Forum Modernes Theater
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0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0023
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2023
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BalmeEine un/mögliche Theaterwissenschaft: Tanz, Klang und Schreiben ver-...
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2023
Layla Zami
Wie können performative Künste Wissenschaft ver-ändern, Wahrnehmung ver-schieben, Normen ver-wirren, Erinnerung ver-körpern, Perspektiven ver-binden? Und können wir uns auf dem Ver-spüren als Grundlage einer Methode in der Theaterwissenschaft verlassen? In diesem für das Themenheft konzipierten Text sind Elemente der Disziplinen Performance Studies, Gender Studies und Postcolonial Studies mit Fragmenten aus dem Forschungstagebuch der Autorin verwoben. Layla Zami berichtet von ihrer Feldforschung und von der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher und musikalisch-performativer Begleitung der Tanzschaffenden Oxana Chi, der in diesem Text eine schriftliche Guest Appearance zukommt. Im Verschmelzen von kritischem Diskurs und PerformativeWriting, deutscher und englischer Sprache, Tanz und Klang, Erinnerungen aus Brooklyn und Berlin entsteht ein fragmentarisches, lebendiges Essay, das versucht, akademisches Schreiben und Denken poetisch zu verändern.
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Eine un/ mögliche Theaterwissenschaft: Tanz, Klang und Schreiben ver-. . . Layla Zami (Berlin) Wie können performative Künste Wissenschaft ver-ändern, Wahrnehmung ver-schieben, Normen ver-wirren, Erinnerung ver-körpern, Perspektiven ver-binden? Und können wir uns auf dem Ver-spüren als Grundlage einer Methode in der Theaterwissenschaft verlassen? In diesem für das Themenheft konzipierten Text sind Elemente der Disziplinen Performance Studies, Gender Studies und Postcolonial Studies mit Fragmenten aus dem Forschungstagebuch der Autorin verwoben. Layla Zami berichtet von ihrer Feldforschung und von der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher und musikalisch-performativer Begleitung der Tanzschaffenden Oxana Chi, der in diesem Text eine schriftliche Guest Appearance zukommt. Im Verschmelzen von kritischem Diskurs und Performative Writing, deutscher und englischer Sprache, Tanz und Klang, Erinnerungen aus Brooklyn und Berlin entsteht ein fragmentarisches, lebendiges Essay, das versucht, akademisches Schreiben und Denken poetisch zu verändern. -ver Präfix drückt [in Bildungen mit Substantiven oder Adjektiven oder Verben] aus, dass: 1. [. . .] sich eine Person oder Sache [im Laufe der Zeit] zu etwas [. . .] hin verändert 2. [. . .] eine Person oder Sache zu etwas gemacht, in einen bestimmten Zustand versetzt, in etwas umgesetzt wird 3. [. . .] eine Person oder Sache mit etwas versehen wird 4. [. . .] eine Sache durch etwas (ein Tun) beseitigt, verbraucht wird, nicht mehr besteht 5. [. . .] dass eine Person mit etwas ihre Zeit verbringt 6. [. . .] dass eine Person etwas falsch, verkehrt macht 7. [. . .] dass eine Sache durch etwas beeinträchtigt wird 1 Wissenschaft und Wissensschaffung ver-ändern? Mai 1968, Paris „ Soyez réalistes, demandez l ’ impossible “ - diese Aufforderung wurde im Mai 1968 auf die Wände verschiedener Pariser Universitäten gezeichnet, als provokativer Slogan, der zum politischen Engagement motivieren sollte. Die Redewendung lässt sich aus meiner französischen Muttersprache wie folgt ins Deutsche übersetzen: „ Seid realistisch, fordert das Unmögliche “ . Die widersprüchliche Satzkonstruktion mit Ironie bringt sicherlich zum Schmunzeln. Jedoch liegt die Stärke des paradoxen Wortlauts darin, dass sie das emanzipatorische Potential eines utopischen Verhältnisses zur Gesellschaft ausdrückt. Die Formulierung erwirkt eine affektive Reaktion, sei es Humor, Überraschung, Rätseln . . . - eine Denkpause. Mündlich ausgesprochen, kann sie zur Desorientierung führen, dadurch, dass Hörer*innen meinen, es akustisch nicht verstanden zu haben. Neben der affektiven Wirkung liegt der Redewendung die Vor- Forum Modernes Theater, 34/ 2, 239 - 252. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0023 stellung inne, dass ein politisches Engagement für soziale Veränderung nur sinnvoll werden kann, wenn es mit dem Umdenken und Umwerfen bestehender Möglichkeiten einhergeht; sprich, wenn mensch sich nicht auf das beschränkt, was von etablierten Machtverhältnissen als möglich definiert wird. Das „ Unmögliche “ deutet hier auf das hin, was in bestehenden soziopolitischen Konstellationen (noch) nicht denk- oder machbar ist, hier jedoch als Grundlage für institutionelle Transformation benannt wird. In den 1960er Jahren bebten und blühten auch jenseits des Atlantiks soziale Bewegungen wie die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Während Menschen wie Angela Davis und Martin Luther King sich aktivistisch einsetzten und mit ihren Stimmen im metaphorischen wie wortwörtlichen Sinn eine breite Resonanz erreichten, spielten Darstellende Künste eine wesentliche Rolle in den Forderungen nach einer Gleichberechtigung für Schwarze Menschen. Die Musikerin Nina Simone zum Beispiel nutzte die Bühne als Plattform, um innerhalb und rund um ihre Darbietungen Unterdrückung zu denunzieren und Freiheitspotentiale zu ersinnen. In ihrem legendären Song I Wish I Knew How It Would Feel To Be Free erforscht sie die un/ mögliche Wahrnehmung eines Freiheitsgefühls, eine Spannung, die u. a. von den Performance Scholars Daphne Brooks, Malik Gaines und Joshua Chambers-Leston besprochen wurde. 2 Malik Gaines verwendet sogar den Ausdruck „ Geschichte des Unmöglichen. “ 3 Laut Gaines nutz(t)en Simone und andere Black Diasporic Artists (hier geht es auch um afrodeutsche und ghanaische Künstler*innen) soziale Differenz als „ effective position from which to perform “ 4 . Performance wird hier zum Spannungsfeld zwischen dem Unmöglichen der Utopie und der Möglichkeit, notwendige gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten. September 1979, New York Der Fokus auf Differenz ist ein Erbe der Frauenbewegung, die sich parallel, teilweise intersektional, teilweise im Konflikt mit anderen westlichen Protestbewegungen in den 1960er und 1970er Jahren formierte. Ich denke hier an eine Leitfigur des Schwarzen Feminismus im US-Kontext, an die Schriftstellerin Audre Lorde, die später eng mit afrodeutschen Frauen wie May Ayim zusammenarbeitete. Als im September 1979 US-amerikanische Feminist*innen das 30. Jubiläum von Simone de Beauvoirs Buch Le Deuxième Sexe mit einer Konferenz würdigten, wurde Lorde eingeladen, bei dem Panel „ The Personal and The Political “ mitzuwirken, allerdings nur als „ commentator “ . Diese zugewiesene Besetzung konnte sie verändern, indem sie eine kurze, intensive Rede mit dem Titel „ The Master ’ s Tools Will Never Dismantle The Master ’ s House “ hielt. Mit dieser Rede intervenierte Lorde in einen feministischen Kontext, welcher damals noch stark von der Trennung zwischen weißen und Schwarzen Frauen gekennzeichnet war. Wichtig ist zu betonen, dass sie sich nicht darauf beschränkte, Ausgrenzung zu benennen, sondern auch zur Anerkennung von Differenz als Empowerment aufrief. Der Titel wurde selbst zu einem Leitspruch, der bis heute vielfach aufgegriffen wird - auch von Menschen, die die Rede selbst weder gehört noch gelesen haben. Interessanterweise benennt Lorde in ihrer Rede nicht explizit, welche Tools (Werkzeuge) genau gemeint sind, darüber lässt sich also spekulieren. Somit lässt sie Raum für eine produktive eigene Interpretation, je nach Kontext. Vielleicht hallen ihre Worte gerade deshalb bis in die Zukunft - unsere Gegenwart - nach. „ To dismantle “ bedeutet etwas abzubauen, auseinanderzubauen, abzumontieren, zu dekonstruieren. Das Präfix „ dis “ entspricht hier dem deutschen Präfix „ ver “ . Es findet sich in Verben wieder wie „ to disrupt “ 240 Layla Zami (stören, unterbrechen, intervenieren) oder „ to dispossess “ (ent_besitzen, loslösen) wie bei Julietta Singh. In ihrem Buch Unthinking Mastery fragt die Autorin nach der (Un) möglichkeit, einen Zustand zu erreichen, welcher von Herrschaftsverhältnissen losgelöst ist: „ to become, ourselves, hopefully dispossessed of mastery? “ 5 In dieser dekolonialen Selbstfindung- und suche, lädt das Fragezeichen zu einer Atempause ein. Wird es überhaupt gelingen? Hoffentlich, „ hopefully “ . . . Es erfordert Hoffnung, Mut, Glauben. Utopie? Un-thinking, also ver-lernen, umdenken, umlenken, um individuell und kollektiv Veränderung einzuleiten ( „ hoffentlich “ ). Für Singh kann dies durch eine Auseinandersetzung mit dem Dekolonialen und einer Dekolonisierung geschehen, welche wiederum über dekonstruktive, feministische und queere Lektüren und Lesarten 6 zu vollziehen sei. „ Dis “ erinnert auch an Dissonanz, zum Beispiel im semantischen Feld der Musik. Die Akkorde Sekunde oder Septime werden in einem westlich ‚ klassischen ‘ Musikverständnis als unstimmig bzw. auflösungsbedürftig wahrgenommen und als ‚ dissonant ‘ beschrieben, während die Neue Musik sie gerade für ihren mit Spannung assoziierten Klang schätzt. Vielleicht sind dekoloniale, feministische oder queere Prozesse auf Dissonanz angewiesen, sie können Raum für Dissonanz als Prozess des ‚ dismantling ‘ schaffen, und wie auch in der Musik kann die durch Dissonanz erzeugte Spannung aufgelöst werden. Wie klang die Konferenz im September 1979? Mit welchen Dissonanzen gingen die Teilnehmer*innen um? Ich höre mir die Audio-Aufnahme des Panels an. Es ist anstrengend. Es knirscht, Störgeräusche sind nicht auszublenden. . . Die laute Raumatmosphäre übertönt die Aufnahme, erschwert das Verständnis. Ich denke, es klingt wie die Dominanz von hegemonialen Diskursen im Alltag: Sie sind laut, und es ist unmöglich, sie abzuschalten! Alles, was davor, dahinter, daneben gesprochen und gemacht wird, kann nur im Verhältnis zu diesen wahrgenommen werden. Trotzdem lassen sich interessante Kommentare von unterschiedlichen Frauen, deren Namen ich nicht immer klar verstehe, hören. Eine Frau macht eine Bemerkung zur Intersektionalität im Hinblick auf die Unterdrückung der Frauen in westlichen Gesellschaften und die koloniale Unterdrückung. Sie sagt, sie bereue den Bruch zwischen den Kämpfen der US-amerikanischen Feminist*innen und ihren Weggefährt*innen aus anderen Ländern und nimmt dabei Bezug auf Vietnam: This is not understanding the integral connection that exists between the institutions that oppress us [. . .] and the institutions that oppress colonial [. . .] and that [. . .] causes the rupture that has brought [. . .] between the American women ’ s movement and the foreign women ’ s movement. 7 Die Aufnahme klingt so, als sei das Mikrofon mitten im Raum. So entsteht eine akustische Distanz zu den Sprecher*innen, die nicht gut zu verstehen sind, während andere Geräusche, wahrscheinlich von Frauen in unmittelbarer Nähe des Mikrofons, präsent sind. Sie räuspern sich, sie husten oder lachen gelegentlich. Obwohl ich merke, wie ich mich nach einer besseren Aufnahmequalität sehne, tauche ich paradoxerweise in die Konferenz ein, es entsteht ein Gefühl von ‚ intimacy ‘ , und ich habe beinahe das Gefühl, selbst unter den Frauen zu sitzen. Die mangelhafte Audioqualität erzeugt eine vermeintliche Authentizität und erinnert (im übertragenen Sinne) an die Komplexität des Kontextes. Ja, es ist schwer, ins Gespräch zu kommen, sich zu verständigen, anderen Perspektiven zuzuhören, aus der Differenz heraus gemeinsam Veränderung zu erreichen. Es gibt eine Stelle, an der ein Lachen etwas ‚ out-of-place ‘ (verstellt) klingt, denn es ist nicht auszumachen, wodurch es ausgelöst wurde. Wie wichtig Lachen sein kann, in 241 Eine un/ mögliche Theaterwissenschaft: Tanz, Klang und Schreiben ver-. . . solchen ernsten Kontexten, mit solchen schwierigen Themen! Können wir über unsere Differenzen hinweg gemeinsam lachen? In my diary, I wonder: can laughter become an effective affective counterstrategy to dismantle and disrupt mastery, colonialism, and other forms of oppression? Wahrnehmung ver-schieben und hegemoniale Normen ver-wirren August 2022, Chicago Die Künstlerin Lola Ayisha Ogbara aus Chicago setzte sich in der Arbeit Silent Cry/ Laughter 8 mit dem Lachen-Weinen der legendären Autorin Maya Angelou auseinander. In ihrer Videokreation, die auch als Installation präsentiert wurde, entzieht sich der Sound. Ich sehe Maya Angelou, die lacht und weint, sich von der Kamera wegdreht, und ich höre. . . Stille. Die Abwesenheit des Klangs ihres Lachens wirkt erst verwirrend, da der visuelle Eindruck in mir sofort die Erwartung eines begleitenden Klangs erweckt. Diese phänomenologische Verschiebung, die Stille, die Ogbara in dem Video erzeugt, fühlt sich jedoch nicht wie ein Verschweigen an, sondern wie ein Verschieben der Erwartung an Sprache und Sound. Die Stille fühlt sich widerständig an, im Sinne von Nikita Dhawan, die bezugnehmend auf Gayatri Spivak fragt: When is speech politically enabling, and when does it become repressive? Can silence be subversive? If so, when is silence a performance of power and/ or violence? 9 Die Stille in dem Video ist subversiv. Sie vermindert keineswegs die Stärke von Angelous Ausdruck. Sie öffnet eher Raum für eine andere, verschobene Wahrnehmung. Ich fühle, wie ich aufmerksam werde, und verspüre, wie tief ihr Lachen sein mag. Ich erinnere mich an Angelous Worte: „ My great hope is to laugh as much as I cry. “ Da sind wir wieder bei Hoffnung und Un/ Möglichkeiten: Hoffnung als politische Praxis, als Positionierung, die in der Gegenwart eine Brücke spannt zwischen vergangenem Trauma und Zukunftsentwurf. Abb. 1: Yell, Chicago, August 2022, Foto: Layla Zami. Die Arbeit Ogbaras lernte ich während meiner Feldforschung in Chicago im Sommer 2022 kennen. Ich erinnere mich an die forschende Suche durch die Stadt, Field Recordings, Ausstellungen, Veranstaltungen, Bibliotheken, Internet-Recherche. . . Viele Klänge und auch Stille. Inmitten des Verkehrslärms pausierte ich einmal plötzlich, als ich Worte auf dem Boden bemerkte, künstlerische Interventionen im urbanen Raum, in Form von weißen Buchstaben inmitten eines blauen Zebrastreifens. Ich werde adressiert, aufgefordert: „ Yell “ . . . „ Listen “ . Ohne Sound sprechen mich diese geschriebenen Worte an, laden mich ein, anzuhalten, zuzuhören, zu hinterfragen. Einen Tag zuvor hatte ich bereits andere Markierungen auf dem Boden wahrgenommen, die im Rahmen der #YearOfChicagoMusic historische Orte der Schwarzen Musikszene signalisieren und mittels QR-Code mit einer Webseite für weitere Informationen verlinkt sind. In Chicago nahm ich die Geschichte und Gegenwart der Stadt durch Spaziergänge, 242 Layla Zami Veranstaltungen und Ausstellungen akustisch wahr. Am Museum of Modern Art arbeitet Tara Willis, Tänzerin, Tanzwissenschaftlerin und Kuratorin, die ich bereits 2013 in New York kennenlernte. Sie lädt meine Frau Oxana Chi und mich ein, am 27. August eine Improvisationsreihe bei Elastic Arts zu besuchen. Freedom From and Freedom To ist ein programmatischer Titel, der besagt, Freedom ist nicht nur als Befreiung von etwas (Vergangenheit, Unterdrückung. . .) zu denken, sondern auch zukunftsorientiert; eine Freiheit, die in einen neuen Zustand lenkt sowie auch die Freiheit, etwas zu machen. Die Künstlerin Mankwe Ndosi eröffnet den Abend mit einer improvisierten Soundperformance gemeinsam mit Jayve Montgomery. Ihre Stimme bewegt sich im leisen Register, so dass wir aufgefordert sind, besonders aufmerksam zuzuhören. Sie geht experimentell mit dem Kalimba-Instrument um, singt: „ World turned upside down, what do we do, what do we do, what do we do. . . “ Abb. 2: Listen, Chicago, August 2022, Foto: Layla Zami. Plötzlich verliert das Mikrofon das Gleichgewicht und ruht auf Ihren Schultern. Der Kurator des Abends möchte ihr helfen, das Mikro wieder hinzustellen. Überraschenderweise verwehrt Ndosi die Hilfe mit der Aussage: „ It ’ s meant to be like that. “ Mit der verwirrenden Mikrofon-Haltung wirkt das Wortspiel Freedom From and Freedom To desorientierend, denn es klingt grammatisch verschoben. Desorientierung als Verwirrung, als ein Verlieren von einengenden Normen, also als Befreiung? Desorientierung, ‚ disorientation ‘ , ist für die ehemalige Professorin und mittlerweile freiberufliche Akademikerin und Aktivistin Sara Ahmed eine „ lebenswichtige “ 10 Erfahrung, die in ihrer queeren Phänomenologie sinnstiftend und produktiv sein kann. Vielleicht kann Desorientierung sowohl subversive Haltung als auch Transgression der Linie im Un/ Möglichen meinen, eine Bewegung durch die Welt, die das, was gesellschaftliche Normen für unmöglich halten, möglich macht, sogar danach strebt, die Grenzen des Möglichen zu verschieben und das Unmögliche möglich werden zu lassen. Welche Un/ Möglichkeiten werden eröffnet durch das Verändern unseres Verständnisses davon, wie Wissen gebildet wird? Wie können desorientierende Erfahrungen (zumindest in Bezug auf westliche, kolonial geprägte Normen) mittels eines Ver-änderns, Ver-schiebens, Ver-bindens dazu führen, dass wir wiederum Orientierung verspüren, auf dem Weg zu Zielen wie der Freiheit für die Schwarze Diaspora, oder „ Undoing Mastery “ in der Theaterwissenschaft? Das Argument von Ahmed, dass Desorientierung gerade deshalb so wertvoll ist, weil es die Abwesenheit von Orientierung spürbar werden lässt, kenne ich zu gut. Es ist kein Verlust oder ein Verlorengehen, eher ein Loslassen oder Loslösen von bestimmten Grenzen, die unseren Horizont klein halten. In meinem Leben habe ich so oft meine Koffer gepackt, lebte in Paris, Berlin, Kapstadt, Douala, Brooklyn. Sicherlich gab es gelegentlich das Gefühl, die Orientierung in Zeit und Raum neu justieren zu müssen. Der Körper, die Psyche - sie mussten schnell lernen, sich woanders anders zu bewegen. Diese Beweglichkeit hat 243 Eine un/ mögliche Theaterwissenschaft: Tanz, Klang und Schreiben ver-. . . mich gelehrt, dass Veränderung möglich ist, dass Grenzen verschoben werden können, um Erfahrungen des Verbindens, Verkörperns und Verspürens mit Mobilität wahrzunehmen, sowohl als Künstlerin als auch als Wissenschaftlerin. Herbst 2022, Berlin, diary excerpt Bye Brooklyn, hi (again) Berlin. I just moved back to the city where I was granted an opportunity as a Postdoctoral Researcher in Performance Studies at the Collaborative Research Center on Intervening Arts, and work at the Institut für Theaterwissenschaft at Freie Universität. The autumn season and its expansive expression of what it means to be in transition feels appropriate for a change of setting. The multisensorial experience of transformation, through color, temperature and light changes feels particularly multilayered at this time of the year. Walking home from work, as the golden leaves come, coil, float and fall, gently and naturally, I listen to Jill Scott ’ s Song ‘ Golden ’ . First, on Apple Music, a „ clean “ edit. I find myself craving for the sonorities of live interpretation and do a YouTube search. I find Jill Scott in 2019, singing the song live in my hometown Paris. Despite all that gets lost in the mediocre sound quality, I now perceive more of an entity, the live recording expands and deepens my listening experience. I am walking home from the office, thinking of quiet (as) interventions 11 , Black Feminist intentions and invitations to live „ life like it ’ s golden, golden “ . The repetition evokes a mantra, a routine heard on the road. In the middle of the track, the singer interrupts the singing „ flow “ to speak. „ Since it ’ s my song, and my freedom, I ’ m gonna exercise that freedom, and take it now! “ 12 Following this utterance, she enacts freedom by diverting from the song ’ s score. Scott abruptly begins to distort the singing, in an acoustic interruption that makes tangible how freedom and its experience or the path towards it is not smooth, not linear, but full of ups and downs which materialize in her jumps across the tones. Meanwhile the band slows down the pace, inciting me to rest and come to stillness. In dem Song geht es Jill Scott darum, sich „ ihre Freiheit zu nehmen “ . Sie nimmt metaphorisch ihre Freiheit und trägt sie un/ möglicherweise an ihrem Nacken, mit ins Auto. . . Im Refrain lebt sie ihr Leben, als sei es aus Gold ( „ living my life like it ’ s golden “ ). Alles hängt an dem „ like “ . Das goldene Leben ist keine Realität, es ist. . . eine Vorstellung, eine Einstellung, die performativ das Unmögliche möglich macht. In diesen akustischen Verschiebungen der als Schwarze Frau positionierten Musikerin Jill Scott höre ich ein Echo von Daphne Brooks ‘ sinnlich geschriebenen Liner Notes for the Revolution. Hier bezeichnet sie historische und gegenwärtige Musikproduktionen als „ affektive Technologien “ , die „ mutige Formen künstlerischen Überlebens “ 13 fördern. Wenn wir dies ernst nehmen, bedeutet es, dass diese Klänge Wissen vermitteln, welches mit verspürender Haltung wahrgenommen werden soll. Die Theaterwissenschaftlerin Brooks hebt hervor, wie Schwarze Musiker*innen und Schwarze Feminist*innen Sounds, Strategien und Gedanken produzieren, die eine Verschiebung und Verwirrung der hegemonialen Wahrnehmungsmuster und Gesellschaftssysteme einleiten können. Diese Produktionen können dazu beitragen, so Brooks, unsere kognitive und affektive Selbstwahrnehmung im Verhältnis zu unserem Umfeld zu verändern: Black women musicians and Black feminist thinkers are, it would seem to me, the progenitors of sonic forms, aesthetics, and strategies, as well as ideas about the sonic that have destabilized and reordered our sensorial and expressive lives, and such a revelation 244 Layla Zami demands that we account for how their imaginative and analytic practices have made massive contributions to the ways in which we cognitively and affectively make sense of our place in the everyday world and how we move through it. 14 Solche Strategien nutzen Imagination als Kompass, um sich entlang der Un/ Möglichkeiten, mit denen Schwarze Feminist*innen konfrontiert sind und auf die sie hinarbeiten, zu bewegen. Im Herbst 2022, zu der Zeit, in der ich diesen Tagebucheintrag zu Scotts Golden verfasste, war Romi Morrison als Mercator-Fellow zu Gast bei unserem Sonderforschungsbereich „ Intervenierende Künste “ an der FU Berlin. Morrison ist ein*e Künstler*in und Forscher*in aus den USA, welche*r sich mit dem Erbe des Schwarzen Feminismus in Form von Klangkunst auseinandersetzt. Am 29. November 2022 waren Romi Morrison und ich in die Radiosendung The Breakfast Show der nigerianisch-deutschen Künstler*in Mokeyanju eingeladen. 15 Am Ende der Sendung teilte Morrison einen Klangausschnitt der Arbeit Noticing the Preconditions for. Hier arbeitete Morrison mit der Audio-Aufnahme eines Interviews mit June Jordan von 1993. Wir hören Jordan sprechen: Well [Lachen], what ’ s it all about, all the fighting? What are we fighting for? I know what I ’ m fighting for. An increase in the possibilities of tenderness. . . 16 Jordan beantwortet die Frage nach ihrer politischen Zielsetzung mit einem etwas unerwarteten Begriff: Zärtlichkeit. Somit verschiebt Jordan den Schwerpunkt von soziopolitischen Thematiken zu einer affektiven Semantik, oder verbindet beides miteinander. Lachend verankert sie ihr Engagement auf einer Gefühlsebene. Nuanciert spricht sie nicht einfach von „ Zärtlichkeit “ , sondern von einem Wunsch nach gesteigerten Möglichkeiten für/ nach Zärtlichkeit. Die Zielsetzung kann keine Einkaufsliste sein, der Kampf soll nicht Gegenstände auf den feministischen Tisch bringen. Was (erst mal) erreicht werden muss/ kann, sind Möglichkeiten. Auch das Lachen interpretiere ich als einen Umgang mit Un/ Möglichkeit. Dieses Lachen, welches Morrison besonders interessierte, wird in dem Klangwerk Noticing the Preconditions for wiederholt genutzt. Auch die poetische Aussage „ an increase in the possibilities of tenderness “ wird akustisch bearbeitet, mit Echo und Reverb-Effekten hallt sie nach, wird verstärkt. Das Spielen mit dem Stereo-Klang zwischen linkem und rechtem Ohr verleiht der Stimme einen Gestus des Dialogischen, als würde June Jordan ein Gespräch mit sich selbst führen. Worte, Silben vermehren sich. Fühlend füllen die Klänge das Tonstudio des Refuge Worldwide-Radio mit Möglichkeit, an diesem Novembertag in Berlin, wo wir uns als Dreiecks-Konstellation afro-amerikanischer, karibischer und afrodeutscher diasporischer Menschen befinden. Wir drei fangen an zu lachen. Wie bei der Chicago Improvisationsreihe Freedom From and Freedom To ist Morrisons Titel offen. Noticing the Preconditions for - Für Möglichkeit? For Multiplicity? In my diary, I think: what comes next remains open, and must be defined and lived by and for ourselves. Perspektiven ver-binden und Erinnerung ver-körpern Multiplizität als Schwarze diasporische Ontologie und das Recht auf selbstbestimmtes Sprechen erforscht der afroamerikanische Poet und Performance Scholar Fred Moten unter anderem in seinem dichten Werk Black and Blur. Consent to not be a single being. Den Untertitel borgte er sich von einer Aussage, die der Dichter und Philosoph 245 Eine un/ mögliche Theaterwissenschaft: Tanz, Klang und Schreiben ver-. . . Edouard Glissant aus Martinique während einer transatlantischen Reise an Bord des Bootes Queen Mary machte. 17 Im fünften Kapitel dieses Buches, in dem es auch um ‚ fugitive narratives ‘ (z. B. Harriet Jacobs) geht, wirft Moten Fragen zu einem intervenierenden Erzählen auf, welches jenseits von Binarität verstanden wird. Bezugnehmend auf Harryette Mullens Runaway Tongue und Daphne Brooks Dissenting Body bespricht Moten die Kraft von Zungen und Körpern, abweichend von hegemonialen Erwartungen Gegengeschichten zu entwerfen und zu äußern. Hier wird die Frage eröffnet, wie das Unterbrechen von Narrativen und das verschachtelte Storytelling eine Erzählung selbst un/ möglich machen kann: What is it to be thrown into the story of another ’ s development; and to be thrown into that story as both an interruption of it and as its condition of possibility; and to have that interruption be understood as both an ordering and a disordering movement? And what if one has something like one ’ s own story to tell? 18 Zu sagen, dass Unterbrechung zeitgleich Entstehungsmöglichkeit, gar Voraussetzung für das Erzählen sein kann, erlaubt zu konzipieren, dass Mögliches und Unmögliches verbunden werden, dass das Dazwischenkommen ( „ interruption “ ) auch generativ sein kann - und ähnlich wie bei Sara Ahmed - , dass das Empfinden von Verlust (von Orientierung, die Haltung gibt) zugleich ein gestärktes Verständnis von Orientierung geben kann. An dieser Stelle möchte ich die Leser*innenschaft einladen, sich auf den Versuch einzulassen, einer anderen Erzählung und Erzählform zu begegnen. So möchte ich das Wort an die Tänzerin und Choreographin Oxana Chi übergeben, die ich seit 2010 künstlerisch und seit 2013 akademisch begleite, und auf deren Einfluss auf meine Forschung ich noch zurückkommen werde. Ich füge einen Ausschnitt eines (noch) unveröffentlichten Manuskripts zu einer ihrer Tanzreisen ein. Wie wirkt diese Kurzgeschichte auf Sie/ Dich/ Euch? Wie verbindet sich Chis Stimme mit meiner? Wie verkörpert die Tänzerinnensprache einen anderen Bezug zu Erinnerung und Erzählung? Welche Un/ Möglichkeiten kommen hier zu Wort? Kerala, Indien, 18. 12. 2016 Wir besuchen das Haus der Musiklehrerin, gelb liegt es im Schatten hinter Mauern versteckt. Ihre Kinder sind unsere Freunde, wirkliche Freunde ohne falsches Spiel und Lügen. Offen bis auf den Grund ihrer starken Seelen begrüßen sie uns mit einem strahlenden Lachen. Wir alle musizieren, tanzen und lachen. Die älteren Frauen in Saris gehüllt bringen das Feuer, getränkt mit magischen Kräutern, die Energie und Wohlbefinden schenken und alle Mücken vertreiben. Ich tanze - , improvisiere zu Saxophon, Tabla, Kalimba, indischer Geige, Händeklatschen und Gesang. Auch die Stille und ein dichter Rauch leiten neue Ragas (Stimmungen) im Tanz ein. Sich immer wieder von Neuem einen Schritt, eine Bewegung weiter zu trauen, ohne Angst mit dem Blick zum Boden, nach rechts und links gewandt, geradeaus schauend, wie zurückgewandt und in den Wolken, staunend sie betrachtend, fort tanzen, um zu lernen, was die tiefere Bedeutung des Tanzes ist. Ich reise seit einer Weile viele Jahre bin ich unterwegs Mein Körper bewegt sich in so vielen unterschiedlichen Kulturen und mein Geist ist immer dabei. Hundertprozentig werden Millionen Eindrücke absorbiert, 246 Layla Zami um sie in Körpererinnerungen für immer zu speichern. Mein Körper ist eines der größten und wertvollsten Archive unserer Zeit. Ich bin mir durchaus darüber bewusst, dass ich ein sehr einzigartiges Leben lebe, dass alle Spielfilme, TV-Sendungen, Romane, Märchen- und Geschichten-Erzählerinnen, so informativ und spannend sie auch sein mögen, nicht im Geringsten mit meiner Lebensgeschichte konkurrieren können. Ihnen fehlt meistens, was ich Lebendigkeit nennen möchte. Dazu kommt die Langeweile, erzeugt durch Zensur und Kontrolle, diese Werttabellen, in die ich mich niemals pressen lassen würde. Wie kann eine zensierte Künstlerin ein Original hervorbringen, wie kann ein Mensch im Allgemeinen ein abenteuerliches Leben genießen, ohne sich in Schablonen, Systeme, Gefängnisse einsperren zu lassen? 19 Diese Erinnerungen aus einer Indienreise lassen für mich einen Zeitraum wahr werden, in dem Tanz und Klang miteinander verbunden sind. Und da ist die Schlussfrage zu Grenzen, die „ Schablonen, Systeme, Gefängnisse “ der Herrschaftssysteme. Der Fluss ihrer poetischen Erzählung, die wie ein Reisetagebuch klingt, mündet in eine starke politische Aussage, hier als Frage formuliert. Es geht wieder um die Un/ Möglichkeit als Künstlerin, als Mensch. . . sich von ‚ Mastery ‘ zu befreien bzw. sich jenseits von Mastery zu bewegen. Diese Frage beantwortet Oxana Chi u. a. in ihrem Tanzstück I Step On Air auf körperliche Weise. Das Stück, welches an die ghanaisch-deutsche Poetin und Aktivistin May Ayim (1960 - 1996) erinnert, wurde von Chi konzipiert und choreographiert und so inszeniert, dass ich mit Schauspiel, Musik und Sounds mitwirkte. Am Ende der ersten Szene bildet die Tänzerin um sich herum einen Kreis aus roten Linsen, welcher ihre Position begrenzt. In stiller Ruhe findet sie jedoch den Ausweg, tastet sich auf Fußspitzen an den Kreis heran und schafft es, herauszutreten. Als wir das Stück 2012 in Berlin uraufführten, kam ein Mann auf uns zu und erzählte, er sei mit Ayim befreundet gewesen, und sei von dem Stück stark berührt worden. Er sagte zu Oxana, diese Szene hätte er so interpretiert, dass jemand (in dem Fall ich) ihr ein Geschenk mache (die Linsen), mit denen sie sich selbst jedoch ein Gefängnis baue, und dann doch den Ausweg finde. Sparsam mit Worten ließ sein Kommentar spüren, dass er eine persönliche Geschichte mit seiner Interpretation verband. Abb. 3: Oxana Chi in I Step On Air; Dortmund Goes Black Festival, Mai 2022, Schauspiel Dortmund, Foto: Adriano Vannini. 247 Eine un/ mögliche Theaterwissenschaft: Tanz, Klang und Schreiben ver-. . . Die Inszenierung I Step On Air beginnt und endet mit einem Gedicht von May Ayim, welches Oxana Chi ausgesucht hat, um ihre Tanzerzählung einzurahmen. Ich hatte die Aufgabe, das Gedicht jeweils am Anfang und am Ende zu performen, und suchte dafür einen realen Bilderrahmen aus, mit dem ich im Dada-Stil spiele: Mal wird er verschoben, verrutscht nach unten, seine Funktion wird verändert. Metaphorisch gesehen kann die Idee des Rahmens mit den Worten der nigerianischen Genderwissenschaftlerin Oyèrónk ẹ ́ Oy ě wùmí assoziiert werden, die in The Invention of Women schreibt: When we are busy arguing about the questions that appear within a certain frame, the frame itself becomes invisible, we become enframed within it. 20 In I Step On Air treten sowohl Oxana Chi tänzerisch als auch ich schauspielerisch und musikalisch gern mal ‚ aus dem Rahmen ‘ und machen ihn dadurch überhaupt erst sicht- und hörbar. So werden Perspektiven von marginalisierten Subjekten, die zuvor nicht wahrgenommen werden konnten, ins Zentrum gerückt. Die sogenannten Minorities werden als World Majority wieder präsent. Auch in der Theaterwissenschaft müssen wir uns fragen, welche Rahmen unsere Forschung begrenzen, und wie wir den Rahmen bewegen können, um die Definition von dem, was un/ möglich ist, zu aktualisieren. Beispielsweise können wir uns fragen, inwiefern unsere Forschung gerahmt ist durch die Trennung der Disziplinen (Theater/ Tanz/ Musik), die Abwesenheit von bestimmten Positionierungen im ‚ Kanon ‘ , sowie auch die überwiegende Rolle des Sehens als Sinneswahrnehmung. Dieser Artikel interveniert in diesen Festlegungen, indem er epistemologisch „ aus dem Rahmen “ herauswandert und Zwischenräume erkundet. In Oxana Chis Repertoire, genauer im Tanzstück Durch Gärten fand ich die Inspiration für meine Forschung an der Schnittstelle zwischen Performance Studies und Memory Studies. Das Stück zur Erinnerung an die chinesisch-jüdisch-russische Tatjana Barbakoff hatte ich 2009 in der Werkstatt der Kulturen, Berlin, miterlebt. Als Person mit Schwarzem und jüdischem kulturellen Erbe bemerkte ich, dass es eher ungewöhnlich war, die Perspektive einer afrodeutschen Tänzerin auf eine Holocaust-Biografie zu sehen, zu hören und zu spüren. Oxana Chi bereichert die Tradierung von Wissen um Tatjana Barbakoff aus feministischer Perspektive. So wie Chi die vielschichtige Geschichte der Entstehung von Durch Gärten mit persönlichen Essays, E-Mails und Fotos in ihrer Broschüre Tanzende Erinnerungen 21 erzählt, so ist auch ihr Tanz eine künstlerische Collage, die viele Sinnesebenen anspricht, um hegemoniale Geschichtsschreibung zu dekonstruieren und dem Publikum die Möglichkeit zu bieten, neue Geschichten zu rekonstruieren, in denen Tatjana Barbakoff und viele andere Menschen sichtbar gemacht und gehalten werden. Feministische Interventionen in Kunst und Wissenschaft regen oft Bewusstsein für gesellschaftliche Probleme an. Oxana Chi geht noch einen Schritt weiter, indem sie uns dazu einlädt, Kunst und Wissenschaft nicht mehr getrennt voneinander zu denken. So wird in ihrem Repertoire spürbar, wie Tanz intervenierend Wissen schafft. Wie Tanz Wissen schafft, habe ich versucht, in meiner Analyse von Oxana Chis Erinnerungswerk Durch Gärten spürbar zu machen. Durch meine multiple Positionierung als Akademikerin, die auch künstlerisch mit der Tänzerin kooperiert, konnte ich Perspektiven verbinden: meine Rolle als interdisziplinäre Künstlerin, die als Musikerin, Spoken Words-Performerin und Schauspielerin im Dialog mit der Choreografie auf der Bühne unterwegs ist und meine Rolle als beobachtende Teilnehmerin, die über den Tanz schreibt. Später habe ich die Forschung 248 Layla Zami erweitert, indem ich neben Oxana Chis Performances sechs weiteren Choreograf*innen begegnet bin. 22 Anhand einer interdisziplinären Forschungsmethode, in der Tanzwissenschaft, Memory Studies, Gender Studies, Black Studies und Literatur miteinander verwoben sind, habe ich die Verkörperung von Erinnerung im Bühnentanz als ‚ perforMemory ‘ konzeptualisiert. In Bezug auf Zeitraum hat mich besonders interessiert, wie Bewegung auf der Bühne unsere westliche, lineare Zeitwahrnehmung verändern und neue, andere Zeitgefühle verkörpern kann. Die Un/ Möglichkeit, Zeit zu verschieben, ist ein Bestandteil von perforMemory. By stretching the definitions, functions and motions of time, the dancer-choreographers resist the very temporalities that simplify, silence or suppress their stories. They perforMemory a present presence, and generate a spacetime made of multiple textures, shapes, and paces. Through dance, they (re) invent how the moving body may metaphorically and materially intervene into and transform postmemorial discourses and practices, physically, epistemologically, ontologically, and phenomenologically. 23 In der Tanz- und Theaterwissenschaft bedeutet ‚ Undoing Mastery ‘ für mich, die Un/ Möglickeit einer epistemologischen Dekolonisierung. Es bedeutet, die Grenzziehung zwischen Disziplinen, Geographien und historischen Zeitperioden zu verschieben und zu verwirren. Mit dieser Motivation habe ich in meinem Buch Contemporary PerforMemory bewusst den Radius breit gezeichnet, um Perspektiven zu verbinden. Die Protagonist*innen meiner Recherche sind unterschiedlich positioniert, in der Schwarzen, asiatischen, jüdischen und arabischen Diaspora. Die transnationale Ausrichtung fokussiert Performance-Aufführungen, die alle im 21. Jahrhundert in Frankreich, Deutschland, Martinique, Taiwan, Palästina und in den USA verortet sind. Die Zielsetzung bleibt weiterhin: vielfältige, multiple Perspektiven, Sicht- und Hörweisen zu verbinden, und die Verkörperung von Erinnerung im und durch Tanz, Klang, Performance und Theater zu ver-spüren. Ausklang: für das Verspüren „ Ich träume weiter, vom subversiven und nachhaltigen Wirken von Worten, die sich verbreiten wie ein Flüstern. “ 24 Das schrieb die Autorin Sandra Gugic´, als sie aus einem unerwarteten Heiserkeitszustand heraus die Inspiration für ein poetisches und politisches Essay zum Thema Flüstern schöpfte. So ähnlich verhält es sich mit dem Wunsch nach Transformation in der Theaterwissenschaft. Ausgehend von der Feststellung eines Mangels kann eine Erneuerung stattfinden, die das Gesamte bereichert. Seit einiger Zeit haben sich in Europa Begriffe wie ‚ dekolonial ‘ , ‚ dekolonisieren ‘ , ‚ Dekolonisierung ‘ in den Künsten und in der Wissenschaft verbreitet. Neue Veröffentlichungen wie der von Azadeh Sharifi und Lisa Skwirblies herausgegebene Sammelband Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial sind willkommene Angebote, um bestehende Kanons zu verschieben und Des- und Reorientierung anzubieten. Das in diesem Essay Formulierte gehört ebenso zu den Versuchen, die theaterwissenschaftliche Forschung positiv zu ver-wirren und zu verändern. Diese Versuche lese ich als Verbreitung und Verstärkung von neuen Sicht-, Hör- und Wahrnehmungsweisen. . . Im Einklang mit dem französischen Slogan, der meinen Beitrag eröffnete, stellt sich die Frage, ob die Theaterwissenschaft das Unmögliche verlangen und als realistische Einstellung vertreten kann, darf, soll? Die Un/ Möglichkeit, Mastery oder Kolonialität in der Wissenschaft kritisch entgegenzuwirken, erfordert Mut, Fühlen und ein Sinn 249 Eine un/ mögliche Theaterwissenschaft: Tanz, Klang und Schreiben ver-. . . für Utopie. Ob dies laut oder leise geschehen wird, bleibt offen. Der mittlerweile verbreitete Fokus auf Dekolonisierung wurde erst durch Diskurse und Praktiken von Communities möglich gemacht, die kolonisiert wurden. Im europäischen Kontext wird die Forschung von Menschen, die als ‚ Indigenous ‘ positioniert sind, eher selten zitiert, obwohl deren Vorschläge wertvolle und wegweisende Möglichkeiten der Erneuerung anbieten. Wie Indigenous Autor*innen selbst schreiben, besteht eine Herausforderung darin, dass ihr Wissen und ihre Forschung auch Veränderung außerhalb der Indigenous Communities erzeugen kann, aber die Gefahr der Vereinnahmung ihrer Wissensproduktion bestehe. Im Bereich der Sound Studies ruft Dylan Robinson zu einer „ critical listening positionality “ 25 auf, die etablierte, vom ‚ settlercolonialism ‘ geprägte Hörgewohnheiten verändern kann. Wo ‚ settler-colonialism ‘ das Hören auf ein hungriges Bedürfnis (Wissen, Wiedererkennung von Normen, Herstellung von Friedensnarrativen) ausgerichtet hat, welches gesättigt werden will, ist die von Robinson vorgeschlagene Alternative ein Hören, das stets relational ist, das im Verhältnis zu etwas (Land, Gefühle, Geschichte. . .) existiert. Bezugnehmend auf andere Indigenous Forscher*innen wie James Morrison und Jo-Ann Archibald entwirft er die Un/ Möglichkeit neue Hörformen zu befördern: to define new forms of listening-in-relation does not entail simply applying an alternative configuration of listening at will. Unlike iPhone photo filters, one cannot simply select and add noncolonial feminist, queer, or black listening filters in order to listen otherwise. 26 Methodisch beruft sich Robinson auf das Konzept von „ sqwálewel thinking-feeling “ 27 , in dem das Empfinden und Spüren unzertrennlich mit dem Denken verwoben ist, also die affektiven und intellektuellen Ebenen Hand in Hand gehen. Ver-spüren kann sich in vielen Formen entfalten. In der Zusammenarbeit mit meiner Lebenspartnerin Oxana Chi habe ich mehr und mehr gelernt, die Un/ Möglichkeit (im westlichen Kontext) eines fühlenden Denkens sowohl akademisch als auch künstlerisch in mir zu verstärken und zu vertiefen. 2018 entwarf Oxana das Stück feelingJAZZ als Duo für einen Körper und ein Saxofon. Hier spiele ich eigene Kompositionen und Improvisation mit Saxofon und Loop-Technologie. Gerade die Arbeit mit dem Loop- Pedal bietet mir die Herausforderung, das Fühlen und das Denken zu ‚ verbinden ‘ . Die Arbeit mit Loops ‚ versetzt ‘ mich oft in einen Raum des Denkens, eine besondere Achtsamkeit auf Rhythmus und Zahlen kann sich sogar in intellektueller Vorgehensweise ‚ verlieren ‘ . Das Fühlen ist notwendig, um die Loops mit Seele zu beflügeln, um als Mensch mit Maschine etwas anderes zu erzeugen als eine Maschine es allein tun würde. Was ich spiele, entsteht immer in Relation zu dem Tanz, zu den Bewegungen, auch wenn diese Relation nicht immer nur begleitend sein soll. Die Loops eröffnen neue Möglichkeiten: obwohl es mit dem Saxofon eigentlich unmöglich ist (außer mit ein paar Sondergriffen aus der neuen Musik-Technik), entstehen hier Akkorde, Polyrhythmik. So kann ich Orchester werden, die Stimme ‚ vervielfältigt ‘ sich, der Klang ‚ verbreitet ‘ sich in vielen Tönen und breitet sich im Raum anders aus. Ähnlich scheint es mir sich mit Oxanas Tanz zu verhalten: Die Choreografie wird vom Denken gesteuert und mit dem Fühlen interpretiert. Der Titel feelingJAZZ eröffnet die Möglichkeit, dass Jazz ein Gefühl an sich sein kann, sowie auch Freude, Trauer, Wut oder Melancholie. Im Englischen gibt es den Ausdruck „ to feel blue “ . Was bedeutet es „ to feel JAZZ “ ? Es ist ein Verspüren, welches aus einem diasporischen Standpunkt heraus Musik verändert, Wahrnehmung verscho- 250 Layla Zami ben und Normen verwirrt hat. Jazz ist ein Verspüren, das aus verkörperten Erinnerungen entstanden ist. In der Performance feelingJAZZ treffen mehrere Welten aufeinander: die Sinnlichkeit des klassischen russischen Balletts, die Ausdrucksstärke der Jazzwelt, die geerdete Rhythmik des karibischen bélè, die luftig-lyrische Voguing Kultur aus den USA . . . In dieser Performance spielt Verbindung eine wichtige, thematische Rolle; zwischen unseren Sparten Tanz und Musik, interkulturelle Verbindung, transatlantische Verbindungen und zwischenmenschliche Verbindung. Wie in diesem Bild zu verspüren ist . . . hoffentlich? Anmerkungen 1 Eintrag „ ver “ , in: Duden online, https: / / ww w.duden.de/ node/ 196155/ revision/ 1373328 [Zugriff am 18. 12. 2022]. 2 Vgl. Daphne A. Brooks, „ Nina Simone ’ s Triple Play “ , Callaloo 34, no. 1 (2011), S. 176 - 97; Joshua Chambers-Leston, After the Party. A Manifesto for Queer of Color Life, New York 2018, S. 37 - 80; Malik Gaines, Black Performance on the Outskirts of the Left. A History of the Impossible, New York, 2017. 3 Alle Übersetzungen in diesem Artikel sind von mir, wenn nicht anders vermerkt. Obwohl dies als Untertitel des Buches genutzt wird, wird das Wort „ impossible “ nicht als eigenständiger Begriff fokussiert. In der Analyse von Nina Simone spricht Gaines von einer „ quadruple consciousness “ , inspiriert von Daphné Brooks ‘ Konzept von „ Triple Play “ , und bezugnehmend auf Brechts Verfremdungseffekt. 4 Ebd., S. 1. 5 Julietta Singh, Unthinking Mastery. Dehumanism and Decolonial Entanglements, Durham 2018, S. 6. 6 Vgl. Ebd., S. 21. Im Original: „ to engage the politics of decolonization through deconstructive, feminist, and queer readings. “ Abb. 4: Oxana Chi (re) & Layla Zami (li) in feelingJAZZ, Black Queer Night, Dixon Place Theater, New York, 2018, Foto: Elisa Gutierrez. 251 Eine un/ mögliche Theaterwissenschaft: Tanz, Klang und Schreiben ver-. . . 7 Audre Lorde, „ The Personal or the Political - II / Conference on Feminist Theory, 1979 (Tape 1, Side B) “ , Lesbian Herstory Archives Audio-Visual Collections, http: / / herstories. prattinfoschool.nyc/ omeka/ items/ show/ 50 [Zugriff am 01. 12. 2022]. 8 Die Arbeit wurde als Installation präsentiert und ist hier als Video zu sehen: https: / / vimeo. com/ 591761688 [Zugriff am 20. 12. 2022]. 9 Nikita Dhawan, „ Hegemonic Listening and Subversive Silences: Ethical-political Imperatives “ , in: Alice Lagaay / Michael Lorber (Hg.), Destruction in the Performative, Leiden 2012, S. 48. 10 Sarah Ahmed, Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others, Durham 2006, S. 157. 11 At that time I was working on the curation of an event entitled Quiet (as) Intervention: Sonic Subtlety and Black Feminist Possibility, held at and in cooperation with SAVVY Contemporary in Berlin on December 04, 2022, https: / / savvy-contemporary.com/ en/ e vents/ 2022/ quiet-as-intervention/ [Zugriff am 20. 07. 2023]. 12 Jill Scott, „ Golden, Live at Elysée Montmartre “ , Paris 2004, https: / / www.youtube.com/ watch? v=dtCvHaN3Y4g [Zugriff am 20. 12. 2022]. 13 Daphne A. Brooks, Liner Notes for the Revolution. The Intellectual Life of Black Feminist Sound, Cambridge 2021, S 17. Im Original: „ Their sonic works is its own form of affective technology, and it is work that has shown the power to generate daring modes of artistic survival. “ 14 Ebd., S. 27. 15 Refuge Worldwide Radio, „ The Breakfast Show “ , 29. 11. 2022, https: / / www.mixcloud.c om/ refugeworldwide/ the-breakfast-show-mo keyanju-29-nov-2022/ [Zugriff am 20. 12. 2022]. 16 Romi Morrison, Noticing the Preconditions for, „ Modulation Excerpt 3 - 1 “ , 2021, https: / / elegantcollisions.com/ noticing-the-precondi tions-for [Zugriff am 20. 12. 2022]. 17 In 2009 wurde Glissant vom Filmemacher Manthia Diawara begleitet, als er von South Hampton, England nach Brooklyn, New York an Bord des Queen Mary II reiste. Die Aufnahme des Gesprächs wurde zum Teil transkribiert und veröffentlicht, u. a. hier: Édouard Glissant, Manthia Diawara, „ Édouard Glissant in Conversation with Manthia Diawara. “ in: Nka: Journal of Contemporary African Art 28 (2011), S. 4 - 19, Übersetzung von Christopher Winks, https: / / https: / / muse.jhu.edu/ article/ 453307 [Zugriff am 20. 12. 2022] What is departure for you? It ’ s the moment when one consents not to be a single being and attempts to be many beings at the same time. In other words, for me every diaspora is the passage from unity to multiplicity. I think that ’ s what ’ s important in all the movements of the world, and we, the descendants, who have arrived from the other shore would be wrong to cling fiercely to this singularity which had accepted to go out into the world. 18 Fred Moten, Black and Blur. consent not to be a single being, Durham 2017, S. 68. (Kapitel 5 heißt „ Taste Dissonance Flavor Escape “ ). 19 Oxana Chi, The White Egg, Unveröffentlichtes Manuskript, New York/ Berlin 2016, S. 7. 20 Oyèrónk ẹ ́ Oy ě wùmí, The Invention of Women: Making an African Sense of Western Gender Discourses, Minneapolis 1997, S. 13. 21 Oxana Chi, „ Tanzende Erinnerungen - Mémoire dansée. Femmage an die Tänzerin Tatjana Barbakoff “ , Katalog zur Ausstellung in der Galerie Gondwana im Rahmen von Salon Qi, Berlin 2011. 22 Layla Zami, Contemporary PerforMemory: Dancing Through Spacetime, Historical Trauma, and Diaspora in the 21st Century, Bielefeld 2020. 23 Ebd., S. 147. 24 Sandra Gugic´, Flüstern, Berlin 2022, S. 11. 25 Dylan Robinson, Hungry Listening. Resonant Theory for Indigenous Sound Studies, Minneapolis 2020, S. 51. 26 Ebd. 27 Ebd. 252 Layla Zami