eJournals Forum Modernes Theater 34/2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0025
121
2023
342 Balme

Lernen, die Orientierung zu verlieren: Von der Arbeit am kolonialen Nachleben in Theater, Forschung und Lehre

121
2023
Julia Schade
Leon Gabriel
Wie etwas verlernen, in das wir selbst verstrickt sind? Der Beitrag geht anhand unserer eigenen Praxis als zwei weiße Lehrende in der Theater- und Medienwissenschaft an deutschen Institutionen der Frage nach, wie in der Seminarsituation, theoretischen Diskussionen und szenischen Künsten ein über Jahrhunderte entstandenes koloniales Darstellungs- und Blickregime verlernt bzw. verändert werden kann. Denn diesem Regime stehen wir nicht distanziert als unserem vermeintlich objektiv gegebenen Untersuchungsbereich gegenüber, sondern sind darin mitsamt unseren Disziplinen verstrickt. Um mit dem kolonialen Nachleben unserer Disziplin wie unserer Gegenstände umzugehen, greifen wir insbesondere dekonstruktive Positionen europäischen Denkens auf und bringen diese mit dekolonialen Ansätzen bzw. solchen aus den Black und Critical Race Studies zusammen. Dabei suchen wir nach den Möglichkeiten für unsere Lehre und Forschung, Dekolonisierung als eine Praxis des Orientierungsverlusts zu verstehen, um die bisherigen, am sogenannten ‚Globalen Norden‘ ausgerichteten Denkmuster und Episteme zu hinterfragen. Der Beitrag hebt abschließend einige Schwierigkeiten eines solchen Ansatzes hervor.
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Lernen, die Orientierung zu verlieren: Von der Arbeit am kolonialen Nachleben in Theater, Forschung und Lehre 1 Julia Schade (Bochum), Leon Gabriel (Bochum) Wie etwas verlernen, in das wir selbst verstrickt sind? Der Beitrag geht anhand unserer eigenen Praxis als zwei weiße Lehrende in der Theater- und Medienwissenschaft an deutschen Institutionen der Frage nach, wie in der Seminarsituation, theoretischen Diskussionen und szenischen Künsten ein über Jahrhunderte entstandenes koloniales Darstellungs- und Blickregime verlernt bzw. verändert werden kann. Denn diesem Regime stehen wir nicht distanziert als unserem vermeintlich objektiv gegebenen Untersuchungsbereich gegenüber, sondern sind darin mitsamt unseren Disziplinen verstrickt. Um mit dem kolonialen Nachleben unserer Disziplin wie unserer Gegenstände umzugehen, greifen wir insbesondere dekonstruktive Positionen europäischen Denkens auf und bringen diese mit dekolonialen Ansätzen bzw. solchen aus den Black und Critical Race Studies zusammen. Dabei suchen wir nach den Möglichkeiten für unsere Lehre und Forschung, Dekolonisierung als eine Praxis des Orientierungsverlusts zu verstehen, um die bisherigen, am sogenannten ‚ Globalen Norden ‘ ausgerichteten Denkmuster und Episteme zu hinterfragen. Der Beitrag hebt abschließend einige Schwierigkeiten eines solchen Ansatzes hervor. Decolonization may be understood as a desire for change, or as a need for change; nothing about the concept tells us, however, what this change should be. There is no orienting grid to give us directions in advance. 2 1) Einstieg: Dekolonisieren? Wir erleben aktuell die Auswirkungen von etwas, das vermeintlich längst vorbei schien. Sei es durch die Restitutionsdebatte in Museen, die Diskussion um andere Besetzungspolitik und Rassismus an Theater- und Kulturinstitutionen oder die Forderungen nach einer Dekolonisierung der Universitäten, Curricula und Lehre: Das Nachleben des europäischen Kolonialismus als andauernde „ epistemische Gewalt “ 3 fordert ein, die Ausrichtung an bekannten eurozentrischen Denkweisen und hegemonialen institutionellen Wissenspraktiken zu ‚ verlernen ‘ . Dazu gehört auch, danach zu fragen, aus welcher spezifischen Position heraus entschieden, argumentiert, geschrieben und gelehrt wird, welche Privilegien damit verbunden sind und wer dieses ‚ Wir ‘ überhaupt ist, das sich anmaßt, für andere stellvertretend zu sprechen. Für den Bereich der Künste impliziert die Forderung nach Dekolonisierung darüber hinaus, eingeübte Sehgewohnheiten und Darstellungsregime auf ihre Ausschlüsse und Hierarchien hin kritisch zu hinterfragen, die Rassifizierung und Objektifizierung von Körpern zu problematisieren sowie der Gewalt von Archiven mit anderen Erzählweisen zu begegnen. Es muss also dezidiert auch darum gehen, das koloniale Nachleben innerhalb der facheigenen Theorietradition aufzuzeigen und sich bewusst zu machen, wo ungewollt fortgeschrieben wird, was eigentlich problematisiert, kritisiert und dekonstruiert werden soll: Welche Begriffe, Analyseinstrumente und Denkweisen beru- Forum Modernes Theater, 34/ 2, 262 - 277. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0025 hen auf kolonialen Annahmen? Azadeh Sharifi und Lisa Skwirblies formulieren das Problem wie folgt: Solange wir, die Theaterwissenschaftler*innen im Globalen Norden, nicht das koloniale Erbe unserer Epistemologien kritisch befragen, reproduzieren wir die gewaltvollen Strukturen, die wir dekonstruieren wollen, unabhängig davon, wie viele postkoloniale/ dekoloniale Stücke wir in unsere Lehrpläne aufnehmen. 4 Wir - das heißt die beiden Autor*innen des vorliegenden Beitrages - teilen unsererseits dieses Anliegen. Deshalb werden wir im Folgenden einige der Ansätze aufzeigen, die wir in den vergangenen Jahren in Forschung und Lehre erprobt haben, um mit dem kolonialen Nachleben unserer Disziplin wie unserer Gegenstände umzugehen. Das beinhaltet, anhand unserer eigenen Praxis als zwei weiße Lehrende in der Theater- und Medienwissenschaft an deutschen Institutionen der Frage nachzugehen, wie in der Seminarsituation, theoretischen Diskussionen und szenischen Künsten ein über Jahrhunderte entstandenes Darstellungs- und Blickregime verlernt bzw. verändert werden kann. Ein Regime wohlgemerkt, dem wir nicht distanziert als unserem vermeintlich objektiv gegebenen Untersuchungsbereich gegenüberstehen, sondern in das unsere Disziplinen verstrickt sind. Hierzu greifen wir insbesondere dekonstruktive Positionen europäischen Denkens auf und bringen diese mit dekolonialen Ansätzen bzw. solchen aus den Black Studies und Critical Race Studies zusammen. Wenn wir etwa bereits im Titel den Begriff „ Nachleben “ 5 verwenden, so schließen wir hierbei an die Ansätze Saidiya Hartmans an, die damit das nicht-steuerbare und verschoben laufende Fortwirken konkreter historisch bedingter Gewalterfahrung, aber auch der damit korrespondierenden bzw. davon ausgelösten Denkmuster und Subjektivierungsweisen bezeichnet. Nach einer methodischen Erläuterung unseres An- und Einsatzes werden wir zunächst den titelgebenden ‚ Orientierungsverlust ‘ erörtern, um daran anschließend ein gemeinsam konzipiertes Seminar und Blogprojekt vorzustellen. Daraufhin gehen wir in einem theoretischen Kapitel auf den Zusammenhang von Objektifizierung und Kolonialität ein, was im nächsten Teil mit der Analyse der Inszenierung Is this a Black? am Gegenstand konkretisiert wird. Diese Aspekte beziehen wir schließlich auf die Tendenz im akademischen Betrieb, sich schlicht alles diskursiv einzuverleiben, woraufhin wir abschließend den ‚ Orientierungsverlust ‘ als eine Form der Selbstverunsicherung herausstellen. Wir erheben dabei keineswegs den anmaßenden Anspruch, eine Methode oder ein Rezept dekolonialer Theorie und Praxis vorzulegen. Vielmehr schreiben wir selbst aus einem Prozess des Verlernens heraus. Dementsprechend ist dieser Beitrag eher als ein Arbeitsstand einer Suchbewegung zu verstehen, der dabei auch die Probleme und Fallstricke benennt, die eine Praxis der Dekolonisierung mit sich bringt und vor denen wir nicht gefeit sind. Wo also anfangen? Sharifi und Skwirblies nennen ihrerseits Aufführungsanalyse und Theaterhistoriografie als zentrale Methoden der Theaterwissenschaft, die einer dekolonialen Lektüre bedürften. Wir stimmen dem zwar grundsätzlich zu, dennoch scheint uns ein wesentlicher Aspekt noch zu fehlen: Um „ Wahrnehmungs- und Blickregime “ 6 kritisch zu hinterfragen (insbesondere die eigenen), ist es nämlich gerade die Verschränkung von Aufführungsparadigma und Geschichtsschreibung, 7 die den kolonialen Blick stützt und reproduziert. Unser Ansatz baut auf die in unseren Augen wichtige Intervention der Herausgeberinnen des zitierten Sammelbandes sowie einiger der Beitragenden auf. Allerdings ist uns aufgefallen, dass im Band nur ein Ausschnitt der deutschsprachigen Theaterwis- 263 Lernen, die Orientierung zu verlieren senschaft rezipiert und als pars pro toto für ‚ die ‘ deutschsprachige Theaterwissenschaft gelesen wird. Auch scheint es uns, dass in den vergangenen rund drei Jahren die Beschäftigung mit dem Themenfeld Kolonialismus/ Postkolonialismus/ Dekolonialität (endlich) so deutlich im Fach zugenommen hat, dass es schlichtweg noch eine Diskrepanz zwischen vielfältigen Seminaren und Workshops einersowie den überschaubaren Publikationen andererseits gibt. Wenn Kolonialismus die „ ideology that legitimates European expansion beyond the region ’ s borders “ 8 darstellt, so ist zu diesem zentralen Konzept der europäischen Moderne ebenso die Expansion des Theaterkonzepts eben derselben europäischen Moderne koexistierend: Mit dem globalen Eroberungszug europäischer Staaten verbreitete sich auch der europäische Begriff von ‚ Theater ‘ als einem gerahmten szenischen, meist dramatischen Aufführungsgeschehen vor einem Publikum (einschließlich des korrespondierenden Kunstbegriffes, der Kanonisierung von Werken und des noch in den Avantgardebewegungen, ‚ performativen Wenden ‘ und als ‚ postdramatisch ‘ bezeichneten Theaterformen fortlaufenden Fortschrittsdenkens). Uns erscheint es deswegen als wichtig, dekoloniale Fragen zwar an eine phänomenologisch geschulte Analyse der eigenen Wahrnehmung zu knüpfen, ebenso aber auch an die kritische Auseinandersetzung mit Theater-Dispositiven, um zu untersuchen, welche Vorannahmen und Prozesse darin gerade der Institutionalisierung und Materialisierung des kolonialen weißen Blicks und seiner Ausformung als Objektifizierung Vorschub leisten. Andernfalls nämlich droht die Gefahr, eurozentrische Konzepte von Theater - einschließlich demjenigen der Aufführung - in ihrem normativen Gehalt zu perpetuieren. Zugleich würde das Problem entstehen, den weißen Blick eben nicht mehr strukturell verhandeln zu können, sondern nur noch mittels der je unterschiedlichen Wahrnehmung der empirisch anwesenden und je unterschiedlich situierten Zuschauenden. Unser Einsatz liegt im Folgenden also darin, einer zweifach kritischen Notwendigkeit aus Selbsthinterfragung und genealogischer Analyse nachzugehen sowie dafür die behauptete Neutralität des weißen Blicks weiter zu untersuchen. Anstatt uns auf Handlungen oder gar handelnde Subjekte zu konzentrieren, 9 fokussieren wir die Dispositive oder Assemblagen, die das, was schließlich als Subjekt erscheinen kann (und somit als solches erkannt wird) oder was als Objekt (z. B. der Untersuchung oder des Blickes) produziert wird, allererst ermöglichen - oder eben verhindern. Als zwei Wissenschaftler*innen, die mit Kritischer Theorie und Dekonstruktion akademisch sozialisiert wurden, versuchen wir generell in unserer Arbeit im Sinne einer kritischen, dekolonialen Performance- Theorie und Praxis nachzuvollziehen, wie die mächtige historische Formierung westlicher Theaterparadigmen und dabei insbesondere die damit korrespondierende Konzeption von Ästhetik letztlich zur Bildung eines Kanons sowie einer Normativität geführt haben, die andere Formen ästhetischer Praktiken, Körper und Wahrnehmungen ausschloss und marginalisierte. 10 Das jedoch betrifft immer auch die eigene Involvierung. 2) Vom Orientierungsverlust Wie also etwas verlernen, in das wir selbst verstrickt sind? Es mag bis jetzt so wirken, als sei das Vorhaben einer dekolonisierenden Theorie und Praxis eine Art anzuwendendes Programm. Dass dies aber keineswegs der Fall ist, dass nämlich eine der großen Schwierigkeiten von Dekolonisierung darin liegt, sich eben nicht auf eine einheitliche 264 Julia Schade/ Leon Gabriel Programmatik oder Handlungsanweisung reduzieren lassen zu können, zeigt die französisch-algerische Philosophin Seloua Luste Boulbina eindrücklich auf. Im Anschluss an Frantz Fanon nimmt sie den Dekolonisierungsbegriff und seine politisch-philosophische Genese unter die Lupe und erklärt die Erfahrung der Desorientierung, also die Abwesenheit jeglicher stützender, orientierender Handlungsanweisung, zum wesentlichen Merkmal. In einer Schlüsselpassage in Die Verdammten dieser Erde hatte Fanon die absolute Neuordnung bestehender Machtverhältnisse und die damit einhergehende Verunsicherung bereits als Charakteristik von Dekolonisierung beschrieben: „ Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung. “ 11 Dekolonisierung als politisches Konzept geht also notwendigerweise mit dem Umsturz bisheriger politischer und geistiger Ordnungen einher, das heißt damit eben auch mit einem radikalen Verlust von Orientierung innerhalb unserer gewohnten Denkmuster. Luste Boulbina wiederum knüpft an dieses Moment der Orientierungslosigkeit und Neuordnung an. Sie beschreibt Dekolonisierung zunächst als Praxis der Dekontamination toxischer Weisen des Seins, Denkens und Handelns, zu denen auch „ bodies, minds, imaginaries, fiction, gender, sexuality, collections, etc. “ 12 gehören. Die Dekontamination impliziert jedoch auch folgende Herausforderung an das Denken: „ How - from the North - does one lose direction [comment perdre le nord]? “ 13 Dekolonisierung als politisches Konzept ist ihr zufolge also verbunden mit der Anforderung, die Richtung verlieren zu lernen und so die primäre Orientierung auf den Norden aufzugeben. Wir zitieren noch einmal die am Anfang des Artikels aufgeführte Stelle, die dieses Problem folgendermaßen schildert: Decolonization may be understood as a desire for change, or as a need for change; nothing about the concept tells us, however, what this change should be. There is no orienting grid to give us directions in advance. 14 Die ernüchternde Aussage dieser Passage liegt also darin, dass es schlicht kein generelles Rezept, keine Programmatik, kein allgemeingültiges Orientierungsmuster dafür geben kann, wie Dekolonisierung vonstattengeht, eben weil diese voraussetzt, die bisherigen, am Globalen Norden ausgerichteten Denkmuster zu hinterfragen und sich der entsprechenden Desorientierung auszusetzen. Gayatri C. Spivak verweist mit dem bereits erwähnten Prozess des Verlernens ( „ unlearning “ ) 15 auf eine ganz ähnliche Schwierigkeit, nämlich auf das Ablegen verfestigter eurozentrischer Denkordnungen. Ariella Aïsha Azoulay wiederum schreibt von „ unlearning imperialism “ 16 und betont, die einzige Möglichkeit, die Herausforderung ernst zu nehmen, liege darin, dieses Verlernen immer wieder zu proben, auch wenn dies das eigene Scheitern dabei notwendigerweise mitimpliziere. Das Verlernen zu erproben ist auch bei ihr damit verbunden, sich der zunächst eintretenden Orientierungslosigkeit auszusetzen. Sie beschreibt dies als „ rehearsals of [. . .] losing ground “ 17 . Es geht also darum, sich dem auszusetzen, was es heißt, sich von stabilisierenden Gewissheiten, Machtverhältnissen und Orientierungsrastern zu lösen und zu akzeptieren, dass dies zunächst eine verunsichernde Angelegenheit sein muss. Daher teilen wir den Gedanken eines nötigen Auf- oder Umräumens unserer akademischen Disziplin, obgleich - um im sprachlichen Bild zu bleiben - das gezielte Auf-räumen beispielsweise auch das rassifizierte Erbe unseres Faches als einer Gründung maßgeblich durch den Nationalsozia- 265 Lernen, die Orientierung zu verlieren lismus betreffen müsste. 18 Bevor dann jedoch ein scheinbar ebenso gezieltes Umräumen einsetzen kann, bedürfte es erstmal eben eines Orientierungsverlustes und damit auch der Hinterfragung von Zielen. Welche Konsequenzen hat dies nun für unsere wissenschaftliche Tätigkeit? Wer sich schon etwas länger im akademischen Betrieb allgemein und in der Theaterwissenschaft im Speziellen aufhält, hat wahrscheinlich schlicht mehr zu verlernen. Nun wäre es falsch, so zu tun, als hätten wir nicht als Lehrende doch auch ein gewisses (Theater-) Wissen, das wir an Studierende verpflichtet sind zu vermitteln, obgleich eben offen für eigene Fehlbarkeit und eingedenk der erheblichen Machtasymmetrien. Um etwas zu verlernen, bedarf es eines Durcharbeitens, das heißt einer Bewusstwerdung sonst übersehener und vielleicht als naturalisiert wahrgenommener Bedingungen. Allerdings gehört zu solchen Bedingungen an erster Stelle der Umstand, dass es sich bei den in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft ab Promotionsphase Tätigen um beinahe ausschließlich weiße Menschen handelt. Soll „ Dekolonisieren “ nicht zum bloßen Schlagwort werden, so müssen wir die von unserem Fach reproduzierten „ gendered and racialised hierarchies in collaborative research across geo-political divides “ anerkennen und Wege finden, diesen „ with a critical and ethical awareness “ 19 zu begegnen. Kritik beginnt - darauf haben vor allem feministische Studien hingewiesen - mit der eigenen Situierung. Das betrifft ganz besonders ein Fach wie die Theaterwissenschaft, in dem das Missverhältnis zwischen primär als weiß gelesenen Lehrenden (wie uns) und einer zunehmend heterogenen Studierendenschaft so eklatant zu Tage tritt. Wenn die Situierung zum bloß selbstbestätigenden Sprechakt wird, zementiert dies privilegierte Positionen erneut. Mit großem Unwohlsein beobachten wir etwa, dass es zunehmend zum Standardrepertoire von Vorträgen gehört, sich bspw. als ‚ weißer, heterosexueller, abled-bodied cis-Mann ‘ zu benennen - ohne dass dies dann auch zu Konsequenzen für die eigene Forschungsperspektive und das Markieren ihrer unweigerlichen Grenzen führt. Nicht nur aus diesem Beispiel wird klar, dass die Situierung allein nicht alles bestimmt. Denn genauso wenig wäre gewonnen, hätte sich mit der Situierung das kritische Unterfangen als Ganzes bereits erfüllt. Auch das lässt sich immer wieder etwa bei Tagungen beobachten: Eine an sich gewinnbringende Diskussion schrumpft - beispielsweise, wenn angesichts komplexer künstlerischer Arbeiten nicht einfach aufzulösende Widersprüche entstehen - , allzu leicht allein auf die Frage der Sprecher*innenposition zusammen. Das aber ersetzt ein Problemfeld kurzerhand durch ein vermeintlich leichter zu handhabendes. Es betrifft etwa die strukturelle Kategorie Weißsein, die zwar sinnvollerweise zunehmend an Bedeutung gewinnt, aber selbst im USamerikanischen Kontext erhebliche definitorische Schwierigkeiten in Bezug auf jüdische Menschen aufweist. Umso deutlicher wird dies im deutschsprachigen Kontext: Jüdische Menschen wurden jahrhundertelang als nicht weiß verstanden. 20 Bewusst provokant bezeichnen Hito Steyerl und Mark Terkessidis daher das Einüben von Sprachregelungen sowie die bloße Übernahme scheinbar kritischen Vokabulars aus angloamerikanischen Diskursen ohne deren Anpassung an den hiesigen Kontext als „ neue Mittelschichtsgymnastik “ 21 . Und diese trainiere durch Pauschalisierung und Delegierung der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte „ teilweise konsequent an den komplizierten deutschen Verhältnissen vorbei “ 22 , wie die Autor*innen bezogen auf die Debatte um die Einladung Achille Mbembes zur Ruhrtriennale 2020 sowohl hinsichtlich der Kritiker*innen wie auch Befürworter*innen hervorheben. 23 Be- 266 Julia Schade/ Leon Gabriel ginnt Kritik also mit Situierung, so sollte sie dort nicht direkt wieder enden. 3) In der Praxis: Seminar und Blogprojekt Die bis hier formulierten Überlegungen resultieren maßgeblich aus einem von uns gemeinsam konzipierten Seminar, das wir jeweils im ersten ‚ Coronasemester ‘ im Sommer 2020 parallel am Frankfurter Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (JS) sowie am Bochumer Institut für Theaterwissenschaft (LG) digital gehalten haben. Da im Kontext des Diskurses um Dekolonisierung gerade die sonst im akademischen Betrieb wenig gestellte Frage der Vermittlung und die der Selbstbefragung von Lehrenden so wichtig sind, möchten wir unsere Erfahrungen in diesem Kurs, der in vielerlei Hinsicht sehr prägend für uns war, im Folgenden kurz umreißen. Ein dezidiertes Anliegen war es uns, keine Einführung in die dekoloniale Theorie zu geben, sondern im Sinne des gemeinsamen forschenden Lernens mit fortgeschrittenen Studierenden zu erproben, was es heißt, unsere eingeübten Seh- und Denkgewohnheiten zu verlernen. Dies bedeutete für uns als Lehrende ohne entsprechende Diskriminierungserfahrung zunächst vor allem, dass eine rassismuskritische Sensibilisierung der Studierenden nicht von uns ausgehen und ‚ gelehrt ‘ werden konnte - zumal nicht wenige der Studierenden auch selbst Diskriminierungsbzw. Rassismuserfahrungen gemacht hatten. Deswegen bestand ein entscheidender Teil des Seminars zunächst in der Einbindung von bildungspolitischen Referentinnen (Deborah Krieg, Bildungsstätte Anne Frank und Dilara Kanb ı çak, Gleichstellungsbüro GU Frankfurt), die mit den Studierenden in Workshops angeleitete Diskussionen über diskriminierende Sprache mit dem Ziel führten, sie dafür zu sensibilisieren bzw. bestehendes Wissen darüber auszubauen, wie viele wissenschaftlich und alltäglich verwendete Begriffe das Erbe kolonialer Denkmuster in sich tragen. Es ging dabei in erster Linie darum, den Seminarraum als ein Ort der ‚ Fehlerkultur ‘ zu gestalten. Denn anders als es die Rede von der angeblichen ‚ Cancel Culture ‘ suggeriert, zeichnet genau das in unserem Verständnis Universität als kritischen Ort der Selbstbefragung im emphatischen Sinne aus: In einem respektvollen Umfeld sollten sowohl Lehrende wie Studierende Fehler machen können - was aber die Bereitschaft aller Beteiligten voraussetzt, sich auf solche hinweisen zu lassen. bell hooks zeigt nachdrücklich, was es heißt, kritisches Denken zu vermitteln und schreibt dabei der Lehrsituation und der Pädagogik eine fast utopische Qualität zu: The academy is not paradise. But learning is a place where paradise can be created. The classroom with all its limitations remains a location of possibility. In that field of possibility, we have the opportunity to labour for freedom, to demand of ourselves and our comrades, an openness of mind and heart that allows us to face reality even as we collectively imagine ways to move beyond boundaries, to transgress. This is education as the practice of freedom. 24 Nun ist allerdings zu betonen, dass ein solch freier Möglichkeitsraum in unseren Universitätskontexten traditionell aufgrund bestehender Asymmetrien für einige existiert (bzw. von einigen besetzt wird) - und für andere nicht. hooks schreibt aus Sicht einer Schwarzen Hochschullehrerin mit Blick darauf, für BIPoC-Studierende einen solchen Raum zu ermöglichen. Einen solchen Möglichkeitsraum zu erzeugen, kann für uns aufgrund unserer Situierung vielleicht nur Fernziel unserer Bemühungen bleiben und hängt maßgeblich von allen Beteiligten ab. Das beinhaltet sowohl das Aufgeben einer 267 Lernen, die Orientierung zu verlieren Position der ‚ mastery ‘ 25 in Diskussionen, als auch die Notwendigkeit, zu moderieren und im Fall von beispielsweise verbaler Übergriffigkeit auch einzuschreiten. In unserem Seminar hatte der reflektierende, rassismuskritische Impuls zu Beginn einen interessanten Effekt auf die folgenden Diskussionen: Das Seminar entglitt stellenweise unserer zentralen Diskussionsleitung in äußerst produktiver Weise. Wegen der neuartigen Lehre unter Pandemiebedingungen hatten wir die Kurse hybrid auf die asynchronen Lernplattformen unserer Universität sowie auf das Videokonferenzsystem inkl. vieler Diskussionen in Kleingruppen (Breakoutsessions) verlagert. Beides - asynchroner schriftlicher Austausch und Diskussionsrunden in Kleingruppen - wurden von den Studierendengruppen intensiv genutzt. 26 Als besonders positiv fiel uns dabei auf, dass sich die im engeren Sinne inhaltlichen Fragen des Kurses (also Text- und Inszenierungsanalysen) mit methodischen Fragen zu Positionierung sowie Verallgemeinerbarkeit und Singularität von Erfahrung verbanden, für die es sonst wenig Platz im Curriculum gibt. Hervorgehend aus diesem Austausch haben wir mit den Studierenden ein Blogprojekt 27 realisiert, das nicht nur unseren gemeinsamen Diskussionsstand dokumentieren, sondern den Beteiligten auch die Möglichkeit geben sollte, in einer formal freieren Form des Essays mit der Herausforderung der Selbstbefragung zu experimentieren. Indem die Texte nicht nur von uns, sondern auch von jeweils anderen Teilnehmenden redigiert und kommentiert wurden, setzten sich die Diskussionen, zum Beispiel über Schreib- und Zitierweisen und den Umgang mit problematischen Begriffen, in den Kommentarspalten der Word- Dokumente fort und fanden wiederum Eingang in die veröffentlichten Texte. Weil sich die Beteiligten intensiv dem gemeinsamen Projekt und damit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kolonialismus verpflichtet sahen, war dabei unsere Aufgabe nicht oder zumindest nicht mehr primär diejenige einer regulativen Instanz. Vielmehr haben wir den Studierenden zu verdanken, dass wir auch selbst dazulernen konnten, was es heißt, sich in einer strukturell hierarchisch geordneten Lehrsituation als Lehrende zurückzuhalten und zuzuhören statt zu dozieren. Sowohl Seminar wie auch Blog sind so viel weniger ‚ unsere ‘ Kurse geworden als diejenigen der Beteiligten und ihrem sorgsamen Umgang untereinander. Und trotzdem bleibt eindringlich selbstkritisch zu betonen, dass diese Seminare noch kein Anlass zum Schulterklopfen sind: Insbesondere den Studierenden war ziemlich klar, dass die eigentliche Arbeit damit erst begonnen hatte. 4) Der weiße Blick: Objektifizierungen und Kolonialität Inhaltlich wiederum begann unser Seminar mit der Frage, wie eigentlich aufbauend auf den entsprechenden Debatten aus dem Bereich der Kunstwissenschaft bzw. Provenienzforschung Restitutionen im/ für Theater aussehen müssten. 28 Weil dies neben der Seite der Produktionsbedingungen maßgeblich diejenige von Blickregimes betrifft, beschäftigten wir uns einführend mit dem antikolonialen Film Les Statues Meurent Aussi (1953) von Alain Resnais und Chris Marker. Obgleich seinerseits als historisches Dokument zu sehen, weist der Film darauf hin, wie durch das Herausreißen aus Kontexten Artefakte einem scheinbar neutralen Blick zugeführt und damit zum Objekt gemacht - objektifiziert - werden. 29 Ein Aspekt, den wir nun näher untersuchen wollen. Anstelle einer Fokussierung allgemein auf aesthesis, 30 sehen wir es als relevant an, spezifische Ästhetiken in den Mittel- 268 Julia Schade/ Leon Gabriel punkt zu stellen, insbesondere die Frage, inwiefern diese unser Denken herausfordern und die Bedingungen des Erscheinens selbst ‚ durcharbeiten ‘ . Hierfür lohnt es sich, den Begriff des Dispositivs auch auf historisch bedingte Darstellungsregime zu beziehen, die das Fundament und die Voraussetzungen für die Möglichkeit des Erscheinens selbst und seine Ausschlüsse liefern. Die Betrachtung von Theater als Dispositiv impliziert, wie vielfach dargelegt worden ist, 31 zunächst die Frage nach dem Wie und nicht nach dem Was der Erscheinung und fokussiert nicht den Moment der Aufführung, sondern die Gesamtheit der Beziehungen (Diskurse, Epistemologien, Institutionen, Infrastrukturen und Blickverhältnisse). Dies ermöglicht, den Blick auf die immateriellen Machtverhältnisse der historischen Formation der Guckkastenbühne und ihrer Entwicklung zur Black Box 32 zu werfen, um schließlich danach zu fragen, welche Mechanismen der Ausgrenzung, Objektifizierung und Rassifizierung dieser sowohl eingeschrieben sind als auch von ihr (re)produziert werden. 33 Dazu gehört die Institutionalisierung einer sich selbst neutral und am Geschehen unbeteiligt setzenden distanziert-objektiven 34 Betrachterperspektive im 18. Jahrhundert 35 - eine Position, die sich als Maß der Dinge implementiert, aber selbst im Dunkeln des Theaterraums unmarkiert bleibt. Mit ihr wird ein strukturell weißer Blick zum globalen Standard europäischen Theaters, der sich (auch in den Kolonien) als unabhängig von Zeit, Geschichte, Körper wie Geschlecht behauptet und sich somit beliebige andere Positionen aneignen zu können glaubt, anstatt sich diesen auf eine spezifisch situierte Weise zu nähern. 36 Da Gewalt durch Subjektivierungsweisen bestimmt wird, also dadurch, wer welchen Subjektstatus erhält oder zum Objekt gemacht wird, 37 hat der objektifizierende koloniale Blick weitreichende Folgen. Er wird ‚ sesshaft ‘ , institutionalisiert sich in Theatergebäuden, wissenschaftlichen Institutionen, ethnologischen Museen, Kuriositätenkabinetten, Jahrmärkten sowie später im 19. Jahrhundert in Menschenzoos 38 und Minstrel Shows, die alle auf ihre eigene Weise nicht-weiße Körper ausstellen, fetischisieren und kommodifizieren. Damit geht eine „ Kolonialität der Macht “ 39 einher, die sich als Aneignung und Objektifizierung des Anderen manifestiert. 40 Artefakte etwa, die aus den afrikanischen Kolonien entwendet oder unter zweifelhaften Bedingungen ‚ erstanden ‘ wurden (aber auch solche, die regulär gekauft wurden), mussten, wie die Kunsthistorikerin Yael Biro gezeigt hat, erst aufwändig zu Objekten gemacht werden: Letztlich durch Theatermittel wie Beleuchtung und kleine Bühnen wurden die aus ihren Kontexten entrissenen Artefakte zu gesonderten, von ihren vormaligen Beziehungen abgeschnittenen und damit handelbaren Gütern. 41 Vielleicht liegt hierin letztlich eine der griffigsten Bestimmungen des kolonialen Erbes für unser Fach: Die Annahme einer neutralen Sicht, die alles nach einem Schema ordnet, um hierarchisierend vergleichen zu können. Dafür müssen aber Dinge, Menschen, Körper etc. erst einmal einzeln, gesondert ausgestellt - und damit von ihren Beziehungssystemen abgetrennt werden. All dies impliziert eine bestimmte Denkweise, die sich von dem, was beobachtet wird, distanziert. Boaventura de Sousa Santos schreibt daher der westlichen Moderne ein „ abyssal thinking “ 42 zu, das ausschließt, indem es auf einer abgründigen Trennung zwischen „ dieser Seite “ und „ der anderen “ beruht: Whatever is produced as nonexistent is radically excluded because it lies beyond the realm of what the accepted conception of inclusion considers to be its other. What most fundamentally characterizes abyssal thinking is thus the impossibility of the copresence of 269 Lernen, die Orientierung zu verlieren the two sides of the line. To the extent that it prevails, this side of the line only prevails by exhausting the field of relevant reality. Beyond it, there is only nonexistence, invisibility, nondialectical absence. 43 Als scharfe Unterscheidung ist dieses Ziehen einer Trennungslinie selbst die Grundlage für weitere Unterscheidungen wie „ wir und sie “ , „ Freund und Feind “ , „ Kultur und Natur “ , die andere Epistemologien systematisch unsichtbar machen. Walter Mignolo setzt diesen binären Mechanismen ein „ delinking “ entgegen, das er als eine Abkopplung von den imperialen Epistemen Europas bzw. Nordamerikas versteht, ohne dies allerdings im Detail auszuführen. „ Delinking “ kann den Anschein erwecken, es wäre möglich, sich gänzlich von der kolonialen Moderne loszusagen. An entscheidender Stelle jedoch präzisiert Mignolo: „ But to delink is not to abandon, to ignore. No one could abandon or ignore the deposit and sedimentation of imperial languages and categories of thought. “ 44 Weil ein einfaches Loslösen eben nicht möglich sei, bedürfe es des sogenannten „ border thinking “ , um sich mit den Sedimentierungen kolonialer Denkweisen auseinanderzusetzen. Grenzdenken arbeitet sich an der kolonialen Moderne ab 45 und muss als ein Durchlaufen eben jener Bedingungen verstanden werden, die durch die Antinomien der westlichen Moderne geformt worden sind. 46 Die Gründung eines neuen Denkens wird demnach nur möglich „ in the colonial wounds and imperial subordination “ 47 . Dies sollte jedoch nicht als eine Rückbesinnung auf vermeintlich ursprüngliche Grundlagen der Kultur missverstanden werden. Vielmehr bietet in unseren Augen dieses neue Denken in den „ kolonialen Wunden “ keine festen Identitäten: „ delinking “ als dekolonialer Prozess impliziert damit auch, sich mit jener verunsichernden Desorientierungserfahrung eines schwindenden Grundes zu konfrontieren, die wir bereits in Anschluss an Luste Boulbina beschrieben haben. Während gerade Mignolos Ansatz aufgrund seiner in weiten Teilen strategischen Unschärfe die Gefahr birgt, Dekolonisieren zu einer ubiquitären Parole zu erheben, beschreibt das „ delinking “ letztlich auch keinen Masterplan, sondern das Wagnis, sich vom Meisterhaften zu lösen. 5) Den Blick erwidern und ver-teilen: Is this a Black? In den vergangenen Jahren ist die Thematik der Dekolonisierung in Auseinandersetzung mit dem Theaterapparat und mit Darstellungsregimen von einer ganzen Reihe von Theaterproduktionen verarbeitet worden. Zu denken wäre hier etwa - besonders prominent - an Die Kränkungen der Menschheit von Anta Helena Recke (2019), ebenso wie an die vielfältigen Projekte von Gintersdorfer/ Klaßen (wie etwa Othello, c ’ est qui? , 2008), oder an Danza y Frontera von Amanda Piña/ nadaproductions (2018), aber auch die durchaus umstrittene Performance Sorry von Monster Truck/ Segun Adefila/ The Footprints of David (2017). Zudem ist jüngst auch eine Entwicklung zu beobachten, die den Fokus in Richtung von Vermittlung lenkt und gezielt pädagogische Ansätze in die szenischen Arbeiten einbaut. Eine Inszenierung, die damit eindrücklich umgeht, ist Is this a Black? der brasilianischen Gruppe E Quem é Gosta von 2018, in der Regie von Tarina Quelho. 48 Im Zentrum der Arbeit stehen das Erbe kolonialer Gewalt und Subjektivierungen von als Schwarz gelesenen Körpern. Dabei stellen die vier durchgängig nackt auftretenden Schwarzen Performer*innen Ivy Souza, Luca Wickhaus, Mirella Façanha und Raoni Garcia im Stil von sogenannten Healing Circles, also therapeutischen Run- 270 Julia Schade/ Leon Gabriel den, in poetisch kondensierten Botenberichten eigene Diskriminierungserfahrungen vor, um gleichzeitig Strategien des Empowerments zu artikulieren: sowohl die Bewusstwerdung, was es ausmacht, als Schwarz gelesen zu werden, als auch welche Selbstermächtigung damit verbunden sein kann. Hier wie dort geht es um das praktische, verkörperte Wissen resultierend aus spezifischen Sozialisationen. Die Performer*innen changieren dabei zwischen singulärer Position und chorischem Kollektiv, wobei die Bühne von vorneherein als durchlässig und mit dem Publikumsbereich verbunden etabliert wird. Es geht um Zuschreibungen und Zugehörigkeiten, allerdings nie in essentialisierender Weise. Zu Beginn wird allegorisch der historische Bezugsrahmen der Inszenierung aufgerufen, wenn die Performer*innen in einer Sequenz im Dunkeln ihre wie zum Schrei geöffneten Münder ausleuchten, begleitet von einem unangenehmen, lauten Rauschen. Zusammen mit einem Berg weißer Stühle verweist dieser Anfang auf den Maafa, den Genozid an bzw. die Versklavung von Afrikaner*innen. Nach diesem Einstieg werden nun die Verortungen aller im Raum Versammelten thematisiert, worauf wir näher eingehen möchten. Denn bevor die teils traumatischen Erfahrungen der vier Performer*innen dargelegt werden, entwickeln diese ein Spiel, in das sie das Publikum einbeziehen: Eine Zugehörigkeit oder eine Erfahrung von Zuschreibung wird artikuliert, etwa nach dem Muster: „ Wir, die wir Fans des Fußballvereins Corinthians sind “ . Die Perfomer*innen heben die Hand und sagen „ Wir “ , worin Teile des Publikums einstimmen. Je nach Zuordnung oder Widerspruch zu dem gerade Gesagten, gruppieren sich die Performer*innen dabei zueinander. Aufgerufen werden zunächst Teilungen hinsichtlich von Interessen und Vorlieben, aber auch entlang der großen stratifizierenden gesellschaftlichen Linien von Klasse, Geschlecht bzw. sexueller Orientierung und rassifizierter Zuschreibung. Einige der Aussagen sind harmlos und spielerisch, andere heftiger: So wird auch genannt: „ Wir, die schonmal an einen Laternenpfahl gebunden wurden, um als ein Beispiel zu funktionieren “ oder „ Wir, die wir sterben, während wir auf dem Flur im staatlichen Krankenhaus warten “ . Insgesamt bewegt sich die Übung in Richtung des Themenkomplexes Schule und Bildung, bis die Performer*innen dazu übergehen, von der Lücke in ihrer eigenen Schullaufbahn hinsichtlich des Wissens um den transatlantischen Sklavenhandel zu erzählen, ebenso wie von Diskriminierungserfahrungen aus der Schule. Dieses Spiel ist einfach, aber effektiv, da genügend einbeziehend und zugleich auf subtile Weise verunsichernd. Selbst angesprochen können wir uns zum Gesagten verhalten (und sei es stillschweigend), doch (konkret in unserem Fall) bei den Schilderungen von Diskriminierungserfahrungen sind wir gerade nicht Teil der sich kurzzeitig bildenden Gruppe. In diesem Wechsel öffnet sich das Geschehen immer mehr, um sich zugleich thematisch auf die Zurichtung Schwarzer Körper durch Objektifizierungen zu fokussieren. Unser Punkt ist nun, dass dies dadurch geschieht, dass diese Öffnung durch die Thematisierung von Theater als einem Versammlungsort stattfindet, der jedoch in keiner Weise einfach ein kollektives Ganzes bildet, sondern durch unterschiedlichste Verbindungen und Teilungen stratifiziert ist. So eröffnet sich die zentrale Frage nach den „ Beziehungsweisen “ 49 , die innerhalb des Theaterraums ausgestellt und politisiert werden. Die Stärke der Inszenierung liegt darin, erstens individueller Erfahrung Raum zu geben, diese zweitens strukturell einzubetten (es geht durchweg darum, dass diese Erfahrungen an diesem Ort des Theaters geteilt werden) und vor allem drittens diese Verhandlung als 271 Lernen, die Orientierung zu verlieren eingebettet in eine Beziehungsebene zu thematisieren. Beginnend mit dem kollektiven Auftritt, aus dem sich später jeweils die einzelnen Performer*innen lösen, und dem scheinbar simplen ‚ Zugehörigkeits ‘ -Spiel wird das zurichtende Darstellungsregime in der Inszenierung aufgezeigt und dabei leicht verschoben. Is this a Black? stellt nicht nur den weißen Blick aus, sondern schafft, indem es diesen verschiebt, möglicherweise zumindest ansatzweise einen „ Black Gaze “ 50 im Sinne eines erwidernden Blickes, der sich weigert, ein Subjekt zum Objekt werden zu lassen. Während die Performer*innen von Anfang an den Blick ins Publikum richten, werfen sie diesen im Laufe des Abends deutlicher in einer erwidernden Weise zurück - nicht zwangsläufig provokant, aber bewusster. Diese Erwiderungshaltung beinhaltet allerdings auch eine durchaus schwierige Szene gegen Ende der Inszenierung: Nachdem die Performerin Ivy Souza eine Reihe reichlich geschmackloser rassistischer Witze erzählt hat, macht sie plötzlich einen problematischen Vergleich zwischen Maafa und Shoa. Dieser wird zwar auch innerhalb der Inszenierung wieder revidiert und problematisiert, es bleibt aber letztlich offen, ob es sich um eine bewusste Provokation oder das Ausstellen einer Provokation handelt - und die Frage wäre: Auf wessen Kosten findet das eine wie das andere statt? Was sich provokant gegen die Mehrheitsgesellschaft oder ausstellend an eben diese richten soll, kann letztlich doch vor allem eine andere marginalisierte Gruppe treffen (in dem Fall: jüdische Menschen). Is this a Black? operiert somit an diesem Punkt unentschieden mit vereinfachenden Vergleichen zwischen Rassismus und Antisemitismus. Auch wenn wir diesen Aspekt der Inszenierung als problematisch erachten, war es wiederum im Seminarkontext sehr gut möglich, über die Probleme dieses Vergleichs zu sprechen, insbesondere hinsichtlich des schwierigen Verhältnisses von Rassismus und Antisemitismus bzw. deren jeweiliger Kritik. 51 6) Die Gefahr der Aneignung - die Fortsetzung des weißen Blicks Arbeiten wie Is this a Black? lassen sich einerseits in eine kritische Sicht auf Theaterdispositive und ihrer Geschichte gewaltsamen Ausschlusses einreihen. Andererseits verlangt es die Inszenierung in ihren starken wie ihren schwierigen Momenten, sie eben nicht einfach nur so zu summieren, als dass irgendwie Gewalt gegenüber dem*der*die Anderen verhandelt wird: Der Abend beschäftigt sich mit der spezifischen Zurichtung Schwarzer Körper auf und durch Blicke bzw. Bühnen, um davon ausgehend diesen Blick durch die Involvierung des Raumes zwischen-uns zu dynamisieren und letztlich die Performenden aus diesem emanzipatorisch zu lösen - zumindest ansatzweise. Durch die Arbeit Schwarzer Körper an ihren eigenen Erscheinungsbedingungen besteht nun allerdings im Umgang mit dieser Inszenierung zugleich besonders deutlich die Gefahr einer bloßen Aneignung für den akademischen Betrieb - der Fortsetzung des weißen Blickes, auch dort, wo er scheinbar reflektiert wird. 52 So sind die Lektüre und das Zitieren von Texten Schwarzer Autorinnen, etwa von Hortense Spillers, bell hooks, Christina Sharpe, Saidiya Hartman und Silvia Wynter, gegenwärtig im Kontext feministischer, dekolonialer und antirassistischer Ansätze zu einer gängigen Praxis für weiße und nicht-schwarze Performance-Wissenschaftler*innen geworden, zu denen wir ebenfalls zählen. Obwohl dies im Sinne einer kritischen feministischen Praxis und einer Dekolonisierung des Kanons natürlich zu begrüßen ist (#CiteBlackWomen), läuft dieses Vorgehen doch Gefahr einer 272 Julia Schade/ Leon Gabriel fetischisierenden Aneignung von Blackness und damit der Reproduktion eines weißen Blickregimes, wie Tiffany Lethabo King jüngst dargelegt hat. 53 In Anlehnung an Hortense Spillers 54 nennt King diese Einverleibung Schwarzer Theorie „ pornotroping black embodiment “ 55 und weist damit auf die libidinöse Besetzung des wissenschaftlichen Blicks: Warum arbeiten sich so viele weiße Theoretiker*innen an dem leidenden kolonisierten Schwarzen Körper ab, ohne den eigenen methodischen Zugriff darauf zu reflektieren? So würde die koloniale Tradition, die eigentlich kritisiert wird, fortgeschrieben. Insbesondere problematisiert King die Methode einer Ästhetisierung Schwarzer Positionen als Form der Aneignung durch den wissenschaftlich-distanzierten, sich selbst als neutral setzenden, objektifizierenden und kategorisierenden weißen Blick ( „ look, gaze, capture, know “ 56 ). Auch die dekonstruktive Lektüre Schwarzer Autor*innen in Form von close readings und eines kritischen „ Auseinandernehmens “ ihrer Texte sieht King als Problem: Unter dem „ scholarly gaze “ verwandele diese Methode „ black figures and forms into ‚ captive bodies ‘“ 57 und ähnele damit dem Sezieren eines Körpers, während sich der*die als davon unaffiziert behauptende*r Autor*in als besonders kritisch profiliere. In Zeiten, in denen diese „ sexy-practice of citation “ 58 Eingang in Drittmittelanträge in der Wissenschaft und Förderprogramme für Kunst gefunden hat, während Dekolonisierung als griffiger Slogan für Diversity- Strategien herhalten muss, wird diese Problematik umso virulenter. Speziell im Fach Theaterwissenschaft beobachten wir durch den starken Gegenwartsbezug eine Tendenz (an der wir sicherlich nicht unbeteiligt sind), Themen ähnlich dem Theaterbetrieb wie Trends in immer neuen Wellen zu befördern. Gerade dann, wenn politische Themen mit großer tagesaktueller Dringlichkeit formuliert werden, droht jedoch ihr schneller Verschleiß angesichts immer neuer Problemlagen. Die von King aufgeworfene Kritik erscheint uns also vor allem im Bereich der Theaterwissenschaft relevant, speziell dann, wenn es um Fragen der Darstellung und um das Schreiben über künstlerische Arbeiten sowie über Körper auf der Bühne geht. Unverzichtbar ist demzufolge, die „ embodied-intellectual and ethical work “ 59 ernst zu nehmen, die solche Ansätze einfordern, um sich ihrer nicht einfach nur zu bedienen und sie sich einzuverleiben. King macht deutlich, dass es neben der theoretischen Arbeit, die feministische, dekoloniale, anti-rassistische Disziplinen vornehmen, eben auch um eine „ practice of noticing and carefully attending “ geht, in der es von Bedeutung ist, „ how the white and non-black self emerges in relation to the black texts, art, and people they are reading/ consuming. “ 60 Die wichtige Konsequenz, die wir als weiße Wissenschaftler*innen daraus ziehen müssen, liegt in der konstanten „ parrhesiastischen “ 61 , d. h. uns-selbst-verunsichernden Sprech- und Schreibweise. Wie tragen wir womöglich selbst zu einem „ pornotroping “ Schwarzer (Theorie-)Körper bei? Aber auch von denjenigen von People of Color? Und weiter gefasst: Worin liegt unser eigenes Begehren beim Schauen, Schreiben, Lesen und Lehren? 62 Sicherlich darin, marginalisierten Stimmen Raum zu geben, aber vielleicht auch manchmal darin, besonders up to date bei den neuesten politischen Diskursen und ‚ Theorietrends ‘ zu sein. 7) Ausblick: Die Orientierung aufgeben? Eingedenk der vorgeschlagenen Selbstverunsicherung möchten wir mit einem Ausblick enden, der erneut unsere eigene Position einbezieht: Selbstverunsicherung 273 Lernen, die Orientierung zu verlieren meint, wie erläutert, kein fixes Programm, sondern vielmehr ein Sich-Aussetzen gegenüber einem spezifischen Nicht-Wissen. 63 Bei aller Sympathie für Ansätze des Undoing und Unlearning könnte die zunehmende Popularität dieser Begriffe - etwa durch Titel programmatischer Festivals wie dem Favoriten Festival Dortmund 2022 „ Unlearning for Possible Futures “ bis hin zu Symposien, Sammelbänden oder Beiträgen wie dem unsrigen - eine gewisse direkte Umsetzbarkeit nahelegen. Demgegenüber ließe sich mit Blick auf das bis hier Erörterte starkmachen, dass ein Verlernen erst einmal ein Anerkennen all jener heterogenen und widersprüchlichen Anteile des Wissens beinhaltet. Nach Édouard Glissant wäre ein solches Aufgeben der Orientierung ein ‚ Herumirren ‘ (errance) angesichts der einander gegenläufigen Tendenzen einer globalisierten Welt einschließlich der gewaltsamen Spuren ihrer Vergangenheit und Gegenwart. 64 Für Glissant vermittelt sich Non-Mastery insbesondere durch poetische Erfahrung: Die Poetiken bringen uns allem näher, versetzen uns in die Lage, uns von den globalen Anschauungen oder vom großen Ganzen der Synthese zu lösen, die uns in der Illusion festhalten, das Chaos der Welt wäre in den Griff zu bekommen [cette illusion que nous maîtrisons le chaos du monde]. 65 Den daraus resultierenden Zustand bezeichnet Glissant in Anlehnung an die Sprachtheorie als „ Kreolisierung “ . Dennoch handelt es sich auch hierbei ganz im Sinne Glissants keineswegs um einen einfach zur Synthesebildung geeigneten Begriff. 66 Ähnlich dem Ansatz der „ Hybridität “ (Homi Bhabha) ist auch mit ‚ Kreolisierung ‘ wenig gewonnen, wenn daraus ein vermeintlich allgemeiner Status abgeleitet würde. 67 Das Nachleben des Kolonialismus an einem privilegierten Ort wie der Universität zu verhandeln ist damit immer in einer Widersprüchlichkeit verfangen: Einerseits können und sollten wir Freiräume zu eröffnen suchen, die bestehende Machtasymmetrien unterminieren und gefestigtes (Nicht-)Wissen in Frage stellen. Andererseits ist es die Universität selbst, die sich das ihr heterogene Denken immer wieder in ihre kanonisierenden und hegemonialen Strukturen einverleibt. Ein solch widersprüchlicher „ double bind “ erlaubt es jedoch nicht, diesen Zustand als ein gelebtes Paradoxon selbst zu positivieren, wie es Spivak formuliert: „ In the aporia of the double bind, to decide is the burden of responsibility. The typecase of the ethical sentiment is regret, not self-congratulation. “ 68 Die Orientierung zu verlieren meint zwar ein Nicht-Wissen zu üben. Trotzdem liegt wohl hinter der Suche danach noch ein letztes Begehren nach Meisterschaft und in der Desorientierung manchmal ein Privileg. So bleibt uns die kontinuierliche Arbeit an der Frage, welche Effekte und Konsequenzen unser Einsatz beim Lehren, Schreiben und Forschen hat, und wo Selbstkritik eben nicht reicht, sondern solidarische Allianzen geschmiedet werden müssen. Anmerkungen 1 Dieser Artikel wurde vor den brutalen Massakern der Hamas vom 7. Oktober 2023 an jüdischen und nicht jüdischen Menschen verfasst. Seitdem ist der Krieg in Gaza entfacht, unter dem die palästinensische Zivilbevölkerung mit vielen Toten und Verletzten leidet. Wir beobachten seitdem eine gefährliche Polarisierung - auch in internationalen akademischen Diskursen. Bezogen auf den vorliegenden Artikel möchten wir vor allem einen Aspekt hervorheben: Im Zuge dieser Polarisierung taucht verstärkt die vereinfachende Darstellung auf, beim israelischpalästinensischen Konflikt handele es sich um einen Kampf von Kolonisatoren einer- und Kolonisierten andererseits. Die Komplexität von Geschichte und Gegenwart der Region wird jedoch durch eine solcherma- 274 Julia Schade/ Leon Gabriel ßen schablonenhafte Sicht verstellt. Als besonders fehlgeleitet erweist sich die Behauptung, die Verbrechen der Hamas seien notwendiger Teil eines antikolonialen Widerstandes. Nichts rechtfertigt diese Gräuel. Solche Positionen sind Wasser auf die Mühlen derer, die pauschal eine Delegitimierung ‚ der ‘ Post- und Decolonial Studies betreiben. 2 Seloua Luste Boulbina, „ Decolonization “ , 24. 05. 2019, https: / / www.politicalconcepts. org/ decolonization-seloua-luste-boulbina/ [Zugriff am 18. 11. 2022]. 3 Gayatri Chakravorty Spivak, „ Can the Subaltern Speak? “ , in: Cary Nelson / Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Champaign 1988, S. 271 - 313. 4 Azadeh Sharifi, Lisa Skwirblies, „ Ist die deutsche Theaterwissenschaft kolonial? Ein Plädoyer für eine epistemologisch gerechtere Theaterwissenschaft “ , in: Dies. (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2022, S. 27 - 59, hier S. 29. 5 Saidiya Hartman, „ Venus in zwei Akten “ , in: Dies., Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint), Berlin 2022, S. 85 - 120, hier S. 112. 6 Sharifi, Skwirblies, „ Ist die deutsche Theaterwissenschaft kolonial? “ , S. 46. 7 Ulrike Haß, „ Gegenwartsdiagnostik und die Zeit des Theaters “ , in: Gerda Baumbach / Veronika Darian / Günther Heeg et al. (Hg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 91 - 101. 8 Luste Boulbina, „ Decolonization “ . 9 Vgl. Richard Schechner, Performance Studies. An Introduction, London/ New York 2006, S. 1: „ Performances are actions “ . In der Folge Schechners waren die US-amerikanischen Performance Studies primär einem solchen Handlungsbegriff verschrieben. Besonders durch den Bezug auf den New Materialism und die Critical Race Studies hat sich dies gewandelt und entsprechend werden in den vergangenen Jahren auch zunehmend die inhärenten Ausschlüsse eigener Theoriebildung thematisiert. Wir danken Rebecca Schneider für unseren Austausch hierzu. Vgl. bspw.: Amelia Jones, „ Material Traces: Performativity, Artistic ‚ Work ‘ , and New Concepts of Agency “ , in: TDR: The Drama Review 59/ 4 (2015), S. 18 - 35; Rebecca Schneider, „ That the Past May Yet Have Another Future: Gesture in the Times of Hands Up “ , in: Theatre Journal 70/ 3 (2018), S. 285 - 306; Sarah Jane Cervenak, Black Gathering. Art, Ecology, Ungiven Life, Durham 2021. Der Wandel lässt sich auch im Schreiben Judith Butlers wiederfinden: Standen in ihrer frühen Arbeitsphase noch „ performative Akte “ samt ihrer Wiederholungsstruktur im Vordergrund, so wurden die rahmenden Bedingungen und schließlich die (materiellen wie immateriellen) Infrastrukturen immer wichtiger, so etwa besonders deutlich in: Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Frankfurt am Main 2016, S. 17. 10 Vgl. Simon Gikandi, Slavery and the Culture of Taste, Princeton University Press 2011; Ruth Sonderegger, „ Kants Ästhetik im Kontext des kolonial gestützten Kapitalismus “ , in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 17: Sensibilität der Gegenwart (2018); S. 109 - 125; David Lloyd, Under Representation. The Racial Regime of Aesthetics, Fordham 2018. 11 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Hamburg 1966, S. 27. 12 Luste Boulbina, „ Decolonization “ . 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Gayatri Chakravorty Spivak, Sarah Harasym, The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, New York und London 1990, S. 14. 16 Ariella Aïsha Azoulay, Potential History: Unlearning Imperialism, London 2019, S. 36. 17 Ebd. 18 Die Fokussierung auf die scheinbar alleinige Gründungsfigur Max Herrmann verdeckt allzu leicht, dass die institutionalisierte Theaterwissenschaft erst im Nationalsozialismus wirklich erstarken konnte - mitsamt entsprechend antisemitischer und völkischer Programmatik. 19 Swati Arora, „ A manifesto to decentre theatre and performance studies “ , in: Studies in 275 Lernen, die Orientierung zu verlieren Theatre and Performance, 41/ 1 (2021), S. 12 - 20, hier S. 16. 20 Vgl. Wulf D. Hund, Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus, Stuttgart 2017. 21 Hito Steyerl, Mark Terkessidis, „ Die Wahrnehmungsschwelle “ , 10. 01. 2021, https: / / w ww.zeit.de/ 2021/ 02/ rassismus-deutschlandrechtsextremismus-kolonialismus-antisemi tismus/ komplettansicht [Zugriff am 27. 11. 2022]. Für eine frühe Übersetzung angloamerikanischer postkolonialer Studien in den deutschsprachigen Raum vgl.: Hito Steyerl / Encarnación Gutiérrez Rodriguez (Hg.), Spricht die Subalterne Deutsch? Migration und Postkoloniale Kritik, Münster 2018, S. 270 - 290, hier S. 282. 22 Steyerl, Terkessidis, „ Die Wahrnehmungsschwelle “ . 23 Vgl. Jörn Etzold, „ Grenzen der Repräsentation. Die Ruhrtriennale und BDS “ , in: Texte zur Kunst 119 (2020): „ Anti-Antisemitismus “ , S. 61 - 74. 24 bell hooks, Teaching to transgress: education as the practice of freedom, London 1994, S. 207. 25 Julietta Singh, Unthinking Mastery: Dehumanism and Decolonial Entanglements, Durham 2018. 26 Es ist wichtig anzumerken, dass die Studierendenschaft der Kurse divers war, doch immer noch mehrheitlich weiß. Auch darüber haben sich die Studierenden viel ausgetauscht. 27 https: / / theaterdekolonisierenseminar.word press.com [Zugriff am 28. 11. 22]. 28 Vgl. Felwine Sarr, Bénédicte Savoy, Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019; Bénédicte Savoy, Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, München 2021. 29 Vgl. Martha Nussbaum, „ Objectification “ , in: Philosophy & Public Affairs 24 (1995), S. 249 - 291.; Anna Fenemore, „ The Pleasure of Objectification: A spectator ’ s guide “ , in: Performance Research 12/ 4 (2007), S. 4 - 13. 30 Walter Mignolo, Rolando Vázquez, „ The Decolonial AestheSis Dossier “ , Social Text 2013, https: / / socialtextjournal.org/ periscope _article/ decolonial-aesthesis-colonial-woun dsdecolonial-healings/ [Zugriff am 23. 11. 2022]. 31 Vgl. Lorenz Aggermann / Georg Döcker / Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung, Berlin 2017. Siehe hierin insbesondere die Beiträge von Lorenz Aggermann, Ulrike Haß, Bojana Kunst und Nikolaus Müller-Schöll. 32 Vgl. Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005. 33 Vgl. Hito Steyerl, „ White Cube und Black Box. Die Farbmetaphysik des Kunstbegriffs “ , in: Maureen Maisha Eggers et al. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Berlin 2017, S. 135 - 43. 34 Vgl. Mariam Popal, „ Objektivität. Desiring Subjects “ , in: Susan Arndt / Nadja Ofuatey- Alazard (Hg.), (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2019, S. 463 - 483. 35 Vgl. Haß, Das Drama des Sehens, S. 67. 36 Vgl. Leon Gabriel, Bühnen der Altermundialität. Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis, Berlin 2021. 37 Vgl. Rita Segato, Contrapedagogías de la crueldad, Buenos Aires 2018. 38 Vgl. Anne Dreesbach, Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „ exotischer “ Menschen in Deutschland 1870 - 1940, Campus 2005; Pascal Blanchard et al. (Hg.), Human zoos. Science and spectacle in the age of colonial empires, Liverpool 2008. 39 Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Wien und Berlin 2019. 40 Vgl. Stuart Hall, Representation: Cultural Representations and Signifying Practices, Sage 1997. 41 Vgl. Yael Biro, Fabriquer le regard. Marchands, réseaux et objets d ’ art africains à l ’ aube du XX e siècle, Dijon 2018. 42 Boaventura de Sousa Santos, Epistemologies of the South. Against Epistemicide, Boulder 2014. 43 Ebd., S. 118. 276 Julia Schade/ Leon Gabriel 44 Walter Mignolo, Madina V. Tlostanova, „ Theorizing from the Borders Shifting to Geoand Body-Politics of Knowledge “ , in: European Journal of Social Theory 9/ 2 (2006), S. 205 - 221, hier S. 218 - 219. 45 Vgl. Luste Boulbina, „ Decolonization “ . 46 Walter Mignolo, „ Delinking. The rhetoric of modernity, the logic of coloniality and the grammar of de-coloniality “ , in: Cultural Studies 21/ 2 - 3 (March/ May 2007), S. 449 - 514, hier S. 493. 47 Mignolo, „ Delinking “ , S. 493. 48 Wir haben die Inszenierung jeweils bei unterschiedlichen Aufführungen gesehen und beziehen uns zudem auf eine uns zur Verfügung gestellte undatierte Videoaufzeichnung. 49 Die politische Philosophin Bini Adamczak hat diesen Begriff entwickelt, um dem Dilemma zu entgehen, sich in Gesellschaftskritik entweder auf Strukturen wie etwa Organisationen, Institutionen oder den Staat zu beziehen oder alternativ auf Individuen, die Familie oder das Singuläre. „ Das soziale Sein (Beziehung) bestimmt das Selbstbewusstsein (Identität). “ Mit den „ Beziehungsweisen “ richtet Adamczak das Augenmerk nicht allgemein auf Beziehungen, sondern auf deren Qualitäten. Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017, S. 252. 50 Vgl. Tina Campt, A Black Gaze: Artists Changing How We See, Cambridge 2021. 51 Parallel zu den Seminaren lief die bereits erwähnte Debatte um die Einladung Achille Mbembes zur Ruhrtriennale. 52 Es gehört zu einer der wesentlichen Erkenntnisse der Dekonstruktion, dass jeder ‚ reflexive ‘ Diskurs gerade in der behaupteten Transparenz und Rückbezüglichkeit Leerstellen produziert, die den eigenen Standpunkt umso mehr immunisieren. 53 Tiffany Lethabo King, „ Off Littorality (Shoal 1.0): Black Study Off the Shores of ‚ the Black Body ‘“ , in: Propter Nos 3 (2019), S. 40 - 50. 54 Vgl. Hortense Spillers, „ Mama ’ s Baby, Papa ’ s Maybe: An American Grammar Book “ , in: Diacritics 17/ 2 Culture and Countermemory: The „ American “ Connection (1987), S. 64 - 81. 55 King, „ Off Littorality “ , S. 44. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 45. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Vgl. zur Parrhesia als Kunst der riskanten Widerrede, die „ den Gouvernementalitäten, die uns regieren und produzieren, zu widerstehen “ versucht: María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, „ Postkolonialer Feminismus und die Kunst der Selbstkritik “ , in: Steyerl / Gutiérrez Rodriguez (Hg.), Spricht die Subalterne Deutsch? , hier S. 287. 62 bell hooks, „ Das Einverleiben des Anderen. Begehren und Widerstand “ , in: Dies., Black Looks. Popkultur - Medien - Rassismus, Berlin 1995, S. 33 - 56. 63 Charles W. Mills, „ Weißes Nichtwissen “ , in: Kristina Lepold / Marina Martinez Mateo (Hg.), Critical Philosophy of Race. Ein Reader, Frankfurt am Main 2021, S. 180 - 216, hier S. 184. 64 Vgl. Édouard Glissant, Poetics of Relation, Ann Arbor 1997, S. 11 - 22. 65 Édouard Glissant, Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite, Heidelberg 2021, S. 69. 66 Umso problematischer wäre es, diese zur Parole zu erheben. Für die Diskussionen zu diesem Thema danken wir Evelyn Annuß. 67 So entsteht Kreolisierung schlicht aus dem Verbot afrikanischer Muttersprachen im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels. Der Ursprung ist - wie sowohl Glissant als auch Hartman immer wieder betonen - nur als Entzug zu denken und nichts, was sich in ein einfach Gegebenes wandeln ließe. Vgl. Glissant, Poetics of Relation, S. 6; Saidiya Hartmann, „ Der Bauch der Welt. Eine Anmerkung zu den Arbeiten schwarzer Frauen “ , in: Dies., Diese bittere Erde, S. 65 - 84, hier S. 65. 68 Gayatri Chakravorty Spivak, An Aesthetic Education in the Era of Globalization, Cambridge, MA 2012, S. 104 f. 277 Lernen, die Orientierung zu verlieren