Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0024
121
2023
342
BalmeZugehörigkeit, Deutungsmacht und Konflikt. Für die Anerkennung der Vielfältigkeit Schwarzer Erfahrungen
121
2023
Josephine Apraku
Joana Tischkau
Die Choreografin und Performancemacherin Joana Tischkau und Afrikawissenschaftler*in und rassismuskritische*r Bildungsarbeiter*in Josephine Apraku haben sich online zu einem Gespräch getroffen. Im Zentrum standen Joana TischkausTheaterproduktion Yo Bro (2022), die gemeinsam mit ihrem Bruder Aljoscha Tischkau in Kooperation mit dem Künstler*innenhaus Mousonturm und dem Schauspiel Frankfurt entstand1, sowie Aprakus Buchpublikation Kluft und Liebe (2022). Ausgehend von ihren Erfahrungen als afrodeutsche Kunst-, Bildungs- und Kulturschaffende tauschen sie sich über zielgruppenspezifische Kulturproduktion, Perspektiven kritischen Weißseins sowie über Gefühle angesichts der Repräsentation dominanter ‚mixed race‘ sowie rassifizierter Familienbilder in der (vornehmlich US-amerikanischen) Populärkultur seit den neunziger Jahren aus. Die Position einer vermittelnden, Themen setzenden und im Fall der Band-Herausgeberinnen weißen Moderation wurde bewusst ausgespart.
fmth3420253
Zugehörigkeit, Deutungsmacht und Konflikt. Für die Anerkennung der Vielfältigkeit Schwarzer Erfahrungen Josephine Apraku (Berlin), Joana Tischkau (Frankfurt/ Berlin) Die Choreografin und Performancemacherin Joana Tischkau und Afrikawissenschaftler*in und rassismuskritische*r Bildungsarbeiter*in Josephine Apraku haben sich online zu einem Gespräch getroffen. Im Zentrum standen Joana Tischkaus Theaterproduktion Yo Bro (2022), die gemeinsam mit ihrem Bruder Aljoscha Tischkau in Kooperation mit dem Künstler*innenhaus Mousonturm und dem Schauspiel Frankfurt entstand 1 , sowie Aprakus Buchpublikation Kluft und Liebe (2022). Ausgehend von ihren Erfahrungen als afrodeutsche Kunst-, Bildungs- und Kulturschaffende tauschen sie sich über zielgruppenspezifische Kulturproduktion, Perspektiven kritischen Weißseins sowie über Gefühle angesichts der Repräsentation dominanter ‚ mixed race ‘ sowie rassifizierter Familienbilder in der (vornehmlich US-amerikanischen) Populärkultur seit den neunziger Jahren aus. Die Position einer vermittelnden, Themen setzenden und im Fall der Band-Herausgeberinnen weißen Moderation wurde bewusst ausgespart. Joana Tischkau: Dein Buch Kluft und Liebe beschäftigt sich mit der im deutschsprachigen Kontext lange unberührt gebliebenen Frage, wie Rassismus in alltäglichen Situationen und in sozialen Beziehungen wirksam ist. Es ist gerade für den deutschsprachigen Kontext so eine spezielle Frage, weil das Verständnis von Rassismus im Vergleich zu dem aus den USA ein anderes ist. Wann haben wir es mit Rassismus zu tun? Wenn Menschen erschossen werden? Weil es einen vergleichbar gewaltvollen Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen in Deutschland nicht gibt - oder weil er nicht gleichermaßen sichtbar ist - , konnte Deutschland lange behaupten, dass es kein Rassismusproblem habe. Ich glaube, dass viele Schwarze Menschen in Deutschland schon immer ein Bewusstsein dafür hatten, dass Rassismus vielschichtiger ist. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, das in der Öffentlichkeit zu besprechen? Vielleicht ist unser Gespräch ein interessanter Zeitpunkt dafür. Josephine Apraku: Als ich 2021 das Exposé für Kluft und Liebe abgegeben habe, hat mein Literaturagent mich gefragt, ob das ein Buch sei, das Leute lesen wollen. Ich dachte mir sofort, es hängt wahrscheinlich davon ab, wen er fragt. Menschen, die Diskriminierung erfahren, wissen - und hier beziehe ich mich speziell auf die Rassismusforschung - , dass Diskriminierung natürlich auch in intimen Beziehungen vorkommt. Das können romantisierte Liebesbeziehungen sein, aber es können auch Freund*innenschaften oder alle möglichen familiären Konstellationen sein. Deshalb würde ich sagen: ja, es ist ein Buch, das Leute lesen wollen. Aber es ist sicherlich kein Buch, das sich - wie so oft der Fall - an weiße Menschen richtet, um ihnen zu erklären wie Rassismus funktioniert. Und ich glaube, hier überschneiden wir uns beide. Denn ich hatte den Eindruck, dass sich deine Produktion Yo Bro auch nicht per se mit einem Bildungsauftrag an weiße Menschen richtet. Als ich die ausverkaufte Aufführung im HAU 2 in Berlin besucht habe, habe ich mich gefragt, wer aus dem Publikum eigentlich was konkret mitnimmt? Das erachte ich auch mit Blick auf mein Buch als eine Forum Modernes Theater, 34/ 2, 253 - 261. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0024 interessante Frage. Denn ich nehme wahr, dass ich vor allem von Menschen Rückmeldungen bekomme, die sich im Hinblick auf unterschiedliche Formen von Diskriminierungen jenseits der Norm befinden. Ich habe zum Beispiel Rückmeldungen von bisexuellen Männern bekommen, die oft als hetero wahrgenommen werden. Und ich habe Rückmeldungen von Menschen bekommen, die Rassismus erfahren und mir gesagt haben, dass es schön sei, sich durch die Lektüre so gesehen zu fühlen. Und da gibt es eine weitere Überschneidung bei uns beiden. Denn das Interessante an Yo Bro ist ja, dass du Momente aufgreifst, die viele Angehörige unserer Generation kennen. Und die Frage ist dann, was heißt dieses „ ich kenne “ eigentlich? Joana Tischkau: Was mir häufig passiert und mich wirklich aufregt, ist, wenn - wie auch wieder zu Yo Bro in einem Radiokritikbeitrag - weiße Journalist*innen sagen, mein Stück sei ihnen zu hohl oder zu flach, weil ich zu Szenen und dem enthaltenen reproduzierten Material nicht eindeutig genug Stellung beziehen würde. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass es keine zwei Menschen gibt, die dieses Material identisch wahrnehmen, und dass es zudem eine Diskrepanz zwischen dem gibt, was eine weiße Person und was eine Schwarze Person sieht. Zum Beispiel die Aufzählung von Vornamen am Anfang der Familienduell-Szene: „ Brigitte, Bernhard, Peter und Susanne “ - das ist wie mit dem Werbeslogan für die Mini-Wini-Würstchenkette von Meica aus den 1990er Jahren. 2 Diese Aufzählung von Namen wird von einer Person, die sich mit diesen Namen nicht identifizieren kann, einfach anders wahrgenommen werden. Josephine Apraku: Ich bekomme auch solche Rezensionen, auch spezifisch von weißen Frauen. Ich glaube, es gibt oft diese Vorstellung, etwas richte sich an alle. Und die ist zutiefst unehrlich und unreflektiert. Denn natürlich richtet sich nicht alles an alle. Museen richten sich zum Beispiel vornehmlich an bürgerliche Menschen, an weiße Menschen, an heterosexuelle Menschen, an nichtbehinderte Menschen, an cis-Personen usw. Und ich glaube, unsere Arbeiten weisen genau darauf hin. Das Problem ist nur, dass Leute, die es gewohnt sind, dass sich Inhalte vornehmlich an sie richten, selten in der Lage sind, das zu reflektieren. Das nehme ich zum Beispiel auch aus Yo Bro mit: Wenn ich mir als Kind Serien angeguckt habe, dann wusste ich, dass ich nicht gemeint bin. Das heißt, ich musste immer nach Anknüpfungspunkten jenseits meiner sozialen Position suchen. Das ist ein Vorgang, den ich als Kind ganz automatisch, ohne groß zu reflektieren, gemacht habe. Und ich nehme immer wieder wahr, dass weiße Menschen dies eben nicht automatisch machen, im Gegenteil: Sie sind daran gewöhnt, dass es sich an sie richtet. Und was passiert, wenn sich etwas auf einmal nicht mehr per se an eine Gruppe von Menschen richtet? Mein Buch ist auch für weiße Menschen geschrieben, aber es ist nicht ausschließlich für sie geschrieben. Vielmehr besteht meine Fokusgruppe aus Menschen, die unterschiedliche Formen von Diskriminierung erfahren haben - ich habe mein jüngeres Ich zur Zielgruppe gemacht. Bei meinem Besuch von Yo Bro gab es einen Moment, in dem ich mich in meine Vergangenheit zurückversetzt gefühlt habe. Meine Mutter war alleinerziehend und ich bin nach der Schule oft nach Hause gegangen und habe mich durch genau die Sitcoms gezappt, die ihr im Stück zitiert. Sie sind eine Realität von mir gewesen. Und so habe ich mich kurz gefühlt, als hätte ich noch einmal die Fernbedienung in der Hand, um mich durch diese Sendungen durchzuzappen. Und dabei fand ich besonders beeindruckend, dass ich bereits beim kurzen An- 254 Josephine Apraku/ Joana Tischkau spielen der verschiedenen Titelmelodien dachte, allein an der Musik zu hören, welche Sendung von weiß positionierten Menschen besetzt ist und in welchen Sendungen etwa Schwarze Menschen die Hauptrollen besetzen. Das fand ich sehr spannend! Joana Tischkau: Du hast recht, der Sound macht bereits eine ganze Welt auf. Und deswegen interessiere ich mich auch so sehr für Musik, weil genau so etwas, was du beschreibst, dadurch entstehen kann. Ich möchte in meiner Arbeit bewusst darauf aufmerksam machen, dass es sowohl Schwarze als auch weiße Ästhetiken gibt. Aber ich wollte noch kurz auf das eingehen, was du zum Aspekt ‚ etwas richtet sich (nicht) an alle ‘ gesagt hast: Denn das Spannende ist ja, dass du in deinem Buch das Konzept der Liebe in all seinen Facetten und Formen aufgreifst. Und gerade Liebe ist ja auch ein Konzept, das diesen universellen Anspruch behauptet. Wir müssen über Liebe auch kritisch intersektional nachdenken. So schließt sich für mich die Idee der Familie, der Beziehung zwischen Geschwistern an, die ich in Yo Bro gemeinsam mit meinem Bruder Aljoscha thematisiere. Unsere Mutter war auch eine weiße, alleinerziehende Frau und allein deswegen ist für mich diese Auseinandersetzung so wichtig. Ich habe übrigens auch von einem Schwarzen Publikum schon den Vorwurf gemacht bekommen, den Fokus in manchen meiner Arbeiten zu stark auf weiße Positionen zu legen und wurde gefragt, warum ich mich so intensiv mit (kritischem) Weißsein auseinandersetze. In meiner familiären Struktur kam ich nicht umhin, mich mit meiner weißen Mutter auseinandersetzen. Ich finde die Idee, diesen Perspektiven abzusagen, regelrecht utopisch. Ich weiß nicht, wie es bei Dir ist, aber der Gedanke, mich nur in einem Schwarzen künstlerischen Raum zu bewegen oder mich nur von Schwarzen Künstler*innen beeinflussen zu lassen oder nur auf Schwarze Referenzen zu beziehen, halte ich als in Deutschland sozialisierte, aufgewachsene und lebende Person für unmöglich. Das heißt, ich bin automatisch mit dem konfrontiert, was Du auch beschrieben hast, nämlich damit, in Situationen stets aushandeln zu müssen, wo meine Anknüpfungs- und Bezugspunkte abseits meiner Identität und Positionierung sind. Und dann stellt sich für mich die Frage, wie weiße Menschen sich auch von ihrer weißen Wahrnehmungspraxis lösen und in einen Zustand kommen können, der aktive Positionierung erzwingt. Darauf richtet sich mein künstlerisches Interesse: dass sich Zuschauer*innen genau darin schulen können - und das gilt für mich für Schwarzes und weißes Publikum gleichermaßen. Natürlich kann ich aber versuchen, Schwarze Perspektiven in den Fokus zu rücken und zu priorisieren. Josephine Apraku: Mir ist natürlich klar, dass der Begriff ‚ Schwarz ‘ eine Selbstbezeichnung ist, aber allein die Selbstbezeichnung ist bereits eine Gegenüberstellung mit der Realität von Rassismus - und mit Weißsein. Es gibt kein Entkommen, kein Außerhalb davon. Das Problem ist, dass Weißsein bei weißen Menschen meist überhaupt nicht als Teil der eigenen Wahrnehmung betrachtet wird. Es gibt nur wenige, die das bis zu einem gewissen Grad reflektieren können. Deswegen möchte ich nochmal auf die Rezension zurückkommen und Dich fragen, wie es sich für Dich persönlich anfühlt, mit einem solchen Urteil konfrontiert zu werden? Wenn deutlich wird, dass da eine Person ist, die diese Dimension nicht wahrnehmen kann, einen Zusammenhang nicht durchsteigt, aber trotzdem ihre Haltung in der Öffentlichkeit darlegt und damit anderen Leuten sagen kann, die Arbeit sei unvollständig, unangemessen oder inadäquat. Ich finde, das ist ein gewaltvoller Moment: diese Gleichzeitigkeit von Unwissen und Macht. 255 Zugehörigkeit, Deutungsmacht und Konflikt Joana Tischkau: Ja, es geht dann gar nicht so sehr um die einzelne Person, sondern um die Mechanismen des Betriebs, die es möglich machen, dass diese*r Kritiker*in eine Plattform bekommt. Und deswegen schätze ich die Möglichkeit dieses Gesprächs, mich mit Dir unterhalten zu können, wo ich ‚ ich ‘ sein kann, nicht weil ich nicht offen für einen kritischen Blick oder eine kritische Auseinandersetzung mit meinen Arbeiten bin. Aber es muss ja erst einmal eine Grundlage erarbeitet werden und ich muss das Gefühl haben, die Person hat die Möglichkeit und Offenheit, das auch aus dieser (meiner) Perspektive betrachten zu können. Denn dann macht es Sinn, darüber gemeinsam zu reden. Simone Dede Ayivi hat das kürzlich in ihrem Beitrag zur Publikation Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial (hg. von Azadeh Sharifi und Lisa Skwirblies, Anm. der Redaktion) auch artikuliert: dass sie sich wünschen würde, ihre Arbeiten würden auch von Menschen kritisch rezensiert werden, die den Blick dafür haben und sie verstehen. Ich kann das gut nachvollziehen. Josephine Apraku: Ich finde es interessant, dass Du dann relativ schnell bei einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik bist, also bei den Fragen: Was wird produziert? Wer sind die Zuschauer*innen? Wer entscheidet, wer rezensiert? Ich habe darüber in letzter Zeit viel nachgedacht, auch mit und in meinem Buch. Es ist bemerkenswert, wie Schwarzen Körpern, die sich in der Öffentlichkeit (zum Beispiel in Form von Büchern, Theaterstücken, Serien oder Filmen) kritisch äußern, der Job zugeschrieben wird, weißen Körpern ‚ dienlich zu sein ‘ . Und zwar, indem wir Rassismuskritik auf eine Art und Weise üben, die weiße Menschen für sich verwenden können - als Ausbau ihres sozialen Kapitals. Das empfinde ich persönlich als gewaltvoll, immer wieder entgegengebracht zu bekommen: „ Aber was soll ich jetzt damit machen? Wie kann ich es besser machen? “ Ich beschäftige mich viel mit kritischer Pädagogik - und vor dem Hintergrund finde ich es wirklich bemerkenswert, dass wir in einem Land leben, in dem NS-Pädagogik eine Realität war. Sie trug zu einer Auffassung von Lernen bei, nach der es eine Person gibt, die etwas besser weiß und ich dann vor ihr sitze und von ihrem Wissen ‚ befüllt ‘ werde, damit ich dann anders in die Welt gehen kann. Das bedeutet auch, sich selbst vom eigenen Lernprozess komplett zu entkoppeln und dabei die eigene Verantwortung im Lernprozess nicht wahrzunehmen. Joana Tischkau: Die Frage ist, wie man aus dieser Schleife rauskommt? Gibt es einen Ausweg? Dass man immer wieder beauftragt wird, für die weiße Nutzbarkeit zu produzieren. Das Interessante ist auch meine eigene Position - denn ich weiß, dass ich gerade relativ erfolgreich bin in dem, was ich mache - (auch) genau aus diesem Grund. Weil der weiße Kulturbetrieb als einer der ersten vielleicht in der deutschen Gesellschaft gemerkt hat, dass es so nicht weitergehen kann und diese Diskurse deshalb zum Teil des Programms der Institutionen gemacht werden müssen. Das heißt, ich kann darin existieren, aber gleichzeitig begebe ich mich in die Schleife, die du angesprochen hast: Dass ich immer nur dafür produzieren muss oder dieses Thema immer wieder auch explizit behandeln muss, damit meine Arbeiten verwertbar sind im Kulturbetrieb. Vielleicht ist es naiv, aber ich frage trotzdem: Was soll ‚ Schwarze Kunst ‘ überhaupt sein? Wann kann man als Schwarze Person anfangen, die Kunst zu produzieren, die weiße Männer schon immer produzieren konnten: Eine Kunst, die ignorant nur von der eigenen Position ausgeht und der Genialität zugesprochen wird? Ich meine, vielleicht will man das auch gar nicht, aber es 256 Josephine Apraku/ Joana Tischkau geht um diese Geste, überhaupt erst mal dahin zu kommen, dass die Zweckmäßigkeit nicht immer wieder in Frage gestellt wird. Du sprichst im Zusammenhang mit deinem Buch auch von einer ‚ Handlungsanweisung ‘ . Und trotzdem bist Du vielleicht damit konfrontiert, dass jemand sagt, es war noch nicht (gut) genug. Josephine Apraku: Ja, alle wollen den Zehn- Punkte-Plan haben. Und wenn ich Zehn- Punkte-Plan sage, dann meine ich nicht, „ wie kann ich vermeiden, rassistisch zu sein? “ , sondern vielmehr: „ Wie kann ich dafür Sorge tragen, dass keine Person mir jemals wieder vorwirft, rassistisch gewesen zu sein? “ Aber mir ist gerade noch etwas zur Frage der Kritik eingefallen: Wenn ich während meines Studiums in der Universität Texte gelesen habe, dann habe ich sie selten mit der Frage verbunden gelesen, was ich an ihnen kritisieren kann. Meine Lesepraxis war eine komplett andere. Ich habe mich nicht gefragt, was die Person ‚ nicht richtig ‘ gemacht hat oder inwiefern das Gesagte in ihrer sozialen Position verhaftet ist, sondern ich war interessiert daran, was ich daraus mitnehmen kann. Und das sind zwei sehr unterschiedliche Perspektiven. Für mich geht es nicht darum, einfach nur aufzuzeigen, dass eine andere Person in diskriminierenden Strukturen verhaftet ist. Denn offensichtlich ist das der Fall - sind wir ja alle. Ich frage mich eher, welche Aspekte im Text zum Abbau von Diskriminierung führen oder was ein Werkzeug zur Unterstützung darstellen könnte. Ich würde diesen Aspekt gern mit dem, was Du gerade zur Haltung gesagt hast, aus der heraus wir produzieren, verbinden. Anfang des Jahres hat eine befreundete Person ein Buch herausgebracht: Race Relations. 3 Michaela Dudley fragte bei mir nach, ob ich Leute kenne, die es rezensieren könnten. Dabei ist mir das erste Mal gewahr geworden, dass das Teil meiner Verantwortung ist: Wenn ich möchte, dass es Veröffentlichungen gibt, die für mich auch interessant sind, dann ist es eben auch Teil meiner Verantwortung, den Prozess des Rezensierens nicht nur Menschen zu überlassen, die nicht die nötigen Informationen haben, um eine angemessene Rezension zu schreiben. Ich erinnere mich an einen Podcast. Ich glaube, es waren zwei Schwarze Frauen, die begonnen hatten, von sich als Genies zu sprechen - als eine Form von Widerstand. Und da frage ich mich, inwiefern unsere Sozialisierung dazu beiträgt, dass wir uns untereinander nicht auch noch krasser feiern, wie weiße Menschen das untereinander die ganze Zeit tun. Joana Tischkau: Ich sehe das zwiegespalten, denn das bedeutet für mich auch Mehrarbeit. Dieser Kontext jetzt zum Beispiel, der hier für uns geschaffen wurde - er zeigt auf, dass ich, wenn eine Anfrage zu einem Gespräch kommt, immer schon im Hinterkopf behalten muss, wen ich anfragen könnte. So bin ich selbst auch meine eigene Presse- und Öffentlichkeitsperson, meine eigene Kuratorin. Das bedeutet einerseits Aufwand, ist aber natürlich auch eine privilegierte und machtvolle Position, die teilweise auch Spaß macht. Aber im Zusammenhang mit dem, was du gerade angesprochen hast - und was uns vielleicht auch zu Yo Bro zurückführt - , stellt sich mir die Frage: Was bedeutet dann eigentlich Schwarze Community im deutschen Kontext? Inwieweit sind wir als Kultur- und Medienschaffende im deutschsprachigen Kontext miteinander verbunden? Ist das eine Notwendigkeit, weil es mit freundschaftlicher, kollegialer Solidarität zu tun hat? Aber geht es nicht auch um Differenzierung und Anerkennung der Vielfältigkeit Schwarzer Erfahrung(en)? Was bedeutet der Blick auf Gemeinschaft, Familie, Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit aus einer Schwarzen Perspektive? Ich weiß nicht, 257 Zugehörigkeit, Deutungsmacht und Konflikt wie du dazu stehst, aber ich habe das Gefühl, dass es im deutschsprachigen Raum dazu keinen Diskurs gibt. Wenn es im US-amerikanischen Raum heißt, ‚ die Schwarze Community hat Kritik geäußert ‘ weiß ich, was das bedeutet, aber was heißt das im deutschsprachigen Kontext? Josephine Apraku: Im Hinblick auf die Repräsentation Schwarzer Menschen oder Schwarzer Familien und Geschwister sind in Yo Bro ja durchaus auch Leute vorgekommen, die gerade in den vergangenen Jahren und zu Recht in die öffentliche Kritik geraten sind. Bill Cosby oder Michael Jackson zum Beispiel. Da ergibt sich eine Spannung zwischen Konstellationen, die in der Vergangenheit empowernd waren, heute aber eine andere, gegensätzliche Bedeutung haben. Ich habe für mich wahrgenommen, dass die Bill Cosby Show zu meinem Empowerment beigetragen hat, und dass diese Form der Repräsentation noch immer wichtig für mich ist. Hier würde ich sagen, dass es das eben nicht gibt: ‚ die ‘ Schwarze Community. Joana Tischkau: Ich habe den Eindruck, dass die Dissoziation von problematischen weißen Personen für weiße Menschen einfacher ist. Ich würde jetzt nicht sagen, dass Werner Schulze-Erdel (der in Yo Bro über die TV-Sendung Familienduell parodiert auftritt, Anm. der Redaktion) genauso problematisch ist wie Bill Cosby, aber ich erinnere mich an einen Moment in einer Gesprächsrunde, in der wir über Roberto Blanco gesprochen haben und auch Schwarze Personen präsent waren. Eine von ihnen beklagte, ein großes Problem damit zu haben, dass wir Roberto Blanco so neutral bis positiv besprochen und bewertet haben. Schließlich hätte Roberto Blanco der Schwarzen deutschen Community viel Schaden zugefügt. Mir wurde dabei bewusst, dass das auch ein Privileg ist, das weiße Menschen haben: Wenn eine weiße Person sich problematisch in der Öffentlichkeit verhält, können sich viele weiße Menschen sofort von dieser distanzieren, wie von Harvey Weinstein zum Beispiel. Ich frage mich, ob und inwieweit der Konflikt, den Du (für Dich) beschreibst, sich auch für weiße Menschen herstellen kann. Damit meine ich, dass man die Bill Cosby Show weiterhin in positiver nostalgischer Erinnerung mit sich trägt und gleichzeitig einen Weg findet, sich davon zu distanzieren, abzugrenzen oder damit auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang finde ich auch interessant darüber nachzudenken, wie Fernsehen in den Jahrzehnten, in denen wir aufgewachsen sind, herzustellen geschafft hat, dass wir eine vermeintlich persönliche Bindung zu diesen Figuren aufgebaut haben, dass es etwas gibt, was mich mit diesen Figuren verbindet, aber eigentlich gar nicht existiert. Also was sind das für emotionale Prozesse? Josephine Apraku: Das Privileg, über das Du gerade gesprochen hast, besteht ja darin, als weiße Person ein Individuum zu sein. Gleichzeitig ist dieses Individualisierte eine Entkopplung von Menschlichkeit. Ich glaube, aus einer Schwarzen Perspektive, die eine politische und eine Kollektivperspektive voller unterschiedlicher Erfahrungen ist, müssen wir uns fragen, was wir im Rahmen von Menschlichkeit verhandeln können und wo da die Grenzen sind. Ich würde behaupten, dass weiße Menschen sich das nicht fragen. Genau deswegen gibt es auch so viel Gewalt, die von weißen Menschen ausgeht. Weiße Menschen müssen nicht aus einem Kollektiv, das es vermeintlich nicht gibt, verstoßen werden. Die Frage stellt sich nicht. Joana Tischkau: Für mich ist die Erfahrung, mit einer Person aufgewachsen zu sein, die gleich alt ist, mit der ich viele Schritte des Lebens gemeinsam gegangen bin und von der sich mit der Pubertät und der Entwick- 258 Josephine Apraku/ Joana Tischkau lung unserer Geschlechteridentitäten eine Abgrenzung ergeben hat, eine Mikroversion von dem, was du Kollektivperspektive genannt hast. Ich meine, dass es bestimmte Personen gibt, mit denen man mehr als das teilt, was von außen auf uns einwirkt. Dass mein Bruder und ich z. B. von unserer Mutter eine bestimmte Art und Weise mitbekommen haben, unsere Kaffeebecher zu halten. Das manifestiert sich auch in unserer Körperlichkeit. Existiert zwischen meinem Bruder und mir auch deshalb ein anderes Verhältnis zueinander, weil wir Schwarze Kinder unserer weißen Mutter sind, weil wir nochmal eine engere Verbindung miteinander hatten? Auch, weil wir immer anders wahrgenommen worden sind in der Gemeinschaft, in weißen Räumen wie der Schule. Und hier interessiert mich die Frage, inwieweit sich das von weißen Familienkonstellationen unterscheidet. Die Kelly Family haben wir in Yo Bro mitaufgenommen, weil ich ihre Technik als Kollektiv aufzutreten so interessant finde. War es dieses Auftreten als weiße, blonde Großfamilie, das deutsche Fans in den 90er Jahren angehimmelt haben? Was war das Interessante daran? Braucht eine deutsche Gemeinschaft so eine Performance von Kollektivität? In welchem Zusammenhang steht die Sozialisierung mit starker Individualität und die Suche nach gemeinschaftsstiftenden Momenten? Josephine Apraku: Bei der Kelly Family ist ja nochmal das Interessante, dass sie eigentlich eine irische Familie sind. Und auch bei Yo Bro ist es ja bemerkenswert, dass der größte Teil von Identitätsangeboten im Hinblick auf Familien solche sind, die nicht aus Deutschland kommen. Und gerade in den Sitcoms der 90er Jahre waren das eben auch Schwarze Familien, wie bei Alle unter einem Dach oder Der Prinz von Bel Air. Sie funktionierten zu dieser Zeit als Identitätsangebote in Deutschland, konnten stattfinden, aber nur in einem sehr spezifischen Rahmen, nämlich als heterosexuelle Großfamilien. Und mit Blick auf beide Serien sind das zum Beispiel auch vorwiegend Akademiker*innen, die vorkommen. Das ist also gerade aus einer intersektionalen Perspektive sehr interessant. Joana Tischkau: Wir haben uns in der Recherche für Yo Bro auch damit beschäftigt, dass viele dieser Serien insbesondere den Konflikt behandelt haben, der sich daraus ergibt, dass ein Fremdkörper in die Familie eintritt. Bei Der Prinz von Bel Air ist das zum Beispiel Will (Smith), der in dieser bürgerlichen, Schwarzen Familie mit seiner vermeintlichen ‚ Ghetto-Identität ‘ für Aufruhr sorgt. Und in Alf ist es der Außerirdische, der die weiße amerikanische Vorstadt-Kernfamilie aufmischt. Wir haben uns viel an Familienbildern abgearbeitet, wo dieser Störfaktor das zentrale Thema war. Aber was Du zur Schwarzen Familie als Identitätsangebot sagst, ist auch interessant, denn das heißt ja, dass bestimmte Parameter erfüllt sein mussten, damit das Identitätsangebot wirksam werden kann. Im Prinzip: Wenn die Schwarze Familie genauso strukturiert, ordentlich und sauber dargestellt wird wie das weiße Selbstbild, können sie sich damit identifizieren. Und oft ging es vielleicht auch einfach eher darum, sich über Schwarze Menschen lustig zu machen, als sich mit ihnen zu identifizieren, wenn man an Figuren wie Steve Urkle denkt. Was im deutschen Fernsehen für mich damals jedenfalls fehlte, war eine Repräsentation von dem, was ich erlebt habe: Eine normale Familie, in der nicht-weiße und weiße Familienmitglieder zusammenleben. Insbesondere in deutschsprachigen Sitcoms wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten oder Lindenstraße waren Schwarze Personen in der Regel die Außenseiter-Figuren, die wie Alf wie ein Alien aus einem Raumschiff in die weiße Lebenswelt hineinfallen. Auch bei 259 Zugehörigkeit, Deutungsmacht und Konflikt Unser Charlie, der Serie mit dem Affen. . . - es geht immer um Konflikte, die entstehen, wenn eine ‚ fremde ‘ Figur hinzukommt und Differenz ausgehandelt werden muss. Josephine Apraku: Vermutlich hat das mit den Familienbildern zu tun: Wir sehen bei diesen Beispielen nämlich viele Konstanten, viel Stabilisierendes. Wir haben die Kernfamilie, die funktioniert. Wir haben zwei Eltern, die noch zusammen sind. Wir haben intakte Familien. Demgegenüber sind z. B. Familien, in denen getrennt erzogen wird, vergleichsweise wenig vertreten. Die Serien liefern also viele Konstanten von gesellschaftlichen Erzählungen und wahrscheinlich ist es genau das, warum und worüber sie funktionieren: Dass es am Ende des Tages vergleichsweise wenig Brüche gibt. Ich muss da gerade auch noch an eine Serie denken, die relativ neu ist, Kevin can fuck himself. Auf den ersten Blick ist sie aufgebaut wie King of Queens. Sie handelt aber von einer Frau, die sich von ihrem Freund trennen will. Und dann hast du immer folgende Momente: Es ist hell, du guckst ins Wohnzimmer rein, der Typ redet in einer Tour sexistischen Scheiß und du hast dieses imaginäre Publikum, das du aus dem Off lachen hörst. Ihnen stehen Momente gegenüber, in denen die Frau allein ist, sich das Licht verändert, das Publikum schweigt und du genau sehen kannst, dass sie keine Lust mehr hat, mit ihm zusammen zu sein. Sie plant sogar, ihn zu töten. Ich finde das interessant, weil es nochmal ein anderes Mittel ist, um diese Bilder in Frage zu stellen, durch diese gänzlich unterschiedlichen Stimmungen. Joana Tischkau: Ich kenne die Serie leider nicht, aber es klingt, als dekonstruiere sie zugleich auch die Maschine, die es braucht, damit Sexismus weiter performt werden kann. Insofern zeigt sie, dass eben auch Lacher daran beteiligt sind, sexistisches Verhalten aufrechtzuerhalten. Vielleicht wäre es eine interessante Schlussfrage - die auch oft in Podiumsgesprächen aufkommt - , wie wir, wenn es doch überall diesen kollektiven Wunsch nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft gibt, Zusammenleben gestalten können - wo wir wieder beim Zehn-Punkte-Plan wären. . .? Wie können wir besser miteinander auskommen, was sind die Werkzeuge? Meine Antwort ist oft, Konflikte nicht so stark als etwas Störendes wahrzunehmen, sondern als etwas Produktives. Was antwortest Du, wenn eine solche Frage am Ende kommt? Josephine Apraku: Im Grunde antworte ich ähnlich. Ich glaube, die Tatsache, dass so wenig Kollektivität möglich ist, hängt wesentlich damit zusammen, dass es so viele Formen von Diskriminierung gibt, die immer wieder Trennungen zwischen uns schaffen. Auch ich glaube, dass wir eine gewisse Gewöhnung an Konflikt brauchen. Einerseits an den Konflikt, den wir auch mit uns selbst haben, wenn wir anfangen, uns mit Diskriminierung zu beschäftigen und andererseits an die Aushandlung solcher Konflikte mit anderen Menschen. Das Interessante an den Familienbildern, die Yo Bro zitiert, ist ja, dass sie vortäuschen, dass diese Dinge nicht ausgehandelt werden müssten, als seien es feststehende Parameter, nach denen Familie funktioniert, nach denen Liebesbeziehungen funktionieren, nach denen Geschwister-Beziehungen funktionieren. Dabei geht es doch um die Anerkennung, dass wir alle unterschiedliche Menschen sind, die unterschiedlich von Machtverhältnissen betroffen sind und auch deshalb unterschiedliche Bedürfnisse haben. Und da setzt das Aushandeln an. Dafür müssen wir uns auf unser Gegenüber einlassen und das kann zugegebenermaßen nicht immer konfliktfrei ablaufen. 260 Josephine Apraku/ Joana Tischkau Anmerkungen 1 Die Uraufführung von Yo Bro fand am 24. September 2022 im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main statt. Josephine Apraku hat die Vorstellung von Yo Bro am 11. Dezember 2023 im HAU 2 in Berlin besucht (Anmerkung der Herausgeberinnen). 2 Im Werbeclip zur „ Mini-Wini-Würstchenkette “ von Meica aus den 1990er Jahren wird letztere als ideales Produkt für Kindergeburtstagsfeiern inszeniert. Dabei sieht man ausschließlich weiße Kinder, die die Würstchenkette konsumieren, und hört dazu den gleichfalls von Kindern vorgetragenen Reim: „ Mini-Wini-Würstchenkette lieben Karl und die Annette, auch der Berni und die Ruth finden Mini Wini gut. Und der nimmersatte Peter ist allein nen ganzen Meter. Mini Wini, ist doch klar, ist der Kinderparty-Star. “ , vgl. https: / / bit.ly/ 3JD0EQv [Zugriff am 03. 07. 2023], auf den sich hier bezogen wird (Anmerkung der Herausgeberinnen). 3 Michaela Dudley, Race Relations. Essays über Rassismus, Gütersloh 2022. 261 Zugehörigkeit, Deutungsmacht und Konflikt
