eJournals Forum Modernes Theater 34/2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0028
121
2023
342 Balme

Ulrike Hartung. Postdramatisches Musiktheater. Thurnauer Schriften zum Musiktheater, Band 36. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, 272 Seiten

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2023
Dana Pflüger
fmth3420306
Rezensionen Ulrike Hartung. Postdramatisches Musiktheater. Thurnauer Schriften zum Musiktheater, Band 36. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, 272 Seiten. Die Aufführungspraxis von Musiktheater im deutschsprachigen Raum befinde sich - folgt man Ulrike Hartung - in einer festgefahrenen Situation zwischen der Scylla eines engen Repertoire-Kanons in Regietheater-Ästhetik und der Charybdis Neuen Musiktheaters. Ersteres sei bereits ein „ historisches Phänomen “ (S. 10) und zudem am Ende seiner Innovationsfähigkeit angelangt; letzteres werde zwar oft irrtümlich als ‚ postdramatisch ‘ bezeichnet, schaffe es aber nicht, sich im Repertoire zu etablieren und sei insofern ebenfalls wenig zukunftsfähig. In ihrer Dissertationsschrift möchte Hartung zeigen, „ dass [. . .] auch Produktionen entstehen, die neue Kompositionen in der Ästhetik des Regietheaters inszenieren und umgekehrt auch Aufführungen von Repertoire-Stücken postdramatisch sein können “ (S. 68). Eine „ selbstbewusste Auseinandersetzung mit dem Repertoire “ auch „ auf Kompositionsebene “ könnte - so Hartungs Hoffnung - eine „ wirkungsvolle Brücke für die Eroberung neuer Publikumsgruppen “ (S. 134) darstellen. Die Studie ist gegliedert in einen Theorieteil, der ca. ein Drittel des Textes in Anspruch nimmt, sowie unzählige Beispiele in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit. Nach den Definitionen geht es zunächst um ‚ Regietheater in der Oper ‘ . Zentral für dieses sei, dass „ die Komposition immer über der Regie steht “ (S. 27), es also eine Hierarchie zwischen „ eigentlich Schaffenden und bloß Nachschaffenden “ (S. 26) gebe. Die im Regietheater vorherrschende Dominanz des Dramas habe außerdem zur Folge, dass sich dem musikdramatischen Text „ alle weiteren Bestandteile der Aufführung unterordnen “ (S. 27) müssten. Ein weiteres Merkmal sei die Aktualisierung von Handlungsort und -zeit, wobei diese ‚ Verjüngung ‘ nur auf optischem Wege bewerkstelligt würde und häufig zum Ziel habe, die Handlung in den Kontext (tages)politischer Konflikte oder Zustände zu übertragen. Um diese Verlegung der Handlung möglichst glaubwürdig zu gestalten, orientierten sich folglich Dramaturgie, Personenregie und Figurenkonzeption an den Idealen „ Schlüssigkeit, Verständlichkeit und Logik “ (S. 33). Zu Grunde liege diesem möglichst stimmigen Konzept zudem häufig ein „ theoretischphilosophisches Paket “ (S. 34), das in der Regel auch Eingang ins Programmheft finde und eine Botschaft transportieren solle. Grundsätzlich würden, wie Hartung einer These Betzwiesers folgend schreibt, „ die Schichten einer Partitur mit unterschiedlichem Tempo altern: am langsamsten die Musik, etwas schneller der Text und am schnellsten die Regieanweisungen “ (S. 22). Im Regietheater würden demnach nur die Regieanweisungen als ‚ Material ‘ begriffen, mit dem in der szenischen Umsetzung frei gearbeitet werden kann.#Entsprechend seien die Sänger*innen den Idealen des klassischen Gesangs verpflichtet und eine möglichst ‚ originale Umsetzung ‘ der musikalischen Ebene sei auch für die anderen musikalischen Akteure erklärtes Ziel der Aufführung.#Abschließendes Merkmal des Regietheaters sei seine ‚ Krisenhaftigkeit ‘ und dies obwohl es unverändert „ den Großteil der Opernaufführungen im deutschsprachigen Raum prägt “ (S. 36). Der Ort für künstlerische Innovationen im Musiktheater habe sich, so schließt Hartung den Regietheater-Abschnitt, an die Schauspielbühnen und in die freie Szene verlagert. Im folgenden Kapitel skizziert Hartung in Abgrenzung zum Regietheater die Merkmale des postdramatischen Musiktheaters, dem sie aufgrund der Tatsache, dass die Oper in ihrer ästhetischen Entwicklung immer (schon) dem Schauspiel hinterherhinke, eine aussichtsreiche Zukunft verheißt. Wichtigstes Merkmal des Postdramatischen sei die „ Abwendung des Theaters von einer logozentrischen Dienerschaft eines Textes [. . .] zu Gunsten einer freieren Form, die es ermöglicht, alle anderen Bestandteile, oder auch keinen, in ihr Zentrum zu stellen. “ (S. 47). Die jahrhundertelang diskutierte Frage, ob Musik oder Text in einer Oper dominant seien, Forum Modernes Theater, 34/ 2, 306 - 308. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0028 würde ersetzt durch eine hierarchiefreie Anordnung aller Elemente einer Aufführung. Weitere Merkmale seien: Der Vorgang des Zeichengebens würde ostentativ ausgestellt, sodass eine ‚ Doppelbödigkeit der Zeichen ‘ entstehe. Eine hermeneutische ‚ Interpretation ‘ der Aufführungen sei deshalb hinfällig, da die Künstler*innen sowieso keine Bedeutung generieren wollen, die ‚ entdeckt ‘ werden könnte. Vielmehr sei eine einfache ‚ Beschreibung ‘ dessen, was auf der Bühne „ im Hier und Jetzt “ (S. 52) geschieht, angemessen. Anschließend erläutert Hartung die ‚ Palette der Stilzüge ‘ von Hans-Thies Lehmann mit den bekannten Merkmalen des Postdramatischen: Parataxis, Simultaneität, Spiel mit der Dichte der Zeichen, Musikalisierung, Visuelle Dramaturgie, Körperlichkeit, Einbruch des Realen und Qualität einer Situation. In Anlehnung an Caroline Lodemann unterscheidet sie anschließend fünf Formen zeitgenössischer Theaterpraxis: von einer detailgetreuen ‚ Umsetzung ‘ eines vorher existenten Textes bis hin zu ‚ autonomer Regie ‘ , die sich selbst als alleinige Autorin begreift. Dass es sich bei den nun folgenden Beispielen um die letztgenannte Stufe handelt, lässt sich schon allein daran erkennen, dass die Kapitelüberschriften die Regisseur*innen anstelle (wie sonst in der Oper üblich) der Komponisten nennt. Die Aufführungsbeschreibungen in den beiden großen Kapiteln ‚ Fallstudien I und II ‘ werden nicht systematisch durchgeführt, sondern jede wird individuell behandelt. In die hierfür verwendete Materialsammlung bezieht Hartung auch Nebentexte wie Kritiken, Programmehefttexte und öffentliche Debatten ein, was eine große Bereicherung ist. Trotzdem wäre ein minimal einheitlicher Aufbau der Kapitel, bspw. mit Nennung des Jahres, des Zeitraums und des Ortes der Aufführung für die Orientierung der Leserin hilfreich gewesen, ebenso hätte Bildmaterial die präzise und gut lesbare Sprache Hartungs sinnvoll ergänzt. Im Abschnitt ‚ Fallstudien I ‘ sind vier Aufführungen beschrieben, die sich durch eine intensive Verwendung von digitalen Medien, insbesondere Live-Filmen auf der Bühne auszeichnen: Christoph Schlingensiefs Parsifal in Bayreuth, Katie Mitchells Al gran sole carico d ‘ amore in Salzburg und Johanna Dombois ‘ Fidelio im Beethoven-Haus sowie ihre Ring-Studie 01 im Video-Spiel Second Life. Sie alle arbeiten mit einer ‚ textgetreuen ‘ musikalischen Ebene, wobei die Arbeiten von Dombois als einzige Ton-Aufnahmen verwenden und auch diese nur ausschnitthaft. Bemerkenswert an den ersten beiden Aufführungen ist ihr Einsatz digitaler und filmischer Medien, der das Bühnengeschehen so stark dominiert, dass Musik und Handlung - wenn überhaupt - nur eine Nebenrolle spielen. Die Arbeiten von Dombois hingegen übertragen den musikalischen Satz teilweise sehr kleinteilig in Algorithmen, die wiederum eine visuelle Ebene generieren. In den ‚ Fallstudien II ‘ findet die Leserin eine wahre Fundgrube spannender inszenatorischer Versuche, Oper als ‚ Material ‘ und nicht als (geschlossenes) ‚ Werk ‘ zu begreifen.#Hartung unterscheidet bei der Beschreibung der Aufführungen verschiedene Schwerpunkte, die von den Regieteams gesetzt wurden: a) Das Material einer Oper wird mit anderen Materialien, z. B. Musical-Songs und Schauspieltexten verbunden. b) Material aus einer Oper wird als ‚ Readymade ‘ begriffen, und wie ein nicht-künstlerisches Zitat in einen neuen Kontext gesetzt. [Diese Begrifflichkeit leuchtet nicht unmittelbar ein, da Oper ja immer künstlerisch ist]. c) Die Oper wird vollständig ‚ zerschlagen ‘ , und hiermit meint Hartung, dass nur einzelne Elemente der Oper als Schauspielmusik einem Theaterabend beigegeben werden - ohne dass sie musikalisch oder thematisch eine hervorgehobene Rolle darin spielen würden. Im folgenden ‚ Ausblick ‘ führt Hartung zunächst noch weitere Beispiele an, die sich dieses Mal zwischen bildender Kunst, bzw. begehbarer Installation und Musiktheater bewegen und wiederum zeigen, dass Oper eine künstlerisch sehr fruchtbare Materialfundgrube sein kann. Richtigerweise problematisiert Hartung abschließend den bevorzugten Ort, an dem die genannten Inszenierungen beinahe ausschließlich stattfanden: an Schauspielbühnen nämlich. Die anfangs aufgemachte Dichotomie zwischen Repertoire in Regietheaterästhetik und Neuem 307 Rezensionen Musiktheater meint jedoch explizit die Opernbühnen, also die Sparte als einen Kern des Problems. Die Übertragbarkeit der vorgestellten Produktionen in den Opernbetrieb ist jedoch nur sehr eingeschränkt möglich, die triftigen Gründe hierfür nennt Hartung teilweise selbst. Die Dominanz der Musik in der Oper gegen die starken institutionellen Parameter und Akteure (bspw. die Klangkörper) brechen zu wollen, dürfte nicht leicht werden und es ist auch sehr die Frage, ob das wirklich wünschenswert wäre. Opern erfreuen sich immerhin auch ganz ohne ihre szenische Komponente in Form von Tonträgern einer erheblichen Verbreitung und Beliebtheit - dem in der Theaterwissenschaft (nicht jedoch der Musikwissenschaft! ) weit verbreiteten Diktum, dass nur das aufgeführte Werk überhaupt das Werk ist, unverhohlen zum Trotz. Zur im Vorwort des Textes gestellten Frage, ob „ man so mit Oper umgehen darf? “ , gibt ein kurzer Blick in die Geschichte Antwort: Schauspielaufführungen und (ebenso auch (Stumm-) Filme) waren nie ein musikfreies Unterfangen und bedienen sich schon lange ungeniert am musikalischen Opernfundus. Das stand und steht allerdings nicht in Konkurrenz zum Regietheater oder Neuen Musiktheater an Opernbühnen (vom Musical ganz zu schweigen). Insofern stellt sich die Frage, ob die Produktionen, die Hartung bespricht, tatsächlich alle sinnvollerweise als ‚ Musiktheater ‘ im Sinne einer Gattung und Sparte bezeichnet werden können - nur weil sie (mehr oder weniger so zu nennenden) ‚ Gesang ‘ beinhalten - oder ob ihre Studie nicht eher ein sehr material- und kenntnisreicher Beitrag zur begrüßenswerten Fokussierung auf die zahlreichen musikalischen Aspekte ist, die sich im zeitgenössischen, insb. im postdramatischen Schauspiel finden lassen. München D ANA P FLÜGER Ulf Otto. Das Theater der Elektrizität. Technologie und Spektakel im ausgehenden 19. Jahrhundert. Szene & Horizont, Theaterwissenschaftliche Studien, Band 6. Stuttgart: Metzler 2020, 487 Seiten. Richtet kulturhistorische Forschung ihr Augenmerk auf das 19. Jahrhundert, ist schnell die Rede von den lebensweltlichen Veränderungen und den einschneidenden Umbrüchen, die die Industrialisierung und damit einhergehende technologische Fortschritte, allen voran die Elektrizität, mit sich brachten. Dass die Elektrifizierung der Welt und damit auch der Theater aber nicht als einschneidende Zäsur, als die sie oftmals beschrieben wurde, zu begreifen ist, sondern vielmehr das Ergebnis eines jahrzehntelangen Entwicklungsprozesses von ineinander verwobenen „ technischen, ästhetischen und sozialen Dingen “ (S. VII), ist Ausgangspunkt der theaterkulturgeschichtlichen Habilitationsschrift Das Theater der Elektrizität von Ulf Otto. Elektrizität im Kontext von Wissenschaftspopularisierung, Konsumkultur und Technikgeschichte wurde bereits ausgiebig aus unterschiedlichsten Fachperspektiven erforscht, die Wechselwirkungen von Technik und Ästhetik sowie die historische Bedeutung der Elektrizität für das Theater jedoch oftmals nur vage angedeutet. Eben jener Leerstelle widmet Otto seine quellenreiche Studie. Ausgehend vom „ Auftritt der Elektrizität “ (S. VIII - XI) im Ballett Pandora oder Götterfunken auf der Frankfurter Elektrotechnischen Ausstellung 1891 zeichnet Otto die Zusammenhänge zwischen ästhetischen und technischen Transformationsprozessen um die Jahrhundertwende nach. Dabei ist die Studie sternförmig aufgebaut und kommt oftmals zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Laut Otto sind es gerade die Elektrizitätsausstellungen um 1900 mit ihren obligatorischen Ausstellungstheatern, in denen das Theater neu erfunden wird, denn Theater und seine Elektrifizierung bedingen sich hier gegenseitig: „ Elektrizität wird auf der Bühne nicht nur reflektiert, sondern auch installiert [. . .] “ ; damit einhergehend lässt sich ein „ tiefgreifender ästhetischer Wandel “ (S. XIV) beobachten, der sich nicht nur in den Dispositiven visueller Kultur manifestiert. Ebenso ables- Forum Modernes Theater, 34/ 2, 308 - 310. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0029 308 Rezensionen