Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0026
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2023
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BalmeZur Vielgestaltigkeit immersiver Konstellationen. Überlegungen aus der Sicht der kritischen Phänomenologie
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Karina Rocktäschel
Dieser Beitrag möchte das existierende Wissen um Immersion in den performativen Künsten, welches sich vor allem als Diskurs zum umbrella term immersivesTheater entfaltet, um Perspektiven aus der kritischen Phänomenologie unter Einbezug einer Vielzahl künstlerischer Beispiele überdenken. Ziel ist es, ein Verständnis von Immersion vorzustellen, das konzeptuell auf Wissen aus der kritischen Phänomenologie beruht und gegenstandsorientiert um einen multidimensionalen Ansatz bemüht ist. Mit diesem möchte der Beitrag zu einer Reflexion über Orientierungen und Desorientierungen wissenschaftlicher Theorie anregen.
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Zur Vielgestaltigkeit immersiver Konstellationen. Überlegungen aus der Sicht der kritischen Phänomenologie Karina Rocktäschel (Berlin) Dieser Beitrag möchte das existierende Wissen um Immersion in den performativen Künsten, welches sich vor allem als Diskurs zum umbrella term immersivesTheater entfaltet, um Perspektiven aus der kritischen Phänomenologie unter Einbezug einer Vielzahl künstlerischer Beispiele überdenken. Ziel ist es, ein Verständnis von Immersion vorzustellen, das konzeptuell auf Wissen aus der kritischen Phänomenologie beruht und gegenstandsorientiert um einen multidimensionalen Ansatz bemüht ist. Mit diesem möchte der Beitrag zu einer Reflexion über Orientierungen und Desorientierungen wissenschaftlicher Theorie anregen. 0. Ausganglage Mein Ausgangspunkt ist zunächst eine recht allgemein gehaltene Frage: „ Welche Orientierungen ermöglicht eigentlich meine Wissensproduktion? “ Diese Frage, die die performative Wirkung des eigenen Wissens selbstreflexiv verhandelt, stand grundlegend am Anfang meines Promotionsprojektes. Sie war der Beginn einer strategischen Suche nach Beispielen, die das Thema meines Projektes - Immersion - verhandeln, ohne einen normativen Kanon zu wiederholen, ohne das Wissen post- und dekolonialer Theorie auszuklammern, ohne nur Beispiele zu benennen, die weiße und heteronormative Positionen bestärken, wenngleich ich natürlich meine eigene weiße Position nie verlassen kann. Diese Suche war angetrieben von Möglichkeiten eines Queerings, d. h. vom Wunsch nach einem Durchbrechen normativer Wissensproduktion, einem Verlassen immer gleicher Pfade, einer Abwendung von den immer gleichen Linien in der Untersuchung des Phänomens Immersion, einem Nicht-Folgen des bisherigen Kanons und dessen Genealogien, „ whereby ‚ not following ‘ involves disorientation; it makes things oblique, which in turn opens up another way to inhabit those forms. “ 1 Wie Sara Ahmed hier beschreibt, ist Desorientierung ein Ergebnis dieser Abwendung. Sie ermöglicht, bereits etablierte und bekannte Phänomene mit anderen Inhalten zu füllen. Nachfolgend möchte ich einen Einblick in mein Forschungsprojekt geben, das maßgeblich von Ahmeds queerer Phänomenologie inspiriert ist. Hierbei geht es mir nicht unbedingt darum, einen groß angelegten Akt des Auf- und Umräumens in einem Haus, das Materialien über das Immersive beherbergt, zu vollziehen, sondern mit kleineren Umräumarbeiten zu beginnen, die das Wissen über Immersion und dessen Einbindung in bestimmte Theorietraditionen (Subjekt- und Machtkritik), den Beispielkorpus sowie den daran gebundenen Kanon ausweiten, vervielfältigen und dadurch neu und anders befüllen. So möchte ich mit diesen Umräumarbeiten Platz für mehr und andere Perspektiven schaffen, deren institutionelle Verankerung wiederum tiefgreifende Veränderungen nach sich ziehen muss. Multidimensionalität und Desorientierung sind daher mein nachfolgendes Angebot für Umräumarbeiten im eigenen Haus. Forum Modernes Theater, 34/ 2, 278 - 290. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0026 1. Immersion, ‚ immersive theatres ‘ und immersive Formate Das Phänomen Immersion sowie immersive Theaterformen werden seit mehr als zehn Jahren in der Theaterwissenschaft ausgiebig untersucht. Diese Analysen umfassen Formbestimmungen darüber, was immersives Theater sei und von konventionellem Theater abgrenze. 2 Sie zeigen sich ebenfalls als kritische Theorien über die Kommerzialisierung und Neoliberalisierung von Theater. 3 Zudem wird Immersion als spezifisches ästhetisches Phänomen konturiert 4 oder als ein Begriff hervorgehoben, der unzählige Strategien beinhaltet, die darauf abzielen, das Versprechen einer Position jenseits der Grenzen des eigenen Körpers, des unmittelbaren Standorts oder der endlichen Anzahl gelebter Erfahrungen zu verwirklichen. 5 Gerade im anglophonen Raum hat sich der Terminus ‚ immersive theatres ‘ etabliert, um vielzählige theatrale Formen und Performances unter einer Begrifflichkeit des Theaters zu versammeln. Mit dieser Begriffsbestimmung kommt aber auch ein Gestus zur Wiederholung, den die Theaterwissenschaftlerin Elinor Fuchs beim postdramatischen Theater bereits kritisiert hat. So strebe ein solcher Terminus und dessen ausschließliche Benennung des Theaters danach, eine breite Palette von Aufführungsformen zu absorbieren und unter einem Theaterbegriff zu subsumieren. 6 Wäre es - dieser Kritik folgend - nicht fruchtbar, über die Multidimensionalität immersiver Formate nachzudenken? Der Begriff der Konstellation, wie ihn Ulrike Haß vorgeschlagen hat, eignet sich für eine Benennung dieser verschiedenen Formate meines Erachtens besonders gut, eben weil er die Singularität eines ästhetischen Komplexes, d. h. ein „ in sich differenzierendes Gefüge “ anzeigen kann, das selbst „ nicht ohne Umwelt ist. “ 7 Und sobald „ menschliche Akteure oder Betrachter dazukommen, spielen Affekte eine Rolle. “ 8 Ästhetische Konstellationen sind eigenständige Zusammensetzungen, die „ unterscheiden, trennen, denken “ 9 . Doch können sie nicht auch im gesellschaftlichen Feld soziale Wirkungen entfalten? Wenn ja, welche Wirkungspotentiale können immersive Konstellationen bereitstellen? Welche Theorie der Immersion kann auf die Vielgestaltigkeit von Konstellationen selbst hinweisen? Bei letzterer Frage möchte ich nachfolgend anfangen und mich auch hier zunächst auf Ulrike Haß beziehen. So schreibt sie, dass sich die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty einer Theorie der Immersion annähere: Merleau-Ponty verwirft zuletzt sogar den Gedanken einer Umgebung, die etwas ( ‚ meinen Leib ‘ ) einschließt (In-der-Welt) und nähert sich einer Theorie der Immersion. Der Leib ist ‚ zur Welt ‘ , nicht ‚ in ihr ‘ wie in einer Schachtel. 10 An diese Gedanken möchte ich zunächst anknüpfen und mit Wissen aus der kritischen Phänomenologie erweitern, um zunächst einen differenzsensiblen Zugang zu einem phänomenologisch fundierten Begriff von Immersion zu gewähren. 2. Immersion und Ansätze der kritischen Phänomenologie Ein Körper ist als Orientierungszentrum der Ausgangspunkt jeglicher phänomenologischer Betrachtung. Körper, ihre Wahrnehmung und Sinnlichkeit sind allerdings, wie Sara Ahmed in ihrer Queer Phenomenology 11 herausarbeitet, keine unbeschriebenen Leiber, wie es die traditionelle Phänomenologie seit Husserl begründete. Körper und ihre sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten werden von Ordnungssystemen und Geschichten, die sich in Körpern als diese sedimentieren, hervorgebracht. Sie sind 279 Zur Vielgestaltigkeit immersiver Konstellationen nicht unabhängig von ihrer sozialen Situiertheit zu denken. Frantz Fanon hat zur Berücksichtigung des sozialen Umfelds auf die Entwicklung des Körpers und des Selbst den Begriff der Soziogenese eingeführt und neben die etablierten Konzepte der Phylogenese und Ontogenese gestellt. 12 Dieser bezeichnet die zwingende Verschränkung von der jeweiligen weltlichen, sozialen Umgebung auf die Art und Weise, wie wir uns als Menschen wahrnehmen und wieder auf unsere Umgebung zurückwirken. Nach Lisa Guenther beschreibt der Begriff Soziogenese einen andauernd anhaltenden Prozess auf der Grundlage etablierter sozialer Praktiken und Existenzstile, in denen allerdings ein unbestimmter Horizont für ein anderes Werden gegeben sei. 13 Welten, besonders die weiße Welt, werden auf der Grundlage von Ordnungsfunktionen gebildet, die nach Guenther als soziogenetische Kraft beschrieben werden kann. By sociogenic force, I mean a material, historical power to generate and intensify particular forms of social being, including individuated subjects and the spatiotemporal social order that Fanon calls ‘ the white world ’ . 14 Soziogenese hebt die Tatsache hervor, dass eine Betrachtung der individuellen Erfahrung nie ohne die soziale Umgebung, in die meine Erfahrung und damit letztlich auch mein Körper als Orientierungszentrum eingebettet ist, erfolgen kann. „ Diese doppelte Blickrichtung auf verkörperte Erfahrung einerseits und auf sozio-kulturelle Umgebungen in ihrer Geschichtlichkeit anderseits ist “ , wie Jan Slaby schreibt, „ in heutigen Arbeiten der Postphänomenologie fest etabliert. “ 15 Mit der Postphänomenologie, vor allem auch der kritischen Phänomenologie, werden neuere Ansätze in der Philosophie bezeichnet, die in den letzten Jahren durch das Wissen von feministischen Theorien, Critical Race Theory, Queer Studies, von Forscher*innen im Bereich Disability und Indigenous Studies sowie Ansätzen dekolonialer Theorien die klassische Phänomenologie entschieden erweitert haben. 16 Sie zeichnen sich insbesondere durch einen Methodenpluralismus aus. 17 In diesen Erkenntnissen wird nicht nur deutlich, dass es eine intrinsische Verschränkung von körperlichen Erfahrungen und historisch situierten Welten sowie deren Machtverteilung in wechselseitiger Hervorbringung gibt, sondern dass Körper in diesen Welten nicht unidirektional eingebettet und eingetaucht sind, in ihnen, ihrem Raum und ihrer Zeit weder einfach immanent enthalten sind, noch gegebene Verhältnisse transzendental übersteigen können. 18 Heben manche phänomenologische Ansätze eine „ unreflective immersion in our lived experience “ 19 oder „ unproblematized immersion in the world “ 20 hervor, betonen andere die Komplexität dieses phänomenologischen Tatbestands einer Immersion in der Welt, in deren Räumen und in deren Zeitlichkeit sowie die Vielgestaltigkeit von Welten. Die Philosophin Alia Al-Saji umschreibt mit Metaphern wie ‚ flüssig ‘ , ‚ atmosphärisch ‘ und ‚ gespenstisch ‘ die Wirkung einer ‚ colonial durée ‘ ( ‚ colonial duration ‘ ), die Orientierungen von Körpern hervorbringt. 21 So beschreibt sie, dass Menschen in der Vergangenheit eingetaucht sein können oder aus ihr auftauchen, und dass deren Wirkung Einfluss auf ihr verkörpertes Sein in der Gegenwart hat. Der von Henri Bergson übernommene Begriff der Dauer ( ‚ durée ‘ ) akzentuiert eine nie endende, unaufhaltsam sich in die Gegenwart einschiebende Vergangenheit, die durch ihre Abwesenheit zwar konzeptualisiert, aber nicht beschrieben werden kann. Ihre Aktualisierung zeigt sich - wie Al Saji mit Hinweis auf Merleau-Ponty deutlich macht - , in Orientierungen und Desorientierungen. 22 280 Karina Rocktäschel Sara Ahmed wiederum beschreibt das Ineinanderwirken von Raum und Körper folgendermaßen: Rather bodies are submerged, such that they become the space they inhabit; in taking up space, bodies move through space and are affected by the ‘ where ’ of that movement. It is through this movement that the surface of spaces as well as bodies takes shape. 23 Der Begriff der Immersion umschreibt damit nicht einfach das Vorhandensein von Körpern in der Welt, ihr Eingebettetsein in der Welt, sondern ihre Einbettung in Körper-Umgebung-Verschränkungen und deren gegenseitiges Hervorbringen als Orientierungen. Das heißt, Körper sind Zur-Welt gerichtet. Affekte spielen hierbei eine wichtige Rolle. So schreibt Shiloh Whitney: When we begin our phenomenological investigation from everyday perceptual experience, we find that the fundamental self-relating movement of experience is not the selfrelating negativity of consciousness-raising itself up out of immersion in the unreflective flow of living. It is rather the persistently prereflective sensorimotor and affective body becoming oriented in the world with others. 24 Whitney weist hier explizit darauf hin, dass unsere Weltwahrnehmung und insbesondere Veränderungen in den sozialen Gegebenheiten nicht einfach aus einer Transzendenz der bewussten Erfahrung ableitbar seien. Das Zur-Welt-Sein wird durch den präreflexiven, sensomotorischen und affektiven Körper ausgebildet. Dieser ist in die Welt eingetaucht und eingebettet, allerdings ergeben sich die besonderen Qualitäten dieser Immersion aus den bereits vorhandenen Welten, aus der Aktualisierung einer nicht endenden Vergangenheit und mit ihr einhergehenden Ordnungsstrukturen. Es geht hierbei um sensomotorische und affektive Orientierungen und Ausrichtungen Zur- Welt, die nur durch unsere singuläre Verbindung zur Welt und zu anderen als unsere eigenen Erfahrungen generiert werden. Aber auch Desorientierungen durchziehen unsere Lebenswelt, nämlich dann, wenn Körper keinen Halt und keine Verlängerung ihrer Körperlichkeit in den Raum hinein spüren können. Affektive Orientierungen wiederum können sich als Des-Affizierungen zeigen, d. h. als Arten und Weisen eben nicht affiziert zu sein. 25 Auch sexuelle Orientierungen sind hier von Gewicht. So schreibt Sara Ahmed: „ The body orientates itself in space, for instance, by differentiating between ‚ left ‘ and ‚ right ‘ , ‚ up ‘ and ‚ down ‘ and ‚ near ‘ and ‚ far ‘ , and this orientation is crucial to the sexualization of bodies. “ 26 Unsere Räume und Welt(en) sind gemäß einer heterosexuellen Matrix strukturiert, so dass sich für einige Körper ein Gefühl des ‚ sinking feeling ‘ einstellt. Für andere, queere Körper beispielsweise, ist Arbeit notwendig, um solche Räume und Orte zu produzieren, die eine Reorientierung, d. h. eine Nähe zu anderen Körpern und Objekten mit ähnlicher sexueller Orientierung ermöglichen. 27 Wie Sara Ahmed weiter ausführt, gibt es ständige Wechselwirkungen zwischen Körpern und ihren Umgebungen, zwischen den Elementen, die in Räumen und Umgebungen angeordnet sind. In einen Raum eingetaucht zu sein, bedeutet - Ahmeds weiteren Ausführungen folgend - sich zu den jeweiligen Umgebungen zu orientieren. Schließlich beschreibt auch Ahmed, dass diese Orientierungen Effekte einer sedimentierten Geschichte seien, die gleichzeitig auf die Zeitlichkeit durch ihr Verhalten und Gesten Einfluss nehmen: „ Orientations shape what bodies do, while bodies are shaped by orientations they already have, as effects of the work that must take place for a body to arrive where it does. “ 28 Auch Whiteness kennzeichnet Ahmed als eine Orientierung auf der Grundlage einer Habitualisierung, die bestimmte Dinge in Nähe stellt und 281 Zur Vielgestaltigkeit immersiver Konstellationen andere wiederum in den Hintergrund drängt. 29 So skizziert sie Whiteness als etwas, das einigen Körpern in Raum und Zeit Orientierungen vorgebe und Objekte in Nähe/ Distanz zu Körpern bringe. 30 Ein Konzept der Immersion kennzeichnet mit diesen Ansätzen, die die Performativität und Verschränkungen von Körper und Welt beschreiben, weder einen einseitig vollzogenen Distanzverlust (den eines Subjekts zum Objekt) noch eine intensive, totale Erfahrung (des rezipierenden Subjekts) oder eine sich auf intersubjektiver Ebene vollziehende Verengung der Affizierungspotentiale. Ausgehend von Ulrike Haß ‘ Erkenntnis, dass die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty sich einer Theorie der Immersion annähere, möchte ich mit der Bezugnahme auf diese postphänomenologischen Ansätze Immersion zunächst als Begriff, der die vielgestaltigen Ausrichtungen des Zur-Welt-Seins umschreibt, hervorheben. Die nachfolgend skizzierten vier Arbeiten möchte ich als solche immersiven Konstellationen herausstellen, die verschiedene Aspekte dieses phänomenologischen Tatbestandes besonders hervorheben, mit bestimmten Themen zusammenbringen (Globalisierung, Ökologie und Kolonialität, Performance im White Cube, queerfeministische Geschichte) und hierbei ganz bestimmte Wirkungspotentiale entfalten. Diese Vielschichtigkeit möchte ich als Spektren der Immersion benennen. 3. Spektren der Immersion Flinn Works, Global Belly (2017): „ Immersive und interaktive Bühnenproduktion “ 31 2018 nahm ich an der von der Theater- und Performancegruppe Flinn Works inszenierten Produktion Global Belly zu transnationaler Leihmutterschaft teil. 32 In dieser Arbeit wurde Teilnehmenden Einblick in verschiedene Situationen von Personen, die mit Leihmutterschaft verbunden sind, gegeben. Dafür wurden wir zunächst als Publikum in Gruppen aufgeteilt und konnten interaktiv verschiedene Szenen miterleben. Wir mussten in bestimmte Rollen schlüpfen und uns in relativ kurzer Zeit mit verschiedenen Lebensbedingungen auseinandersetzen. Diese waren für mich als Person, die sich mit Leihmutterschaft bisher kaum auseinandergesetzt hatte, völlig neu. Bei meinem Besuch der Performance fand ich mich in folgenden Situationen wieder: Ich war zunächst Eva, die lesbische Freundin und werdende Patentante eines schwulen Paares, das per Leihmutterschaft ein Kind erhalten wird. In einer anderen Situation traf ich mit meinem Lebenspartner als heterosexuelles, kinderloses Paar auf unsere potenzielle Leihmutter aus den USA. Diese Situation war auf ein gegenseitiges Kennenlernen angelegt. Die Frau gab uns Einblicke in ihr Leben und in ihre Motivation für die Arbeit als Leihmutter. Dann saß ich selbst als in Indien lebende und arbeitende Leihmutter vor einer indischen Ärztin, die die finanziellen Aspekte dieser Arbeit und die damit einhergehende Unabhängigkeit betonte, die Leihmutterschaft für Frauen in Indien ermögliche. Und schließlich traf ich auf eine ukrainische Agentin, die mir versprach, dass alle Wünsche bezüglich eines Kindes mit einer ukrainischen Leihmutter erfüllt werden könnten. 33 Ich musste mich in die verschiedenen skizzierten Lebensbereiche einfinden, die primär von den Schauspieler*innen vorgegeben wurden und im Hinblick auf Szenografie nur minimalistisch ausgestattet waren. Die interaktiven Szenen fanden an verschiedenen Positionen im Raum statt und wurden durch Holzwände abgetrennt. Dort saßen wir entweder gemeinsam an einem Holztisch (bei den Familiengesprächen) oder einfach auf Klappstühlen gegenüber der Ärztin oder der ukrainischen Agen- 282 Karina Rocktäschel tin. Die Dialoge wurden thematisch von den Schauspieler*innen vorgegeben. Wir wurden in unseren jeweiligen Rollen, die sich erst in der Ansprache durch die Darstellenden ergaben, zur Interaktion aufgefordert. Ich erhielt so Einblicke in das Thema Leihmutterschaft, wobei mir Global Belly einen einfach zu bewertenden Standpunkt (pro/ contra) zum Thema Leihmutterschaft verwehrte, um so dieses Sujet multiperspektivisch zur Aushandlung zu stellen. Precious Okoyomon, Earthseed (2020): „ immersive landscape installation “ 34 / „ immersive habitat “ 35 Im Jahr 2020 war die immersive Installation Earthseed von Precious Okoyomon im Frankfurter Museum für Moderne Kunst zu sehen. Precious Okoyomon ist ein*e nigerianisch-amerikanische (nicht-binäre) Künstler*in, der*die Ökosysteme in den Kunstraum bringt. In der Frankfurter Ausstellung Earthseed wurde der Ausstellungsraum von der dicht wachsenden Kletterpflanze Kudzu und den diesem Habitat zugehörigen Kleinstlebewesen bevölkert. Zudem wurden sechs Figuren aus Rohwolle und Schmutz im Raum platziert, durch den sich die Besucher*innen hindurchbewegen mussten. Der Titel der immersiven Installation ist eine Referenz auf Oktavia Butlers Romane Parable of the Sower (1993) und Parable of the Talents (1998), bei denen „ Earthseed “ der Name einer Religion ist. 36 Okoyomons immersive Habitate erinnern mich an Riverbed von Olafur Eliasson (2014) oder Pierre Huyghes After Alife Ahead (2017) und damit an verschiedene Formen von Kunst, die ökologische Systeme in den Ausstellungsraum zur Aufführung gebracht haben. So auch die Arbeit Earthseed: Okoyomon hat ein lebendiges Habitat mit Skulpturen erschaffen, die an eine posthumane Welt erinnern, die es in der Zukunft geben könnte - verwildert, ohne Menschen - , die zugleich eine Vergangenheit beinhaltet, die nicht aufgehört hat zu sein. In dieser Vergangenheit ist die Plantage eine machtvolle Figuration kolonial-rassistischer und ökologischer Herrschaft, die aber auch zu Praktiken des Widerstandes aufgerufen hat. 37 Die für die Installation verwendete Kletterpflanze Kudzu ist hierbei von Bedeutung. So wurde Kudzu im Süden der Vereinigten Staaten als Pflanze der Bodenerneuerung im Jahr 1876 eingesetzt, da die Böden infolge der Baumwollproduktion kaum mehr nutzbar waren. Es ist eine Pflanze aus Japan, die für ihr schnelles Wachstum bekannt ist und in den Südstaaten nach Auspflanzung unkontrolliert wucherte. Aufgrund dieser Unkontrollierbarkeit ist eine Anpflanzung von Kudzu heute verboten und gehört (wegen ihrer Eigenschaften) zu den sogenannten „ invasiven Arten “ . Die Besucher*innen durchstreifen diesen lebendigen transhistorischen Museumsraum und können hierbei eine Erfahrung machen, die für eine Zukunft nach dem Menschen sensibilisiert. Distanziert von der alltäglichen Umgebung treten sie hier in ein Habitat ein, das in seiner Spekulation über eine nicht anthropozentrische Zukunft und in Referenz zur Geschichte der Plantage und des Kolonialismus eine Wiedergutmachung der zerstörerischen Kraft des westlichen Anthropozentrismus einleitet und dadurch eine Zeremonie der Heilung vollzieht. 38 New Scenario, Whiteout (2019): „ immersive Erfahrung “ 39 Whiteout war eine Ausstellung, die im Jahr 2019 im NRW-Forum in Düsseldorf stattfand 40 und sich als weltweit erste Virtual Reality-Gruppenausstellung bezeichnete. Hier wurden Performances von der in New York lebenden Künstlerin Maria Hassabi, des dänischen Künstlers Christian Fals- 283 Zur Vielgestaltigkeit immersiver Konstellationen naes und der ghanaischen Künstlerin Va- Bene Elikem Fiatsi mit einer 360°-Kamera aufgenommen. Mit einer VR-Brille konnten folglich drei verschiedene Performances rezipiert werden, was - wie es in der Ankündigung hieß - eine singuläre und immersive Erfahrung ermöglichen sollte. Nach Aufsetzen der VR-Brille war ich zunächst in einen unendlich weit wirkenden weißen Raum eingetaucht, in dem ich mich erst einmal orientieren musste. Hier konnte ich dann einzelne Performances auswählen, in die ich hineinzoomen konnte. Die für mich eindrücklichste Performance war wouNdedwouNd (2018) von Va-Bene Elikem Fiatsi. Im Vordergrund war ein großes orangerotes Stoffstück platziert, in dessen Zentrum sich eine weiße Toilettenschlüssel befand. Va-Bene Elikem Fiatsi stand in rotem Kleid an der Seite des Stoffstückes. Sie entblößte sich, lief zur Kloschüssel, kniete nieder, tauchte den Kopf hinein, braune Flüssigkeit spritzte heraus, im aufgetauchten Mund befand sich ein Kleidungsstück, braune Flüssigkeit lief am Körper hinunter. Diese Szenen wiederholten sich mehrmals. Während der Sichtung verspürte ich Ekel, Gefühle der Anstrengung und Erschöpfung übertrugen sich auf mich, während ich den Kopf beim Ein- und Abtauchen in diese Kloschlüssel beobachtete. Es kam mir vor wie eine Suche nach möglicher, passender, vielleicht auch richtiger, angemessener Kleidung. Doch was kann schon angemessen sein in einer heteronormativen, kolonialen und rassistischen Welt, die für Trans*- Personen ohnehin viel Anstrengung und Erschöpfung bedeutet? Sehe ich hier eine Ver- und Aushandlung von Va-Bene Elikem Fiatsi mit ihrem Trans*-Sein innerhalb einer kolonial geprägten Welt? Die Szene affizierte mich stark. Gleichwohl wurde die Affizierung von der Wahrnehmung des Hintergrundes immer wieder unterbrochen. An manchen Stellen drängte sich der weiße Hintergrund dermaßen in meine Wahrnehmung, dass mir eine eigene körperliche Verankerung in der Wahrnehmungssituation sowie eine Aufmerksamkeitsfokussierung kaum noch möglich waren. Der endlose weiße Raum konnte all diese Performances im Virtuellen nebeneinanderstellen und löschte damit jede Ortsgebundenheit aus. „ Whiteout “ ist ein Begriff aus der Meteorologie. Bei diesem Phänomen kommt es infolge einer starken Helligkeit dazu, dass der Horizont in der eigenen Wahrnehmung verschwindet und der Raum als unendlich wahrgenommen wird. In dieser virtuellen Gruppenausstellung wird der White Cube als dominantes Ausstellungsdispositiv der Moderne in die virtuelle Welt verlängert und referiert damit auf seine nicht unproblematische Farbsymbolik. 41 Obwohl mein Weißsein historisch gesehen meinen Zutritt zur Institution Kunst erleichtert und mir einen Ort vorgibt, in der sich mein Körper niederlassen und ausdehnen kann, wird mir das von der virtuellen Rahmung der Ausstellung verwehrt. Die Performances wouNded-wouNd berührt mich und produziert Aufmerksamkeit, aber der endlose weiße Raum bringt auch Gefühle der Desorientierung hervor. Der weiße horizontlose Hintergrund von Whiteout desorientiert mich. Lediglich die einzelnen Performances bieten mir durch ihr Affizierungsgeschehen Möglichkeiten der Orientierung in diesem erweiterten virtuellen Raum an. Die Ausstellung generiert für mich daher Gefühle zwischen Entortung und Verortung, lässt mich in einem verunsichernden Dazwischen zurück, das letztlich auch die Folge der Darstellung von Va-Bene Elikem Fiatsis Vulnerabilität ist, die mich berührt. Deidre Logue und Allyson Mitchell, Killjoy Kastle (2013/ 2015): „ Deep Lez Immersion “ 42 Im Jahr 2015 eröffnete das Killjoy Kastle seine Türen in Los Angeles für ein Publikum, das an diesem „ lesbian feminist haunted 284 Karina Rocktäschel house “ 43 interessiert war. Die beiden in Kanada ansässigen Künstler*innen Deidre Logue und Allyson Mitchell inszenierten mit dem Killjoy Kastle einen (vermeintlichen) Grusel-Parcours, der eine formelle Parodie eines sog. „ Hell House “ darstellte. Diese „ Hell Houses “ sind theatrale immersive Formen, die seit den 1990er Jahren von christlichen Organisationen jährlich zu Halloween in den Vereinigten Staaten errichtet und bespielt werden. 44 Sie dienen der moralischen Erziehung der Teilnehmenden, weil hier Themen aufgezeigt werden, die von den Macher*innen als Sünde angesehen werden (z. B. Selbstmord, Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe). In dem Parcours Killjoy Kastle aber konnten verschiedene Stationen und Begegnungen mit Figuren, Ideen und Geschichten des US-amerikanischen Feminismus und vor allem lesbischer Kultur mit Humor durchlaufen werden. Eine Gruppe von maximal zehn Besucher*innen konnte während der Öffnungszeiten das Haus kostenlos betreten. Bereits vor dem Betreten des Parcours gab es verschiedene Angebote an die Besucher*innen, sich auf die Inhalte des Killjoy Kastles einzulassen. So begegneten Besucher*innen in der Wartereihe einer untoten Valerie Solanas, konnten sich auf dem „ Friedhof der toten feministischen Ideen “ umsehen, eine „ Halle der warnenden Zeichen “ (z. B. „ This ain ’ t no woman house “ ) oder ein „ Café der lesbischen Zombie-Folk- Sänger*innen “ betreten. 45 Nach Eintritt in das eigentliche Haus wurden die Besucher*innen schließlich von einem als dement dargestellten Professor für „ Women Studies “ begrüßt, der als Guide während des Aufenthaltes fungieren sollte. Übertreibungen, aber auch das Spiel mit Stereotypen prägten die Narrationen des Parcours sowie die in ihm auftretenden Figuren. Die Besucher*innen mussten ferner durch einen speziell ausgestalteten Eingang mit Namen „ The Marvellous Emasculator “ weitere Räume betreten. 46 Hierzu gehörte beispielsweise ein Party-Raum, der als „ Riot Ghoul and Gender Studies Professor Dance Party “ beschrieben wurde. Auch gab es einen aufwendig gestalteten „ Pussy-Torbogen “ 47 sowie ein geschlechtlich uneindeutiges, haariges Loch, durch das die Besucher*innen hindurchgehen mussten. Der Parcours war multisinnlich angelegt, verschiedene Soundscapes und Gerüche durchzogen die Räume. Besucher*innen konnten diese Räume durchstreifen und erfuhren humorvoll dargestellte und angebotene Inhalte aus einer queer-feministischen und lesbischen Geschichte, um an diese zu erinnern und diese in den und für die Teilnehmenden zu vergegenwärtigen. Das Killjoy Kastle war nicht an ein Museum oder eine Galerie angebunden, sondern primär von und für die queere Community und sekundär für alle weiteren Interessierten eingerichtet. Es handelt sich um vier verschiedene Beispiele mit divergenten Inhalten und verschiedener institutioneller Rahmung. In all diese Konstellationen musste ich entweder eintreten, interagieren oder mich in sie einbringen. Technologie-Körper-Verschränkungen, Interaktionen mit anderen Teilnehmenden oder Darsteller*innen und räumliche Bewegungen bringen unterschiedliche sensomotorische und affektive Orientierungen bei Teilnehmenden hervor, die sich von Strategien der Generierung einer kollektiven Aufmerksamkeit unterscheiden. 48 Das sich im 18. Jahrhundert etablierte westliche theatrale Dispositiv als spezifisches Gefüge von Bühnenraum- Akteur-Publikum, dem ein „ fiktiver Blick “ eingeschrieben ist, 49 wandelt zu vielfältig ausgestalteten und lokal situierten Situationsgefügen, bei denen die Zuschauer*innen mobilisiert werden und der Bühnenraum als klar definierter Ort abgeschafft wird. 50 Diese Kennzeichnung von Veränderungen in der Adressierung und Einbindung des Publi- 285 Zur Vielgestaltigkeit immersiver Konstellationen kums ist sicherlich nichts gänzlich Neues oder etwas Besonderes, sondern kennzeichnet eine Verschiebung im westlichen Theaterdispositiv, deren Theoretisierung selbst aus einer westlichen Position heraus argumentiert. Zu erörtern bleibt daher, was Multidimensionalität ermöglicht. Global Belly ist eine Inszenierung im institutionalisierten Theater, die sich einer Strategie der pluralen Sichtweisen bedient, um so auf die Komplexität globaler Verflechtungen hinzuweisen. Precious Okoyomon erschafft mit Earthseed einen Raum, der auf eine Zeitlichkeit von Vergangenheit und Zukunft, auf koloniale und ökologische Zerstörung gleichermaßen hinweist und im institutionellen Kunstkontext situiert ist. Dort ist auch die VR-Ausstellung Whiteout verortet. Sie beinhaltet drei verschiedene Performances, die ich im erweiterten virtuellen Raum vereinzelt mittels einer VR-Brille erfahren konnte. Und das Killjoy Kastle ist ein queer-feministischer Kunstparcours, der sich in Ästhetiken des Amateurhaften sowie Praktiken von Drag verortet, die in einer Genealogie einer queeren Verweigerung von Mastery stehen. 51 All diese Räume und die in ihnen heraufbrechenden Zeitlichkeiten affizieren die Körper der Teilnehmenden für bestimmte Inhalte, Erzählungen und Bedeutungen, die mit verschiedenen Materialien, Körpern und Technologien vermittelt werden. Die Teilnehmenden werden in den Räumen verschiedentlich mobilisiert, müssen Räume selbst durchschreiten und sich darin orientieren. Die Räume und ihre Atmosphären hinterlassen bei den Teilnehmenden Eindrücke, schließlich ist die Haut jene Vermittlungsstelle zwischen Körper und Welt, wie Sara Ahmed hervorhebt: „ Bodies may become orientated in this responsiveness to the world around them, given this capacity to be affected. “ 52 Die Teilnehmenden können folglich körperliche und affektive Orientierungsweisen erfahren, die sich aus dem Situationsgefüge, d. h. aus der Form sowie der lokalen Verortung ergeben. Gleichsam steht die Art und Weise, wie hier Teilnehmende orientiert und positioniert werden, in Relation zu gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, d. h. zu hegemonialen Verhältnissen. Das Killjoy Kastle beispielsweise benutzt ein in Kanada und der USA bekanntes Format ( „ Hell House “ ) und auch in der ökonomischen Populärkultur bekannte Formen der Unterhaltung (Geisterbahnen, Dungeon) und setzt diese gegen eine Geschichtsvergessenheit zugunsten eines Vergegenwärtigens queer-feministischer und lesbischer Lebenswelten ein. Das immersive Habitat von Precious Okoyomon mit seinen übergroßen Figuren und wilden, floralen Formen ist in einer Geschichte Schwarzer Diaspora eingebettet. Es steht in Referenz zu einer Kolonialgeschichte und deren ökologischen Auswirkungen, was seit einiger Zeit mit dem Begriff „ Plantationocene “ 53 diskutiert wird, generiert aber auch eine heilende, erholende Umgebung, die der Zerstörung und Auslöschung trotzt. Die erste virtuelle Gruppenausstellung Whiteout steht mit einer spezifischen Institutionsgeschichte des White Cubes in Beziehung, in denen Performances Körper als ein spezifisches Material zur Generierung von ästhetischer Verunsicherung einsetzen. Die einzelnen Performances wiederum bringen in diesen virtuellen Ausstellungsraum ihre eigenen Geschichten in einer paradoxalen Doppelung von Verortung und Entortung, die sich für mich als ein Gefühl der Verunsicherung äußert. Global Belly von Flinn Works ist ein im Theater situierter Beitrag zum Thema Leihmutterschaft. Mit theatralen Mitteln (Szenographie, Schauspiel, Interaktion) werden hier globale Verflechtungen anhand des Themas Leihmutterschaft aufgezeigt und so zur Aushandlung gestellt. Das Immersive entfaltet in meiner Lesart der Beispiele folglich vier verschiedene Wirkungspotentiale (Vergegenwärtigung, Heilung, Verunsicherung, Aushandlung). 286 Karina Rocktäschel Immersive Performances, immersive Installationen oder immersive Räume konturieren verschiedene Konstellationen, in die ich mich zunächst begeben muss, um durch mein Vorhandensein und meine Verschränkung mit den angebotenen Erfahrungsräumen eine Orientierung zu bestimmten Inhalten zu erhalten, für Perspektiven aus dieser Welt sensibilisiert zu werden, um mich in diese Konstellationen selbst einzubringen. Die hier angeführten Beispiele stammen von sehr unterschiedlichen künstlerischen Akteur*innen. Sie erschaffen immersive Konstellationen aus ganz bestimmten Perspektiven und mit verschiedenen Inhalten und Wirkungsdimensionen. Zur Bestimmung dieser ergänze ich meine Aufführungserfahrung mit den mir zur Verfügung stehenden Materialien der Aufführung, die die Wirkungsabsichten formulieren, und mit Wissen zur Einordnung der Performances, wodurch ich meine Erfahrung wiederum ins Verhältnis zu Diskurs und Wissen setze, diese diskursiv einhole. Multidimensionalität ist auch hierbei wichtig, denn verschiedene Beispiele allein zeichnen selbst noch keine differenzierte Vielstimmigkeit auf, verschiedene Diskurse und Referenzstränge allerdings schon. Und genau diese Verschiedenheit ist von Gewicht und kennzeichnet die Möglichkeit des Ansatzes einer Desorientierung. 4. Für einen Forschungsansatz der Desorientierung Sara Ahmed fragt im Schlusswort ihres Buches Queer Phenomenology danach, was eine Politik der Desorientierung leisten kann und antwortet Folgendes: „ Disorientation, then, would not be a politics of the will but an effect of how we do politics, which in turn is shaped by the prior matter of simply how we live. “ 54 Eine Desorientierung ist folglich das Ergebnis der Art und Weise, wie wir Politik machen, die wiederum gebunden ist an die eigene Lebensweise. Dieser performative Einsatz zeigt seine Auswirkungen schließlich in der Lebenswelt: In calling for a politics that involves disorientation, which registers that disorientation shatters our involvement in a world, it is important not to make disorientation an obligation or a responsibility for those who identify as queer. 55 Desorientierung erschüttert folglich unsere Einbeziehung in die Welt, unser eigenes Zur- Welt-Sein. Sara Ahmed vollzieht in ihrem Buch diese Desorientierung in und mit der Phänomenologie, um diese letztlich für queere, feministische und anti-rassistische Weltzugänge zu öffnen, um die Phänomenologie mit und gegen ihre Gründer zu lesen und folglich zu erweitern. Indem ich mich bewusst frage, welche Orientierungen meine Forschung ermöglicht und ich nach Gegenständen sowie theoretischen Ansätzen suche, die für eine queere, feministische und anti-rassistische Welt sensibilisieren können, möchte ich die von Ahmed formulierte Politik der Desorientierung in einen Forschungsansatz umleiten, der schließlich die Verschiedenartigkeit gelebter Erfahrung in immersiven Konstellationen aufscheinen lassen kann. Eine Untersuchung der verschiedenen Wirkungsdimensionen des Immersiven lässt bestimmte Schlussfolgerungen zum „ Reiz des Immersiven “ hervortreten. Denn wenn immersive Konstellationen bspw. an eine queer-lesbische Geschichte erinnern und diese folglich vergegenwärtigt, wenn Poetiken aus diasporischer Geschichte heraus entwickelt werden und zu einer Heilung gegenwärtiger Krisen anregen, wenn die Komplexität der Welt gegenüber einer unterkomplexen Eindimensionalität zur Aushandlung gestellt wird oder ich eine Verunsicherung infolge des Aufzeigens 287 Zur Vielgestaltigkeit immersiver Konstellationen von Schmerz und Vulnerabilität erfahren kann, die mein eigenes Weißsein hinterfragt, so kann das Potential der Immersion eben nicht nur auf Einbindung in gegenwärtige Macht- und Ökonomieverhältnisse reduziert werden. 56 Es zeigt sich in diesen Beispielen aus den performativen Künsten als eine multidimensionale Ästhetik, deren Wirkungspotentiale sich unterschiedlich im gesellschaftlichen Feld positionieren und Handlungsangebote (Vergegenwärtigen, Heilen, Aushandeln, Verunsichern) auf der Grundlage der vielgestaltigen eigenen gelebten Erfahrung an die Rezipient*innen machen - eine Vielgestaltigkeit, die konstitutiver Bestandteil der Moderne (mit all ihren negativen und positiven Aspekten) ist. Diese Wirkungsdimensionen lassen sich, so meine hier vertretene These, nicht mit Ansätzen zu ästhetischen Erfahrungen einholen, die ohnehin von Feminist*innen, der Critical Race Theory und im Nachdenken der Ästhetik selbst in Kritik geraten sind. 57 Der Philosoph Georg Bertram zeigt zudem auf, dass die theoretische Konzeption ästhetischer Erfahrung auf einem Zirkelschluss basiert, der das Besondere der Kunst (= ästhetische Erfahrung) ausgehend von ihrem gesonderten Status hervorzuheben versucht. Eine mögliche Wirksamkeit von Kunst im gesellschaftlichen Gefüge wird hierbei eigentlich fraglich, geht es doch um eine nicht als sozial konturierte Erfahrung, sondern um eine ästhetische auf der Grundlage eines interessenlosen Wohlgefallens. 58 Das Vergegenwärtigen von verdrängter Geschichte, das Heilen von Trauma, das Aushandeln sozialer Beziehungen und die Verunsicherung vermeintlich stabiler Positionen aber können die sozialen Wirkungsdimensionen von Ästhetik im gesellschaftlichen Feld anzeigen. Mit der Herausarbeitung dieser Wirkungsdimensionen kann eine soziale Ästhetik des Immersiven konturiert werden. 5. Schlussbemerkungen Die hier angeführten Ansätze der kritischen Phänomenologie heben hervor, dass es von Gewicht ist, welche sozialen Positionen sprechen und über ihre Orientierungen reflektieren können. Eine an den realen Gegebenheiten orientierte Vielstimmigkeit in der Wissensproduktion kann daher nur mit verschiedentlich verorteten Standortbestimmungen wiedergegeben werden. Theorie kann für die damit einhergehenden strukturellen Veränderungen sensibilisieren. Sie kann den institutionellen Wandel aber nicht selbst herbeiführen. Anmerkungen 1 Sara Ahmed, „ Orientations: Toward a Queer Phenomenology “ , in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 12/ 4 (2006), S. 543 - 574, hier S. 569. 2 Vgl. Jospehine Machon, Immersive Theatres: Intimacy and Immediacy in Contemporary Performance, Basingstoke 2013; Theresa Schütz, Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater, Berlin 2022. 3 Vgl. Adam Alston, Beyond Immersive Theatre. Aesthetics, Politics and Productive Participation, Basingstoke 2016; Keren Zaiontz, „ Narcissistic Spectatorship in Immersive and One-on-One Performance “ , in: Theatre Journal 66/ 3 (2014), S. 405 - 425. 4 Vgl. Doris Kolesch, „ Ästhetik der Immersion “ , in: Georg Bertram / Stefan Deines / Daniel Martin Feige (Hg.), Die Kunst und die Künste. Ein Kompendium zur Gegenwart, Berlin 2021, S. 422 - 441. 5 Vgl. Liam Jarvis, Immersive Embodiment. Theatres of Mislocalized Sensation, Cham 2019, S. 10. 6 Vgl. Michael Shane Boyle, Matt Cornish, Brandon Woolf, „ Introduction: Form and Postdramatic Theatre “ , in: Dies. (Hg.), Postdramatic Theatre and Form, London 2019, S. 1 - 19, hier S. 5. 288 Karina Rocktäschel 7 Ulrike Haß, „ Konstellationen denken “ , in: Leon Gabriel / Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie, Bielefeld 2019, S. 181 - 198, hier S. 197. 8 Ebd. S. 198. 9 Ebd. 10 Ebd. S. 185. 11 Vgl. Sara Ahmed, Queer phenomenology. Orientations, objects, others, Durham 2007. 12 Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Wien/ Berlin 2016, S. 11. 13 Lisa Guenther, „ Seeing Like a Cop: A Critcal Phenomenology of Whiteness as Property “ , in: Emily S. Lee (Hg.), Race as phenomena. Between phenomenology and philosophy of race, Lanham u. a. 2019, S. 189 - 206, hier S. 193. 14 Ebd., S. 192. 15 Jan Slaby, „ Stichwort Postphänomenologie “ , in: Information Philosophie 50/ 2 (2022), S. 34 - 38, hier S. 35. 16 Vgl. Gail Weiss, Ann V. Murphy, Gayle Salamon, „ Introduction: Transformative Descriptions “ , in: Dies. (Hg.), 50 concepts for a critical phenomenology, Evanston/ Illinois 2020, S. xiii - xiv, hier S. xiii. 17 Vgl. Elisa Magrì, Paddy McQueen, Critical phenomenology. An introduction, Cambridge 2023, S. 2; Slaby, „ Stichwort Postphänomenologie “ , S. 34. 18 Vgl. Shiloh Whitney, „ Immanence and Transcendence “ , in: Weiss et al. (Hg.), 50 concepts for a critical phenomenology, S. 189 - 196. 19 Cressida J. Heyes, Anaesthetics of existence. Essays on experience at the edge, Durham/ London 2020, S. 15. 20 Johanna Oksala, „ The method of critical phenomenology: Simone de Beauvoir as a phenomenologist “ , in: European Journal of Philosophy, 31/ 1 (2023) (2022), S. 137 - 150, hier S. 140. 21 Alia Al-Saji, „ Dureé “ , in: Weiss et al. (Hg.), 50 concepts for a critical phenomenology, S. 99 - 106, hier S. 102, Hervorhebung K. R. 22 Ebd. 23 Ahmed, Queer phenomenology, S. 53, Hervorhebung K. R. 24 Whitney, „ Immanence and Transcendence “ , S. 191. 25 Vgl. Xine Yao, Disaffected. The cultural politics of unfeeling in nineteenth-century America, Durham 2021. 26 Ahmed, Queer phenomenology, S. 67, Hervorhebung i. O. 27 Ebd., S. 100. 28 Ebd., S. 58. 29 Vgl. Sara Ahmed, „ A phenomenology of whiteness “ , in: Feminist Theory 8/ 2 (2007), S. 149 - 168. 30 Vgl. Ebd., S. 154. 31 Vgl. https: / / sophiensaele.com/ de/ archiv/ stu eck/ flinn-works-global-belly-zoom [Zugriff am 12. 02. 2023]. 32 Flinn Works, Global Belly (Premiere: 12. 10. 2017, Sophiensaele Berlin). 33 Während der Corona-Pandemie wurde die Performance zu einer Zoom-Performance umgewandelt. An dieser nahm ich am 24. 03. 2022 erneut teil. Dort wurde die Szene mit der ukrainischen Agentin aufgrund des russischen Angriffskriegs nicht wiederholt. 34 Ayanna Dozie, „ Precious Okoyomon Ushers Dirt, Blood, and Butterflies into the Venice Biennale “ , https: / / www.artsy.net/ article/ art sy-editorial-precious-okoyomon-ushers-dirt -blood-butterflies-venice-biennale [Zugriff am 12. 02. 2023]. 35 Coco Romack, „ The Artist Who Transforms Galleries Into Forest And Fields “ , https: / / w ww.nytimes.com/ 2021/ 05/ 03/ t-magazine/ pr ecious-okoyomon-artist-shed.html [Zugriff am 12. 02. 2023]. 36 Vgl. https: / / www.mmk.art/ de/ whats-on/ pre cious-okoyomon/ [Zugriff am 12. 02. 2023]. 37 Vgl. Janae Davis et al., „ Anthropocene, Capitalocene, . . . Plantationocene? : A Manifesto for Ecological Justice in an Age of Global Crises “ , in: Geography Compass 13/ 5 (2019), S. 1 - 15. 38 Zu der Installation zugehörig sind zwei Werke mit je eigenem Titel. Der Teil, der mit Kudzu angepflanzt ist, trägt den Titel „ Resistance is an atmospheric condition “ . Darauf nehme ich hier Bezug. Der Teil mit den Skulpturen trägt den Titel „ Open circle Lived Relation “ . 39 https: / / www.nrw-forum.de/ ausstellungen/ whiteout [Zugriff am 12. 02. 2023]. 289 Zur Vielgestaltigkeit immersiver Konstellationen 40 Ich besuchte die Ausstellung am 19. 10. 2019. 41 Vgl. Hito Steyerl, „ White Cube und Black Box. Die Farbmethaphysik des Kunstbegriffs “ , in: Maureen Maisha Eggers et al. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2020, S. 135 - 43. 42 Moynan King, „ Deep Lez Immersion: A Conversation with Killjoy ’ s Kastle Creators Deirdre Logue and Allyson Mitchell “ , in: Canadian Theatre Review 173 (2018), S. 15 - 20. 43 Bereits 2013 kam das Killjoy Kastle für eine Nacht in Toronto zur Aufführung. In Los Angeles war es von 16. bis 30. Oktober 2015 zugänglich. 44 Vgl. Ebd., S. 16; Zu den „ Hell Houses “ gibt es einen Dokumentarfilm von George Ratcliff aus dem Jahr 2001, den sich auch die beiden Macherinnen angeschaut haben. Dieser ist hier zu finden: https: / / hellhouse. vhx.tv/ [Zugriff am 12. 02. 2023]. 45 King, „ Deep Lez Immersion “ , S. 16. 46 Vgl. die kurze Führung auf Youtube: https: / / www.youtube.com/ watch? v=a4S-OORBj9o &t=137s [Zugriff am 12. 02. 2023]. 47 King, „ Deep Lez Immersion “ , S. 19. 48 Vgl. Rudi Laermans, „ Die Strategie der kollektiven Aufmerksamkeit “ , in: Sabine Gehm / Pirkko Husemann / Katharina von Wilcke (Hg.), Wissen in Bewegung: Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007, S. 247 - 254. 49 Vgl. hierzu Adam Cziraks Ausführungen zu Blickrelationen als Machtrelationen im Theater und zur Machtökonomie des Voyeurismus. Adam Czirak, Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld 2012, S. 193 - 207. 50 Vgl. Doris Kolesch, „ Vom Reiz des Immersiven. Überlegungen zu einer virulenten Figuration der Gegenwart “ , in: Paragrana 26/ 1 (2017), S. 57 - 66, hier S. 59. 51 Vgl. José E. Muñoz, Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York/ London 2009, S. 106. 52 Ahmed, Queer phenomenology, S. 9. 53 Vgl. Davis et al., „ Anthropocene, Capitalocene, . . . Plantationocene? “ ; Diese Internetseite von Promovierenden der Universität Wisconsin-Madison versammelt verschiedene Beiträge zum Plantationocene, https: / / ed geeffects.net/ plantationocene-series-plantati on-worlds/ [Zugriff am 12. 02. 2023]; Colette Le Petitcorps / Marta Macedo / Irene Peano (Hg.), Global Plantations in the Modern World. Sovereignties, Ecologies, Afterlives, Cham 2023. 54 Ahmed, Queer phenomenology, S. 177. 55 Ebd., Hervorhebung K. R. 56 Mit dem hier elaborierten Wissen zu den „ Spektren der Immersion “ möchte ich die von meinem Team im SFB 1171 vorgezeichneten Ansätze zum „ Reiz des Immersiven “ (Kolesch) und zur wirkungsästhetischen Dimension der Vereinnahmung (Schütz) erweitern. Theresa Schütz hat in ihrer Dissertation am Beispiel von James Scruggs 3/ Fifth ’ s Supremacy Land bereits ausführlich erläutert, was es bedeutet, die eigene weiße Position in einer immersiven Arbeit zu erfahren. Vgl. Theresa Schütz, Theater der Vereinnahmung: Publikumsinvolvierung im immersiven Theater, Berlin 2022; Kolesch, „ Vom Reiz des Immersiven “ . 57 Vgl. hierzu: Amelia Jones, „ Art History/ Art Criticism. Performing meaning “ , in: Dies. / Andrew Stephenson (Hg.), Performing the Body, Performing the Text, New York 1999, S. 36 - 51; David Lloyd, Under Representation. The Racial Regime of Aesthetics, New York 2019; Ruth Sonderegger, „ Kants Ästhetik im Kontext des kolonial gestützten Kapitalismus “ , in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 17: Sensibilität der Gegenwart (2018). 58 Vgl. Georg Bertram, „ Improvisation als Paradigma künstlerischer Wirksamkeit und ihrer sozialen Dimension “ , in: Birgit Eusterschulte / Christian Krüger / Judith Siegmund (Hg.), Funktionen der Künste. Transformatorische Potentiale künstlerischer Praktiken, Berlin 2020, S. 17 - 32. 290 Karina Rocktäschel
