musiktheater zu gehen, nicht gegeben. Und vielleicht ist dies auch ein Teil der Erklärung, warum die Jüngeren einst häufiger als die Älteren ins Staatstheater Darmstadt gingen, obwohl mehrheitlich Werke mit klassischer Musik zur Aufführung gelangten. Mögen die Jüngeren klassische Konzerte womöglich weniger wertgeschätzt haben als die Älteren, so scheinen doch bei ihnen im Bereich von Oper und Operette keine Barrieren bestanden zu haben, die sie vom Besuch abhielten. 5. Theaterbesuch in der Gegenwart Wie verhält es sich mit dem Theaterbesuch in der Gegenwart? Wie man der Tabelle 3 entnehmen kann, wird von rund der Hälfte der befragten Darmstädter angegeben, sie wären in den letzten zwei Jahren im Staatstheater gewesen. Andere Theaterangebote - wie die von Kleinbühnen oder der freien Szene - nehmen eine untergeordnete Stellung ein. Lediglich der Kinobesuch wird häufiger als der Besuch des Staatstheaters genannt. Während der Besuch der Kleinbühnen innerhalb des Beobachtungszeitraums seit 2006 einen leichten Rückgang aufweist, ist der Besuch des Staatstheaters offenbar gestiegen. Inwieweit sich dies ebenfalls in der Statistik verkaufter Karten widerspiegelt, ist schwer zu sagen. Denn in die Statistik gehen die Käufe sowohl von lokal ansässigen als auch auswärtigen Besuchern ein. Der Zuwachs durch die eine Gruppe kann durch den Schwund in der anderen überlagert werden. Zu der Frage, wie groß der Anteil der Auswärtigen unter den Besuchern heutzutage ist, liegen keine repräsentativen Daten vor. In einer Besucherumfrage aus dem Jahr 2003, die sich auf ausgewählte Vorstellungen im Staatstheater Darmstadt stützte, lag der Anteil bei rund zwei Drittel. Da in dieser Erhebung allerdings in überproportionalem Maße ein populäres Musical - Rocky Horror Show - vertreten war und Musicalbesucher oftmals weite Wege in Kauf zu nehmen bereit sind, 41 ist es fraglich, ob man den Anteil auswärtiger Besucher in dieser Untersuchung auf das Gesamtpublikum hin generalisieren kann. Die Höhe der Verbreitung des Theaterbesuchs unter den Darmstädtern ist vor dem Hintergrund der üblichen Praxis des Theaterbesuchs in Deutschland nicht ungewöhnlich. So gaben in Städten wie Düsseldorf, Stuttgart, Kiel oder München repräsentativen Bevölkerungsumfragen aus dem Jahr 2002 zufolge zwischen 43 % und 60 % der Befragten an, ein- oder mehrmals im Jahr ins Theater zu gehen. Und zwischen 22 % und 30 % teilten mit, sie würden ein- oder mehrmals im Jahr in die Oper gehen. 42 Bezieht man sich beim Theaterbesuch ausschließlich auf den Besuch im Schauspielhaus - lässt also die privaten Theater aus der Berechnung aus - so sinkt der Anteil der Theaterbesucher zum Teil erheblich, wie man es am Beispiel von Düsseldorf zeigen kann. 43 Allerdings ist Düsseldorf nicht notwendigerweise typisch für die Lage in anderen Städten. Die Stadt zeichnet sich durch einen besonders hohen Anteil an Privattheatern und Privattheaterbesuchern aus, so dass man die Werte nicht ohne Weiteres auf Orte mit Mehrspartenhäusern wie Darmstadt übertragen kann. Der in Darmstadt konstatierte Anteil von Bürgern, die in den letzten zwei Jahren im Staatstheater waren, erscheint vor dem Hintergrund der in den größeren Städten üblichen Theaterbesuchspraxis als nicht unrealistisch. Komplizierter jedoch wird es, wenn man den Vergleich mit den frühen 1950er Jahren anstellt. Damals waren es ja 182 Karl-Heinz Reuband rund 23 % der Befragten, die angegeben hatten, im letzten Jahr in Staatstheater gewesen zu sein. Selbst wenn man diese Zahl verdoppeln würde, bliebe sie unter dem für den Zweijahreszeitraum aus jüngerer Zeit knapp zurück. 44 Dies legt nahe, dass sich die Zahl der Besucher längerfristig erhöht haben dürfte. Andererseits hatte sich zuvor gezeigt, dass die Zahl der Besuche in Relation zur Bevölkerungszahl 2017/ 18 niedriger lag als 1950 (auch im Vergleich zu 1948/ 49). Ein Grund für diese Diskrepanz könnte sein, dass die Besuchszahlen der Spielzeit 2017/ 18 nur einen Ausschnitt des erfragten Zweijahreszeitraums abbilden. Um über den gleichen zeitlichen Referenzrahmen wie in der Umfrage zu verfügen, müsste man bei korrekter Berechnung die Zahlen der vorangegangenen Spielzeit mit dazurechnen. Täte man dies, so würde sich am beschriebenen Unterschied in der Entwicklung von Besucheranteilen und Besuchszahlen jedoch wenig ändern. 45 Ungeachtet dessen ist auch nicht ausgeschlossen, dass sich die Besuchspraxis verändert hat, d. h. der Anteil der Besucher gestiegen, aber deren Besuchshäufigkeit gesunken ist. Der rückläufige Anteil von Abonnenten und Mitgliedern von Besucherorganisationen, die überproportional zu den häufigen Besuchern zählen 46 - könnte ein Indiz dafür sein. (Da für Darmstadt Befunde dazu erst seit 1959 vorliegen, ist über die Verhältnisse vor 1950 nichts bekannt). Inwiefern die frühen 1950er Jahre die Menschen generell dazu veranlassten, sich besonders häufig ins Theater zu begeben - ob partiell aufgrund eines Mangels an alternativen Freizeitmöglichkeiten, ob als Ausgleich für die nach wie vor widrigen Lebensumstände oder aus anderen Gründen, sei dahingestellt. Welchen Stellenwert haben die sozialen Merkmale der Befragten für den Theaterbesuch in der heutigen Zeit? Und welche Tabelle 3 Besuch des Staatstheaters und ausgewählter kultureller Einrichtungen in Darmstadt in den letzten zwei Jahren nach Jahr der Erhebung (Besucheranteil in %) 2006 2009 2012 2015 2018 Staatstheater 48 51 51 54 54 Kleinbühnen 42 35 30 33 30 Freie Szene * * 11 10 8 Kino 64 64 61 67 62 * nicht erfragt Frageformulierung: „ Welche kulturellen Einrichtungen und Bildungsinstitutionen haben Sie in den letzten zwei Jahren besucht? Staatstheater … Kleinbühnen (ab 2012: „ Kleinbühnen, Comedy Hall, Neue Bühne etc. “ ) … Freie Szene … Kinos “ Quelle: Amt für Wirtschaft und Stadtentwicklung, Bürgerumfrage zur Lebensqualität in der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Statistische Mitteilungen 1/ 2006, S. 37; Bürgerumfrage 2009. Statistische Mitteilungen 1/ 2010, S. 44; Bürgerumfrage 2012 in der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Statistische Mitteilungen 1/ 2013, S. 60; Bürgerumfrage 2015 in der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Statistische Mitteilungen 1/ 2016, Grundauswertung, S. 8; Bürgerumfrage 2018 in der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Statistische Mitteilungen 1/ 2018, Grundauswertung, S. 9. (URL: https: / / www.darmstadt.de/ standort/ statistik-und-stadtforschung/ statistische-mitteilungen [Zugriff am 30.05.2022]. Nicht von uns in die obige Liste aufgenommen sind Angaben zum Besuch von Museen, Stadtbibliothek etc. 183 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen damals und heute? Betrachtet man die Verbreitung des Theaterbesuchs in Abhängigkeit von den sozialen Merkmalen heutzutage (Tabelle 4), so zeigt sich, dass Frauen häufiger als Männer ins Staatstheater gehen. Ebenso lässt sich der Tabelle entnehmen, dass die Verbreitung kultureller Partizipation mit steigender Bildung zunimmt. Die Befragten, welche über Abitur verfügen, geben nahezu doppelt so häufig wie die Befragten mit Volks- oder Hauptschulbildung an, in den letzten zwei Jahren im Staatstheater gewesen zu sein. Dass Frauen etwas häufiger als Männer ins Theater gehen, ist ebenso für andere Städte dokumentiert worden. Wenn in Darmstadt im Vergleich zu den frühen 1950er Jahren die Geschlechterunterschiede zugunsten der Frauen gestiegen sind - worauf unsere Daten hindeuten - , kann dies sowohl Folge eines gestiegenen kulturellen Interesses auf Seiten der Frauen sein, 47 durchaus aber auch aus veränderten gesellschaftlichen Erwartungen erwachsen sein. Dass Frauen allein ins Theater gehen, wurde selbst in den 1970er Jahren noch von einem nennenswerten Teil der Bevölkerung als wenig schicklich betrachtet. 48 Dass die Verbreitung des Theaterbesuchs mit steigender Bildung zunimmt, entspricht dem üblichen Muster kultureller Partizipation. Ob der Bildungseffekt längerfristig gestiegen oder gesunken ist, kann man aufgrund der unterschiedlichen Frageformulierung den Darmstädter Umfragen nicht unmittelbar entnehmen. Sicher ist allenfalls, dass in den 1950er Jahren nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung über Abitur verfügte und dass dieser Teil seitdem erheblich gestiegen ist. Setzt man jedoch auf die Extremwerte der Bildungsabstufung - kontrastiert man die Verbreitung des Theaterbesuchs unter Personen mit Volksschulbildung mit der Verbreitung des Theaterbesuchs unter Personen mit Abitur - , so scheint es, als wären die Bildungsunterschiede heutzutage geringer als früher ausgeprägt. 49 Vergleiche, die in späteren Zeiträumen ansetzen und sich des Themas Oper/ Theater annehmen, deuten ebenfalls in diese Richtung. Was diese Untersuchun- Tabelle 4 Besuch des Staatstheaters Darmstadt nach Geschlecht sowie Bildung nach Jahr der Erhebung (Besucheranteil in %) Geschlecht Bildung Mann Frau Volksschule Realschule Fach-Abitur Abitur 2006 44 52 30 44 53 61 2009 48 53 32 45 52 61 2012 47 55 27 46 50 62 2015 49 60 32 47 54 63 2018 51 58 34 46 52 62 Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Bürgerumfragen der Stadt Darmstadt. Die Auswertungen nach den sozialen Merkmalen wurden freundlicherweise vom Amt für Stadtforschung und Statistik der Stadt Darmstadt dem Verfasser zur Verfügung gestellt. Bildungskategorien: 2006 lauteten sie: Volks-/ Hauptschulabschluss - Mittlere Reife/ Realschulabschluss - Abitur (Fach-) Hochschulreife - Hochschulabschluss. Ab 2009 ff. werden die letzten beiden Kategorien ersetzt durch: Fachabitur - Abitur. Die Kategorie „ noch Schüler/ Schülerin “ bleibt in der obigen Tabelle unberücksichtigt; die Kategorie „ keinen Schulabschluss “ ist von uns mit „ Volks-/ Hauptschule “ zusammengefasst. 184 Karl-Heinz Reuband gen überdies nahelegen, ist, dass der reduzierte Bildungseffekt weniger Folge eines gestiegenen Interesses auf Seiten der weniger Gebildeten ist als vielmehr Folge eines reduzierten Interesses auf Seiten der höher Gebildeten. 50 Inwieweit dies auch für Darmstadt gilt, kann mangels verfügbarer Daten nicht geklärt werden. Aber anzunehmen ist, dass vergleichbare Prozesse hier ebenfalls in gewissem Umfang stattgefunden haben. Von besonderem Interesse ist der Wandel der Altersbeziehung: Sie hat sich im Vergleich zu 1950 in ihr Gegenteil verkehrt. Während 1950 die Jüngeren im Theaterpublikum überrepräsentiert waren, sind es heutzutage die Älteren (vgl. Tabelle 5). Klammert man die unter 25-jährigen als Ausnahmefall aus der Betrachtung aus, so gilt, dass mit steigendem Alter der Anteil der Theatergänger bis zur Gruppe der 65 bis 74jährigen mehr oder minder kontinuierlich zunimmt. Erst bei denen, die 75 Jahre und älter sind, sinkt die Zahl wieder - vermutlich aufgrund der erhöhten Gebrechlichkeit und gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Ähnliche Konstellationen, einschließlich des Rückgangs der Partizipation bei den über 75-jährigen lassen sich anderen Untersuchungen entnehmen. 51 Dass die 18 bis 24-jährigen nicht Bestandteil der beschriebenen Altersbeziehung sind - sie höhere und nicht etwa niedrigere Werte aufweisen als die nachfolgende Altersgruppe der 25 bis 34-jährigen - , muss angesichts der sonstigen Zusammenhänge allerdings erstaunen. Denn von einer generell erhöhten Bereitschaft zum Theaterbesuch kann man bei ihnen nicht sprechen. So sind es beim Besuch von Kleinbühnen die 18 bis 24-jährigen, welche die niedrigsten Werte aufweisen. Sie nehmen den Endpunkt einer Beziehung ein, die von den Jüngeren zu den Älteren reicht und die mit steigendem Alter eine zunehmende Beteiligung am Theaterbesuch ausweist. Wie aber kann es sein, dass beim Besuch des Staatstheaters die Jüngeren keine vergleichbare Stellung einnehmen wie beim Tabelle 5 Besuch des Staatstheaters und von Kleinbühnen in Darmstadt in den letzten zwei Jahren nach Alter und Jahr der Erhebung (Besucheranteil in %) 18 - 24 25 - 34 35 - 44 45 - 54 55 - 64 65 - 74 75+ Staatstheater 2006 45 ┌─ 42 ─┐ ┌─ 53 ─┐ 57 47 2009 50 39 47 53 56 61 53 2012 56 44 47 56 54 54 49 2015 55 46 50 55 58 64 58 2018 54 51 46 58 59 60 55 Kleinbühnen 2006 24 ┌─ 45 ─┐ ┌─ 51 ─┐ 35 19 2009 17 29 42 43 43 32 17 2012 16 24 35 38 41 27 16 2015 13 21 37 43 46 36 22 2018 11 20 28 39 40 43 27 Quelle wie Tabelle 4; Anmerkung: in der Erhebung von 2006 wurden im Fragebogen andere - etwas gröber gefasste - Alterskategorisierungen (wie oben aufgeführt) verwendet als in den späteren Jahren. 185 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat Besuch anderer Theater? Sind es die finanziellen Ermäßigungen für Studierende, die sich hier auswirken? Anders als man mutmaßen könnte, lässt sich die herausgehobene Stellung der jüngsten Altersgruppe nicht auf den kostenlosen Zugang zu Karten zurückführen, der seit 2002 für Studierende der (Fach-) Hochschulen sowie seit 2009 auch für Studierende der Universität möglich ist. 52 Wäre dies der Fall, müsste sich der Effekt nur unter den Befragten mit Fachhochschulreife oder Abitur finden - mithin jenen Gruppen, die am ehesten die Studierendenschaft repräsentiert. Dies aber trifft nicht zu: Auch die Befragten mit niedrigerer und mittlerer Bildung - mit Volksschulabschluss oder mittlerer Reife - weisen eine vergleichbare Tendenz beim Übergang von der Altersgruppe der 18 bis 24-jährigen in die Altersgruppe der 25 bis 34-jährigen auf. Inwieweit es sich bei der beschriebenen Altersbeziehung um einen Alters- oder Generationseffekt handelt - sich womöglich ein neues Altersmuster kultureller Partizipation in der jüngeren Generation andeutet - oder sich darin Besonderheiten des Programms von Staatstheater und Kleinbühnen niederschlagen, die je nach Theater in unterschiedlichem Maße ein jüngeres Publikum anziehen, muss an dieser Stelle ungeklärt bleiben. 6. Subjektives Erleben des Theaters in den 1950er Jahren Wie erlebten die Besucher in den frühen 1950er Jahren das Theater? Fragen zum subjektiven Erleben und Bewertung der Aufführung sind bis heute in Besucher- und Bevölkerungsumfragen selten. Sie werden in den Untersuchungen, die vom Kulturbetrieb selbst initiiert sind, nicht zuletzt wohl auch angesichts des Primats künstlerischer Autonomie gern vermieden. Man klammert sie aus, weil sich ein Konflikt zwischen künstlerischem Anspruch und Wirklichkeit auf der Rezeptionsseite auftun könnte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit spielten derartige Aspekte weniger eine Rolle als heutzutage, ging es doch darum, einen Zugang zum Publikum zu finden und mit den Aufführungen im Theater auch zu ändern, was sich als Mentalität in der Zeit des Nationalsozialismus in der Bevölkerung festgesetzt hatte. Vielleicht ging es den Autoren der Erhebung aber auch in erster Linie nur darum, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, an die sich das Theater genuin richtet und ohne die es längerfristig nicht überlebt. 53 Danach gefragt, wie sehr sie im Großen und Ganzen mit dem Theater zufrieden seien, äußerte sich die Mehrheit der Befragten als „ zufrieden “ . Unter den Darmstädtern, die mehrmals im Jahr ins Theater gingen, bekundeten 79 % „ zufrieden “ zu sein. Weitere 20 % bekannten „ einigermaßen zufrieden “ zu sein und lediglich 2 % sagten, sie seien „ unzufrieden “ . Unter denen, die nur einmal im Jahr ins Theater gingen, liegen die Verhältnisse nicht grundlegend anders, die Unterschiede sind eher gradueller als grundsätzlicher Art. So lag der Anteil der Unzufriedenen bei ihnen (mit 15 %) nur moderat höher. Dies legt nahe, dass für die Unterschiede in der Besuchshäufigkeit nicht das Programm und das jeweilige Kulturangebot des Theaters primär verantwortlich waren, sondern eher Unterschiede im kulturellen Interesse am Theater per se. Differenzierungen nach den sozialen Merkmalen machen deutlich, dass die Älteren mit ihrem letzten Theaterbesuch zufriedener waren als die Jüngeren und dass die schlechter Gebildeten zufriedener waren als die höher Gebildeten. Es handelt sich um genau jene Gruppen, die zu dieser Zeit unterproportional am Theaterbesuch beteiligt waren. 54 Inwieweit für das Urteil die jeweils zuletzt gesehenen Stücke verantwortlich waren oder unterschiedliche Ansprüche 186 Karl-Heinz Reuband den Maßstab für die Beurteilung bildeten oder ein seltener Besuch umso mehr wertgeschätzt wird, muss hier ungeklärt blieben. Jedenfalls dokumentiert der Befund, dass die höhere Frequenz des Theaterbesuchs bei den Jüngeren und den besser Gebildeten nicht zwangsläufig mit einem höheren Grad an Zufriedenheit in diesen Gruppen gleichgesetzt werden kann und dass - zumindest in diesen Jahren - die Unzufriedenheit mit den Aufführungen nicht notwendigerweise die Besucher von weiterem Besuch abhielt. Die generelle Bereitschaft zum Theaterbesuch spielte vermutlich zu dieser Zeit eine weitaus entscheidendere Rolle als die Zufriedenheit mit dem letzten Theaterbesuch. Gefragt, was ihnen bei ihrem Theaterbesuch besonders gefallen habe, wurde sowohl von denen, die mehrmals im Jahr ins Theater gehen, wie denen die dies seltener taten, am häufigsten das musikalische Angebot genannt: Opern, Konzerte sowie Operetten. Das Schauspiel wurde seltener aufgeführt. 55 Was allerdings nicht bedeuten muss, dass vom Publikum das Musikalische generell dem Sprechtheater vorgezogen wurde. Das Antwortmuster dürfte nicht zuletzt auch widerspiegeln, welche Art von Aufführung gesehen wurde: Wenn das Spielplanangebot durch das Musiktheater bestimmt ist und mehr Menschen ins Musiktheater als in das Sprechtheater gehen - wie dies der Fall in Darmstadt war und ist - , wird das Musiktheater naturgemäß unter den Nennungen überproportional aufgelistet werden. Zur spartenspezifischen Zufriedenheit - differenziert nach Musiktheater, Konzerte oder Schauspiel - liegen aus der Umfrage keine Informationen vor. 7. Schlussbemerkungen Wie das Beispiel Darmstadt zeigt, hat sich die soziale Struktur der Theaterbesucher seit den 1950er Jahren grundlegend geändert. Während im Jahr 1950 die Jüngeren häufiger als die Älteren Aufführungen des Staatstheaters besuchten, sind es heutzutage die Älteren. Inwieweit dies den Besuch des Sprechtheaters ebenso betrifft wie das Musiktheater, muss für Darmstadt (ein Mehrspartenhaus mit Schwerpunkt im Musiktheater) ungeklärt bleiben. Wie spezifisch ist der für Darmstadt beschriebene Altersbezug? Wie sehr lassen sich die Ergebnisse auf andere Orte und Deutschland als Ganzes generalisieren? Die einzige Vergleichsmöglichkeit, die bis in die 1950er Jahre zurückreicht, bietet sich für Köln. Zwar ist in der Umfrage global vom Theaterbesuch die Rede, aber da in Köln bis kurz vor Kriegsende Opern- und Schauspielaufführungen in unterschiedlichen Häusern stattfanden - das Theater also keinen Mehrspartencharakter hatte - kann man vermuten, dass die Befragten primär an das Sprechtheater dachten, als sie die Frage zu ihrem Theaterbesuch beantworteten. Ähnlich wie in Darmstadt erwiesen sich die Jüngeren im Vergleich zu den Älteren in den frühen 1950er Jahren als die häufigeren Theaterbesucher. Und ähnlich wie in Darmstadt zeichnete sich beim Vergleich mit Umfragen aus jüngerer Zeit ab, dass es nunmehr die Älteren sind, die überproportional häufig ins Theater gehen. 56 Die heutzutage in Deutschland übliche kulturelle Partizipation stimmt mit diesem Befund - wie es sowohl lokale als auch bundesweite Erhebungen belegen - überein. Zwar ist beim Musiktheater die Beziehung stärker ausgeprägt als beim Sprechtheater, aber auch das Sprechtheater weist einen analogen Zusammenhang auf. 57 Ein weiterer bedeutsamer Befund der Darmstadt-Studie von 1950 ist, dass sich die Befragten aus Darmstadt und aus den Nachbargemeinden in ihren sozialstrukturellen Merkmalen nicht grundlegend unterschieden. Die prozentualen Besucheranteile differierten zwar - mitverursacht durch die 187 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat unterschiedliche geographische Nähe zum Theater - , aber die strukturellen Zusammenhänge stimmten überein. Dass die einheimischen und die auswärtigen Besucher sich in ihren sozialstrukturellen Merkmalen stark ähneln, haben in jüngerer Zeit ebenfalls Untersuchungen ergeben, die sich auf das Publikum des Musiktheaters bezogen. In die gleiche Richtung gehen die Befunde einer Analyse des Düsseldorfer Schauspielhauspublikums. 58 Offenbleiben musste an dieser Stelle, welche Faktoren in den frühen 1950er Jahren maßgeblich für die Überrepräsentation von Personen jüngeren Alters verantwortlich waren und welche es in der jüngeren Zeit für die Überrepräsentation der Älteren sind. Fragen zu kulturellen Interessen, zum Musikgeschmack und zu den Lebensstilen waren kein Bestandteil der Darmstädter Erhebungen. Aus anderen Untersuchungen spricht jedoch einiges dafür, dass die einstige Überrepräsentation der Jüngeren partiell aus einem überproportional großen kulturellen Interesse ihrerseits und einem eher zurückgezogenen Lebensstil der Älteren erwachsen sein könnte: 59 Heutzutage ist die Situation eine andere 60 : Es sind nun die Älteren und nicht mehr die Jüngeren, die sich durch ein überproportionales kulturelles Interesse auszeichnen. Geändert hat sich ebenfalls der Lebensstil der Älteren: Sie führen im Vergleich zu früher ein aktiveres Leben, verfügen zudem gegenüber den Altersgleichen früherer Generationen über ein höheres Bildungsniveau. All dies dürfte nicht ohne Folgen für ihren kulturellen Lebensstil und ihre Nutzung kultureller Einrichtungen geblieben sein. Anmerkungen 1 Im Text sind bei Verwendung des generischen Maskulinums oder Femininums alle Geschlechter gemeint. 2 Die Veränderungen in der Zusammensetzung werden erst sichtbar, wenn man die disparat vorliegenden lokalen und bundesweiten Einzelerhebungen auf der Basis von Bevölkerungs- und Besucherumfragen in einen Gesamtzusammenhang einbringt und dabei den Unterschieden im methodischen Vorgehen hinreichend Rechnung trägt. Zum Wandel in Hamburg siehe Karl-Heinz Reuband, „ Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Erscheinungsbild kultureller Partizipation. Der Opern- und Theaterbesuch der Hamburger Bevölkerung, 1976 - 2011 “ , in: Sociologia Internationalis 55/ 1 (2017), S. 39 - 77; zu Hannover und Nürnberg siehe ders. „ Die soziale Neustrukturierung des Opernpublikums. Der Opernbesuch der städtischen Bevölkerung der 1970er Jahre und heute im Spiegel kommunaler Umfragen “ , in: Die Musikforschung (2019), S. 214 - 242, zu Köln siehe ders. et al., „ Die Krise des Opern- und Klassikpublikums. Imaginierte Wirklichkeiten oder soziale Realität? “ in: Neue Zeitschrift für Musik 1 (2020), S. 12 - 14, hier speziell S. 13 f. Bundesweite Zeitreihen, gestützt auf Umfragen unterschiedlicher Provenienz und unterschiedlicher Ausgangsjahre, finden sich in: ders., „ Der Besuch von Opern und Theatern in der Bundesrepublik. Verbreitung, Trends und paradoxe Altersbeziehungen “ , in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2014, Essen 2015, S. 359 - 374; ders., „ Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation. Ein Langzeitvergleich bundesweiter Bevölkerungsumfragen, 1972 - 2016 “ , in: Zeitschrift für Kulturmanagement 1 (2018), S. 23 - 54; Ders., „ Gebildet, weiblich und immer älter “ , in: Die Deutsche Bühne 3 (2020), S. 32 - 35. Speziell zum Theater siehe auf der Basis von Bevölkerungs- und Besucherumfragen Ders. „ Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation “ , in: Forum Modernes Theater 32/ 1 (2021), S. 5 - 12, hier S. 1. 3 Vgl. Deutscher Bühnenverein, Vergleichende Theaterstatistik: Theater und Kulturorchester in der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, Öster- 188 Karl-Heinz Reuband reich und der Schweiz 1949 - 1968, Köln 1969. Zur Entwicklung des Theaterbesuchs in der Bundesrepublik (mit Vergleichszahlen für die DDR) siehe auch Heike Wolter, Bernd Wedemeyer-Kolwe, „ Kultur, Tourismus und Sport “ , in: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 154 - 171, hier S. 162. 4 Die Tatsache, dass der Rückgang zunächst im Bereich des Schauspiels stärker ausfiel als beim Musiktheater, könnte man als einen Hinweis für die Plausibilität der Hypothese nehmen, vollzog sich doch der Wechsel hin zum Regietheater zunächst im Bereich des Schauspiels, bevor er sich auf das Musiktheater ausbreitete. Es gibt jedoch auch alternative Hypothesen für die Entwicklung: so etwa, dass die Ausbreitung des Fernsehens zu den rückläufigen Zahlen beitrug, weil Theaterstücke zu einem Bestandteil des Fernsehprogramms wurden. So z. B. bei Axel Schildt, Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik - 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 201, 237. Man könnte ebenso mutmaßen, dass bereits allein das Aufkommen des Fernsehens eine derartige Dynamik entfaltete, weil es, vor allem in den Abendstunden, die Aufmerksamkeit der Bürger auf das neue Medium zog und so die verfügbare Zeit für das Theater, ebenso wie für das Kino, verknappte. Die Zahl der Kinobesuche nahm bereits etwas früher als die Zahl der Theaterbesucher ab und erlebte in den Folgejahren einen weitaus stärkeren, massiven Schwund. Zur Entwicklung der Kinobesuchszahlen siehe Wolter, Wedemeyer-Kolwe, „ Kultur, Tourismus und Sport “ , S. 162. 5 Vgl. Hans-Albrecht Harth, Publikum und Finanzen der Theater. Eine Untersuchung zur Steigerung der Publikumswirksamkeit und der ökonomischen Effizienz der öffentlichen Theater, Thun/ Frankfurt a. M. 1982, S. 131. 6 Vgl. Joachim Scharioth, Kulturinstitutionen und ihre Besucher. Eine vergleichende Untersuchung bei ausgewählten Theatern, Museen und Konzerten im Ruhrgebiet, Diss., Universität Bochum 1974, S. 172. Keine derartigen Hinweise finden sich in Untersuchungen aus jüngerer Zeit in Bezug auf den Inszenierungsstil bei Opernaufführungen. Vgl. Reuband, „ Erneuerung der Oper aus dem Geist der Moderne? Das Regietheater und sein Publikum “ , in: Oper, Publikum und Gesellschaft, Wiesbaden 2018, S. 287 - 354. 7 Ronald Inglehart hat als Politikwissenschaftler die Frage nicht weiter verfolgt, inwieweit ästhetische Werte tatsächlich in der von ihm postulierten Wertehierachie an oberster Stelle stehen und sich auf das kulturelle Leben auswirken. Auch andere Autoren haben dies nicht getan. Dass die von Inglehart entwickelte Skala zur Messung des Postmaterialismus tatsächlich auf kulturell-ästhetischen Geschehnisse Einfluss nimmt, lässt sich in Bevölkerungsumfragen in der Beurteilung des Streits um die Waldschlösschenbrücke in Dresden in der Bevölkerung jedoch zeigen. Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values Among Western Publics, Princeton 1977, S. 41 ff.; Reuband, „ Der Dresdner Brückenstreit und das Weltkulturerbe. Der Einfluss kultureller Wertorientierungen auf die Einstellungen der Bürger “ , in: Sociologia Internationalis. Europäische Zeitschrift für Kulturforschung 2 (2015), S. 221 - 233. 8 Vgl. Karl Schoer, Veronika Spieß, „ Vom Wirtschaftswunder zur führenden Industrienation - die gesamtwirtschaftliche Entwicklung “ , in: Egon Hölder (Hg.), Im Zug der Zeit. Ein Bilderbogen durch vier Jahrzehnte, Wiesbaden 1989, S. 205 - 218. 9 Vgl. Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, Wiesbaden 2002, S. 334 ff.; Walter Schwab, Hermann Voit, „ Vom Bildungsnotstand zur Akademikerschwemme - Bildung für alle “ , in: Egon Hölder (Hg.), Im Zug der Zeit. Ein Bilderbogen durch vier Jahrzehnte, Wiesbaden 1989, S. 175 - 190. 10 Vgl. Reuband, „ Kulturelle Partizipation in Deutschland. Verbreitung und soziale Differenzierung “ , in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/ 18, Bielefeld 2018, S. 377 - 393; siehe auch Jörg Rössel, Plurale Sozialstrukturanalyse., Wiesbaden 189 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat 2005; Gunnar Otte, Sozialstrukturanalysen mit Lebensstilen., 2. Aufl., Wiesbaden 2008. 11 Beide Umfragen sind im GESIS-Datenarchiv (Köln) archiviert, die Darmstadt-Studie unter der Nr. ZA 1573. Die komplexe Aufbereitung des Datensatzes geschah in dem vom Verfasser durchgeführten Projekt „ Kulturelle Partizipation im Wandel “ , gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. 12 Die Fragen, die in der Erhebung zum Thema Theaterbesuch gestellt wurden, lauteten: „ Wie oft - ungefähr - sind Sie im letzten Jahr im Darmstädter Landestheater gewesen? “ - „ Und wie waren Sie im Großen und Ganzen mit dem Theater zufrieden, einigermaßen zufrieden oder unzufrieden? “ - „ Was gefiel Ihnen im Einzelnen besonders? “ - „ Welche besonderen Wünsche haben Sie an die Spielplangestaltung? “ . Die Antwortoptionen waren je nach Frage entweder offen (ohne Antwortkategorien) oder geschlossen (mit vorgegebenen Antwortkategorien). 13 Entstanden ist lediglich eine unveröffentlichte Dissertation, verfasst von Martin S. Allwood, und 1953 eingereicht bei der Universität Darmstadt. Zur Geschichte der Darmstadt-Studie siehe Alexia Arnold, Ute Gerhardt, „ Chicago in Darmstadt. Das Raumkonzept der Chicago-Soziologie und seine Weiterentwicklung in der Darmstadt- Studie - unter besonderer Berücksichtigung der Stadt-Land-Thematik. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie “ , in: Helmut Berking/ Martina Low (Hg.) Die Wirklichkeit der Städte, (Soziale Welt-Sonderheft), Baden-Baden 2005; Alexia Arnold, Reorientation durch Wissenschaftstransfer. Eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Darmstadt-Studie (1948 - 1954) aus soziologischer Perspektive, Baden-Baden 2010. 14 Hessisches Landesarchiv, Staatsarchiv Darmstadt. Hinter den Kulissen: Vom Hoftheater zum Haus der Geschichte. Einblick in 200 Jahre Mollerbau, Darmstadt o. J., https: / / ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.d e/ mollerbau/ #s1 [Zugriff am 21.04.2022]. Zu dieser Zeit hatte Darmstadt lediglich rund 20.000 Einwohner. Dass Theater über eine große Zahl von Plätzen verfügten, war selbst im 18. Jahrhundert trotz eines beschränkten Zuschauendenkreises nicht selten. In welchem Umfang sich das Publikum in dieser Zeit aus Darmstadt und aus anderen Orten rekrutierte, ist unbekannt. Siehe dazu Reinhold Staudt, „ 150 Jahre Darmstädter Theater. Die Darmstädter Bühne und ihre Vorgeschichte “ , in: Geistiges und Künstlerisches Darmstadt, Darmstadt 1960, S. 35 - 47, hier S. 39. Bedenkt man, wie gering der Anteil des Bürgertums zu dieser Zeit war, so kann man annehmen, dass der Theater-/ Opernbesuch im Bürgertum - auch wenn die Aufführungen nicht so häufig stattfanden wie heutzutage - insgesamt doch recht häufig war. 15 Auskunft des Darmstädter Stadtarchivs an den Verfasser. Vgl. zu den Zahlen: Deutscher Städtetag, Statistische Jahrbuch Deutscher Gemeinden 1960, Berlin 1961, S. 252. 16 Mehrspartenhäuser stellen heutzutage die Mehrheit der staatlichen Bühnen dar, in denen Musiktheater stattfindet. Insofern ist Darmstadt als durchaus typisch für die deutsche Theaterlandschaft anzusehen (auch wenn theaterspezifische Besonderheiten für Unterschiede zwischen den jeweiligen Theatern sorgen mögen). 17 Eigene Berechnungen auf der Basis von Unterlagen des Amtes für Statistik, Darmstadt. 18 Zu den nicht staatlichen Bühnen zählen das halbNeun Theater (eine Kleinkunstbühne), die Neue Bühne Darmstadt (ein freies Theater), das West Side Theater, das Theater Moeller Haus, die Comedy Hall/ Kikkeri Theater (Kikkeri Theater ist ein Puppentheater), das Hoffart Theater, das TIP-Theater in Pädagog. Die Zahl der verfügbaren Plätze ist durchweg stark begrenzt - das Theater Moeller Haus z. B. verfügt lediglich über 90 Plätze. 19 Deutscher Bühnenverein, Theaterstatistik 2017/ 18, Köln 2018; Kinder- und Jugendtheater ausgeklammert (eigene Berechnungen). 20 88 % der 81 Opern-, und Musicalaufführungen fanden im Großen Haus statt. Von den 296 Veranstaltungen des Schauspiels fanden 46 % im Kleinen Haus, 35 % in den Kam- 190 Karl-Heinz Reuband merspielen und jeweils 9 % in der Bar der Kammerspiele oder im Foyer des Großen Hauses statt. 21 Nicht mitgerechnet sonstige Veranstaltungen und theaterbezogenes Rahmenprogramm. Vgl. Deutscher Bühnenverein, Theaterstatistik 2017/ 18; eigene Berechnungen. 22 Im erstgenannten Fall ist die Zahl der Karten für das Kinder- und Jugendtheater abgezogen, im zweitgenannten Fall die Zahl der Studierenden- und Schülerkarten. 23 In der Spielzeit 2017/ 18 stellte das Kinder- und Jugendtheater 11,6 % der Besuche (Sonstige und Rahmenprogramm nicht mitgerechnet). In der Spielzeit 1958/ 59 waren es lediglich 3,6 %. Vgl. Deutscher Bühnenverein, Theaterstatistik 2017/ 18; Institut für Handelsforschung, Der Betriebsvergleich der staatlichen und städtischen Theater im Rechnungsjahr 1958 und Spieljahr 1958/ 59: mit einer synoptischen Jahrestabelle als Beilage, Sonderhefte der Mitteilungen des Instituts für Handelsforschung der Universität Zu Köln, Sonderheft 14, Köln 1962, S. 39. In den 1950er Jahren war der Anteil von Studierenden an der Bevölkerung zudem geringer als heute. 24 Rechnet man die Zahl der Karten auf die Bevölkerungsgröße der Stadt um, käme man für 1950 auf einen Quotienten von 1,48 Karten pro Einwohner, für 2017/ 188 von 1,20 bzw. 1,01 (je nachdem, ob man die Schüler-, Jugend- und Studierendenkarten mitrechnet oder nicht). 25 Während sich in der Spielzeit 1966/ 67 bis 1971/ 72 die Zahl der Besuche auf Werte zwischen 161.000 und 176.000 belief, stieg sie Anfang der 1970er Jahre auf Werte zwischen rund 311.000 und nahezu 330.000 an, um in den 1990er Jahren wieder abzusinken, in den frühen 1990er Jahren auf Werte um die 241.000 bis 243.000. 2007/ 08 beliefen sie sich auf rund 202.000. Inwieweit der ‚ Höhenflug ‘ der Besuchszahlen in den 1970er und 1980er Jahren Folge einer veränderten Neustrukturierung auf der Angebotsseite war - das Haus war 1972 neu eröffnet worden, es wechselten zudem die Intendanten (Günther Beelitz 1982 - 1976, Kurt Horres 1976 - 1984, Peter Brenner 1984 - 1991) - , wäre einer speziellen Untersuchung wert. Dabei wäre die Zahl der spartenspezifischen Veranstaltungen, Zahl der verfügbaren und der jeweils angebotenen Plätze, Spielplan etc. mit zu berücksichtigen. Rechnet man die Zahl der Besuche auf die Einwohnerzahl, so lag die höchste Teilnahmerate in Darmstadt in den 1970er und 1980er Jahren. 26 Die Auslastung ist abhängig auch von der Zahl der angebotenen Plätze. Wird diese reduziert, erhöht sich rein rechnerisch die Auslastung. Daher ist gegenüber diesem Indikator, der oft als ein Indikator für Erfolg des Theaterbetriebs gewertet wird, bei der Interpretation stets eine gewisse Vorsicht geboten. 27 In Bezug auf andere Theater (erfasst für das Rheinland und Westfalen) lässt sich für die 1950er Jahre ähnlich wie für Darmstadt konstatieren, dass Tageskarten eine Minderheit der ausgegebenen Karten darstellten (ein Viertel bis ein Fünftel), nicht aber im Jahr 1949/ 50: Hier stellten Tageskarten einen Anteil von 51 %. Vgl. Scharioth, Kulturinstitutionen, S. 51. Für die Bundesrepublik beziffert sich 1951/ 52 der Anteil der Tageskarten auf 39 %. Schließt man Schüler- und Jugendkarten aus der Berechnung aus, kommt man auf einen Anteil von 45 %. In späterer Zeit sinkt er ab, beläuft sich 1968/ 69 (ohne Schüler-/ Jugendkarten) auf 31 %. Vgl. Deutscher Bühnenverein, Vergleichende Theaterstatistik, S. 21 (eigene Berechnungen). Inwiefern diese Größenordnung für die Zeit Anfang der 1950er Jahre ebenfalls auf Darmstadt zutrifft, ist eine offene Frage. 28 Ausgeklammert sind aus dieser Berechnung Schüler-/ Kinder-/ Studierendenkarten, Ehren-/ Freikarten/ Dienstplätze sowie Vorzugskarten. Jeweils eigene Berechnungen auf der Grundlage: Deutscher Städtetag, Statistisches Jahrbuch Deutscher Gemeinden 1960, Berlin 1961; Deutscher Städtetag, Statistisches Jahrbuch Deutscher Gemeinden 1980, Berlin 1981; Deutscher Städtetag, Statistisches Jahrbuch Deutscher Gemeinden 1990, Berlin 1991; Deutscher Bühnenverein, Theaterstatistik 2011/ 12, Köln 2012; ders., Theaterstatistik 2017/ 18, Köln 2018. Für 1950 ließen sich keine Zahlen finden. 191 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat 29 Über die Altersstruktur der Kartenerwerber ist nichts bekannt. Untersuchungen aus jüngerer Zeit des Musikpublikums in Köln und Düsseldorf haben gezeigt, dass Abonnenten und Mitglieder von Besuchendenorganisationen im Durchschnitt älter sind als die Erwerber von Kaufkarten. Aber man kann nicht sicher sein, dass dies ebenfalls in den frühen 1950er Jahren galt, zumal sich das Theater erst wieder als Institution etablierte. Zur Struktur des Publikums in Abhängigkeit von der Art des Kartenerwerbs in jüngerer Zeit vgl. Reuband, „ Die soziale Stellung der Opernbesucher “ , in: Stadtforschung und Statistik, 1 (2007), S. 15 - 21, hier S. 19; Ders., „ Distinktion an der Opernkasse. Studie fragt nach sozialen Unterschieden zwischen Abonnenten und Einzelkartenkäufern “ , in: das Orchester 11 (2020), S. 28 - 31. 30 Die Operationalisierung des Hinterlandes berücksichtigte das Einzugsgebiet landwirtschaftlicher Frischprodukte, das kulturelle Einzugsgebiet sowie das der Berufspendler, vgl. Arnold, Gerhardt, Chicago in Darmstadt. 31 Die Befragungen fanden unter Anwendung der professionellen Methoden der Umfrageforschung mit deutschem Interviewerstab durch die „ Reaction Analysis Branch of the High Commission of Germany “ (HICOG) statt. Die vier in die Untersuchung einbezogenen Nachbargemeinden umfassen Spachbrücken, Alsbach, Ober Mossau, Schneppenhausen. Sie liegen (gemessen an der heutigen Fahrstrecke für Autos - mit Ausnahme von Ober Mossau (41 km) - zwischen 10 und 22 km von Darmstadt entfernt. Die oben angegebene Zahl der in den vier Gemeinden befragten Personen stützt sich auf die im Datensatz verfügbaren Angaben. Zu der Methodik der Umfrage in der Stadt Darmstadt vgl. Klaus A. Lindemann, Behörde und Bürger. Das Verhältnis zwischen Verwaltung und Bürger in einer deutschen Mittelstadt, Darmstadt 1952, S. 85 f. Zur Methodik der Umfrage in den vier Nachbargemeinden siehe Karl-Guenther Grüneisen, Landbevölkerung im Kraftfeld der Stadt, Darmstadt 1952, S. 10 ff. Die dort mitgeteilte Zahl der Fragebogen pro Gemeinde (S. 12) entspricht - mit Ausnahme von Alsbach - weitgehend der Zahl der im Datensatz verfügbaren Befragten. Warum die Zahlen bei Alsbach davon abweichen, ist unklar. 32 Vgl. dazu u. a. Amt für Wirtschaft und Stadtentwicklung/ Statistik und Stadtforschung, Bürgerumfrage 2018 in der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Statistische Mitteilungen 1/ 2019, Darmstadt 2019, https: / / www.darmstadt.de/ fileadmin/ Bilder-Rubriken/ SM-BU2018-In ternet.pdf [Zugriff 27.04.2022]. 33 „ Wie oft - ungefähr - sind Sie im letzten Jahr im Darmstädter Landestheater gewesen? “ Antwortkategorien: „ 12-mal und mehr - 6 - 11-mal - 2 - 5-mal - Einmal - Gar nicht “ (1950). „ Welche kulturellen Einrichtungen und Bildungsinstitutionen in Darmstadt haben Sie in den letzten 2 Jahren besucht? “ … Staatstheater “ (2006 ff.). 34 Die Befragten setzen sich z. T. aus einem Stammpublikum zusammen, das sich konstant von Jahr zu Jahr einfindet. Und einem Publikum, das seltener Aufführungen besucht und oftmals mehr durch die Art der Veranstaltung als durch das eigene kulturelle Interesse zum Besuch motiviert wird. Wie groß die jeweiligen Anteile sind, ist unbekannt. 35 Erinnerungsprobleme (in Kombination mit Aspekten sozialer Erwünschtheit) dürften gelegentlich eine Fehldatierung des letzten Theaterbesuchs begünstigen: Der letzte Theaterbesuch wird einem Zeitraum jüngeren Datums zugerechnet, obwohl der Besuch länger zurückliegt. Die Fehleinschätzungen werden u. a. offenbar, wenn man auf der Basis von Umfragen eine Schätzung der Besucherzahlen im Lauf eines Jahres vornimmt und diese mit der Zahl verkaufter Karten vergleicht. Vgl. Reuband, „ Partizipation an der Hochkultur und die Überschätzung kultureller Kompetenz. Wie sich das Sozialprofil der Opernbesucher in Bevölkerungs- und Besucherbefragungen (partiell) unterscheidet “ , in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 32 (2007), S. 46 - 70; ders., „ Entwicklungstendenzen und Struktureffekte kultureller Partizipation. Eine Analyse am Beispiel der Stadt Düsseldorf “ , in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesell- 192 Karl-Heinz Reuband schaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2015/ 16, Bielefeld 2016, S. 417 - 432, hier S. 421 f. 36 Vgl. hierzu die niedrige Fluktuation des Opernpublikums zwischen Köln und Düsseldorf. Reuband, „ Das Kulturpublikum im städtischen Kontext. Wie sich das Opernpublikum von anderen Kulturpublika unterscheidet “ , in: Ders. (Hg.) Oper, Publikum und Gesellschaft, Wiesbaden 2018, S. 143 - 191, hier S. 161 ff. 37 Reuband, „ Entwicklungstendenzen “ , S. 423; Reuband, „ Lebensstil “ , S. 239. Auf Bundesebene dagegen ist beim Theaterbesuch der Anteil derer, die lediglich einmal im Jahr ins Theater gehen, etwas größer als der Anteil der Befragten mit mehrmaligem Besuch im Jahr, vgl. Reuband, „ Kulturelle Partizipation “ , S. 390. 38 Da bundesweite Befunde, die Zeitvergleiche erlauben, erst seit den 1990er Jahren zur Verfügung stehen, verfügen wir über keine Daten zum kulturellen Interesse aus dieser Zeit. Zur Entwicklung des kulturellen Interesses bei Älteren und Jüngeren im Zeitverlauf vgl. Reuband, „ Museumsbesuch im Wandel. Verbreitung und Sozialprofil der Besucher “ , in: Sociologia Internationalis. Europäische Zeitschrift für Kulturforschung 56/ 2 (2018), S. 29 - 69, hier S. 37. Zum Wandel der Lebensstile vgl. ders., „ Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation “ , S. 44. 39 Reuband, „ Musikpräferenzen und Musikpublika “ , in: Musikinformationszentrum (Hg.), Musikleben in Deutschland, Bonn 2019, S. 510 - 535. 40 Allensbacher Archiv, IfD Umfrage 516, März 1953. Die Ergebnisse wurden freundlicherweise vom Institut für Demoskopie zur Verfügung gestellt. Beachtenswert ist, dass Opernmusik mehr Wertschätzung erfuhr als Symphonien oder Kammermusik, während heutzutage Opern seltener eine Wertschätzung erfahren als „ klassische Musik “ , die - so ist zu vermuten - von den Befragten mit Symphonien und Kammermusik assoziiert werden. Zum Musikgeschmack in der Gegenwart siehe Reuband, Musikpräferenzen und Musikpublika, S. 527. 41 Basis der Untersuchung waren zwei Veranstaltungen aus dem klassischen Musik- Bereich (Fidelio), zwei aus dem Musical-Bereich (Rocky Horror Show) sowie zwei aus dem Bereich Schauspiel (Kabale und Liebe). Vgl. Marcus Baldau et al., „ Wie machen wir ‘ s, dass alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei? “ Eine empirische Untersuchung zu Freizeit- und Theaterkompetenzen von Darmstädter Bürgern und Bürgerinnen, Darmstadt 2004, S. 9 (unveröffentlicht). Wie sich dies in anderen Städten - wie Düsseldorf - darstellt, dazu siehe Reuband, „ Kulturpublikum “ , S. 161 ff. Dass Musicalinteressierte oft bereit sind, weite Wege in Kauf zu nehmen, zeigt sich daran, wie sehr die wenigen Städte mit populärem Musicalangebot (wie Hamburg und Bochum) Musicalinteressierte von weither anlocken. 42 Reuband, „ Lebensstil “ , S. 239. 43 Reuband, „ Das Publikum der privaten und öffentlichen Theater. Soziale Merkmale, Interessenprofile und Formen kultureller Partizipation “ , in: Zeitschrift für Kulturmanagement 2 (2019), S. 53 - 90; ders, „ Entwicklungstendenzen und Struktureffekte kultureller Partizipation “ . 44 Und dabei würde man den Anteil für den Zwei-Jahres-Zeitraum - wie zuvor erwähnt - noch überschätzen. 45 In der Spielzeit 2016/ 17 wurden 219.207 Besuche am Standort des Theaters gezählt, 2017/ 18 waren es 209.843. Rechnet man die Besuche im Rahmen des Kinder- und Jugendtheaters ab, käme man für 2017/ 18 auf 193.526 Besuche, und zusätzlich abzüglich der sonstigen Veranstaltungen auf 189.269 Besuche. In der Spielzeit 2017/ 18 lauten die analogen Zahlen 185.788 und 180.565. Würde man bezogen auf die beiden letztgenannten Zahlen den Durchschnittswert berechnen, käme man umgerechnet auf die Bevölkerungszahl auf einen Quotienten von 1,15. Gegenüber dem Quotienten von 1950 ist dies nach wie vor ein niedrigerer Wert. Dies gilt auch dann, wenn man sonstige Veranstaltungen sowie Kinder- und Jugendtheater nicht subtrahieren und die Gesamtzahl nehmen würde. Der Quotient läge dann bei 1,33. 193 Wie sich das Sozialprofil des Theaterpublikums seit den 1950er Jahren verändert hat 46 Vgl. am Beispiel des Opernbesuchs Reuband, „ Die soziale Stellung der Opernbesucher “ , in: Stadtforschung und Statistik 1 (2007), S. 15 - 21, hier S. 19; ders. „ Distinktion an der Opernkasse “ . 47 Das Bildungsniveau der Frauen ist in der Zwischenzeit gestiegen, und Bildung begünstigt kulturelle Interessen, darunter auch den Theaterbesuch. 48 Vgl. Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann, Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1963 - 1973, Allensbach 1974, S. 151. 49 1950 steht einem Besucheranteil von 44 % bei den Befragten mit Abitur ein Anteil von 16 % bei den Befragten mit Volksschulbildung gegenüber. Dies entspricht einem Verhältnis von 2,8 zu 1. In den Umfragen von 2018 liegt der Anteil bei den Befragten mit Abitur bei 62 % und bei denen mit Volksschulbildung bei 34 %. Dies entspricht einem Verhältnis von 1,8 zu 1. 50 Reuband, Kulturelle Partizipation im Langzeitvergleich. Eine Analyse auf der Basis der AWA-Zeitreihen des Instituts für Demoskopie. Bericht für das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft/ Landeskulturbericht Nordrhein-Westfalen, Köln 2021, Tabellen 5 und 6, https: / / www.mkw.nrw/ sys tem/ files/ media/ document/ file/ prof._reu band_kulturelle_partizipation_im_langzeit vergleich_awa_.pdf [Zugriff am 26.03.2023]. Zum überproportionalen Rückgang der kulturellen Partizipation (am Beispiel des Opernbesuchs) unter den höher Gebildeten siehe auch Reuband, „ Die soziale Neustrukturierung des Opernpublikums “ , S. 225 ff. 51 Reuband, „ Kulturelle Partizipation in Deutschland “ , S. 390. 52 Inzwischen gilt dies auch für andere ausgewählte Theater wie das Theater Moeller Haus. 53 Dass bei Theatern heutzutage häufig andere, selbstreferentielle Bezugspunkte eine Rolle spielen und nicht das Publikum selbst im Fokus steht, findet sich als Kritik u. a. bei Mathias Hartmann, „ Das Versteck der Dilettanten. Nach Corona kommt das Publikum nicht mehr zurück ins Theater. Es hat eh nur gestört “ , in: DER SPIEGEL 49 (03.12.2022), S. 130 - 131. 54 Die Frage zur Zufriedenheit lautete (im Anschluss an die Frage, ob man im letzten Jahr im Landestheater gewesen sei): „ Und waren Sie im Großen und Ganzen mit dem Theater zufrieden, einigermaßen zufrieden oder unzufrieden? “ Unter den Befragten mit Volksschulbildung bekundeten 85 % „ zufrieden “ mit dem Theater gewesen zu sein. Unter denen mit mittlerer Bildung waren es 73 % und unter denen mit Abitur 56 %. Unter den 21 - 40-jährigen waren es 73 %, den 41 - 55jährigen 79 % und den über 55-jährigen 81 %. Unter den Frauen betrug der Anteil der „ Zufriedenen “ 72 %, unter den Männern 80 %. 55 Frageformulierung „ Was gefiel Ihnen im Einzelnen besonders? “ 56 Während die 21 - 29-jährigen in der Erhebung von 1954 zu 33 % angaben, im letzten Jahr im Theater gewesen zu sein, gaben dies unter den Befragten von 65 und älter nur 8 % an. Die 30 - 44-jährigen und die 45 - 64jährigen nahmen eine Zwischenstellung ein (eigene Auswertungen). Eine Publikation des Verfassers dazu und dem Wandel in der Folgezeit ist in Vorbereitung. 57 Vgl. Reuband, „ Theater in der Krise? “ 58 Eigene Analyse auf Basis einer Befragung in mehreren Aufführungen des Schauspielhauses Düsseldorf (insgesamt 1.020 Befragte). Zwischen den einheimischen und auswärtigen Besuchern gab es keine statistisch signifikanten Unterschiede in den Merkmalen Geschlecht, Alter und Bildung. Ähnlich die Verhältnisse beim Musiktheater vgl. Reuband, „ Der weite Weg zur Klassik. Der auswärtige Besucher von Opern und Konzerten - das unbekannte Wesen “ , in: das Orchester 7/ 8 (2019), S. 24. 59 Zum Rückgang kultureller Interessen (beschränkt auf die Zeit der 1990er Jahre und die Folgejahre) vgl. Reuband, „ Museumsbesuch “ , S. 37 ff. 60 Reuband, „ Soziale Transformationen des Kulturpublikums. Empirische Befunde und offene Fragen “ , in: Kulturpolitische Mitteilungen 157 (2017), S. 78 - 80, hier S. 79.
