Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0029
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2023
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BalmeUlf Otto. Das Theater der Elektrizität. Technologie und Spektakel im ausgehenden 19. Jahrhundert. Szene & Horizont, Theaterwissenschaftliche Studien, Band 6. Stuttgart: Metzler 2020, 487 Seiten
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2023
Christina Vollmert
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Musiktheater meint jedoch explizit die Opernbühnen, also die Sparte als einen Kern des Problems. Die Übertragbarkeit der vorgestellten Produktionen in den Opernbetrieb ist jedoch nur sehr eingeschränkt möglich, die triftigen Gründe hierfür nennt Hartung teilweise selbst. Die Dominanz der Musik in der Oper gegen die starken institutionellen Parameter und Akteure (bspw. die Klangkörper) brechen zu wollen, dürfte nicht leicht werden und es ist auch sehr die Frage, ob das wirklich wünschenswert wäre. Opern erfreuen sich immerhin auch ganz ohne ihre szenische Komponente in Form von Tonträgern einer erheblichen Verbreitung und Beliebtheit - dem in der Theaterwissenschaft (nicht jedoch der Musikwissenschaft! ) weit verbreiteten Diktum, dass nur das aufgeführte Werk überhaupt das Werk ist, unverhohlen zum Trotz. Zur im Vorwort des Textes gestellten Frage, ob „ man so mit Oper umgehen darf? “ , gibt ein kurzer Blick in die Geschichte Antwort: Schauspielaufführungen und (ebenso auch (Stumm-) Filme) waren nie ein musikfreies Unterfangen und bedienen sich schon lange ungeniert am musikalischen Opernfundus. Das stand und steht allerdings nicht in Konkurrenz zum Regietheater oder Neuen Musiktheater an Opernbühnen (vom Musical ganz zu schweigen). Insofern stellt sich die Frage, ob die Produktionen, die Hartung bespricht, tatsächlich alle sinnvollerweise als ‚ Musiktheater ‘ im Sinne einer Gattung und Sparte bezeichnet werden können - nur weil sie (mehr oder weniger so zu nennenden) ‚ Gesang ‘ beinhalten - oder ob ihre Studie nicht eher ein sehr material- und kenntnisreicher Beitrag zur begrüßenswerten Fokussierung auf die zahlreichen musikalischen Aspekte ist, die sich im zeitgenössischen, insb. im postdramatischen Schauspiel finden lassen. München D ANA P FLÜGER Ulf Otto. Das Theater der Elektrizität. Technologie und Spektakel im ausgehenden 19. Jahrhundert. Szene & Horizont, Theaterwissenschaftliche Studien, Band 6. Stuttgart: Metzler 2020, 487 Seiten. Richtet kulturhistorische Forschung ihr Augenmerk auf das 19. Jahrhundert, ist schnell die Rede von den lebensweltlichen Veränderungen und den einschneidenden Umbrüchen, die die Industrialisierung und damit einhergehende technologische Fortschritte, allen voran die Elektrizität, mit sich brachten. Dass die Elektrifizierung der Welt und damit auch der Theater aber nicht als einschneidende Zäsur, als die sie oftmals beschrieben wurde, zu begreifen ist, sondern vielmehr das Ergebnis eines jahrzehntelangen Entwicklungsprozesses von ineinander verwobenen „ technischen, ästhetischen und sozialen Dingen “ (S. VII), ist Ausgangspunkt der theaterkulturgeschichtlichen Habilitationsschrift Das Theater der Elektrizität von Ulf Otto. Elektrizität im Kontext von Wissenschaftspopularisierung, Konsumkultur und Technikgeschichte wurde bereits ausgiebig aus unterschiedlichsten Fachperspektiven erforscht, die Wechselwirkungen von Technik und Ästhetik sowie die historische Bedeutung der Elektrizität für das Theater jedoch oftmals nur vage angedeutet. Eben jener Leerstelle widmet Otto seine quellenreiche Studie. Ausgehend vom „ Auftritt der Elektrizität “ (S. VIII - XI) im Ballett Pandora oder Götterfunken auf der Frankfurter Elektrotechnischen Ausstellung 1891 zeichnet Otto die Zusammenhänge zwischen ästhetischen und technischen Transformationsprozessen um die Jahrhundertwende nach. Dabei ist die Studie sternförmig aufgebaut und kommt oftmals zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Laut Otto sind es gerade die Elektrizitätsausstellungen um 1900 mit ihren obligatorischen Ausstellungstheatern, in denen das Theater neu erfunden wird, denn Theater und seine Elektrifizierung bedingen sich hier gegenseitig: „ Elektrizität wird auf der Bühne nicht nur reflektiert, sondern auch installiert [. . .] “ ; damit einhergehend lässt sich ein „ tiefgreifender ästhetischer Wandel “ (S. XIV) beobachten, der sich nicht nur in den Dispositiven visueller Kultur manifestiert. Ebenso ables- Forum Modernes Theater, 34/ 2, 308 - 310. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0029 308 Rezensionen bar werden diese Prozesse Otto zufolge in einer Veränderung der internen Arbeitsabläufe: „ Es sind Kontrolltechniken, Bauvorschriften und Patentanmeldungen, in denen sich ein neues Theater konstituiert [. . .] “ (S. XV). Entsprechend nimmt die elf Kapitel fassende Studie umfangreiches Material in den Blick, das zunächst nebensächlich für theatrale Zusammenhänge erscheinen mag, anhand derer Otto aber eindrucksvoll die ästhetischen Transformationsprozesse der „ Theatralkultur der Moderne “ nachzeichnet (S. XI). Der argumentativ starke Auftakt der Studie versammelt zunächst den Status Quo der technischen bzw. elektrischen Einrichtungen in den (Ausstellungs-)Theatern der 1880er Jahre. Anhand bühnentechnischer Veränderungen wie der Positionierung von Beleuchtungsapparaturen geht Otto der Frage nach, welchen konkreten Neuerungen das Theater durch seine Elektrifizierung ausgesetzt ist, aber stellt auch die ästhetischen Kontinuitäten heraus, die trotz oder gerade durch den technischen Wandel begünstigt wurden. Der Blick zurück in die Geschichte der Gasbeleuchtung verdeutlicht, wie sich durch den Einsatz von Reflektoren, Fußrampen und Pyrotechnik bereits vor der Elektrifizierung künstlerische Veränderungen in der Beleuchtungspraxis des Theaters bemerkbar machten. Mit den Attraktionen, in denen Elektrizität „ in die Topographie wie auch in die Dramaturgie des Ereignisraums Ausstellung eingebunden “ (S. 184) und inszeniert wurde, kehrt die Narration zurück nach Frankfurt. Anhand elektrisch betriebener Fahrgeschäfte, künstlichen Wasserfällen und nächtlichen Illuminationen zeigt Otto auf, wie diese elektrifizierten Spektakel nicht lediglich der Generierung von Akzeptanz beisteuerten, sondern gleichsam versuchten, „ aus der Technik Sinn zu machen, [. . .] im technischen wie kulturelle Sinne “ (S. 184). Das Théâtrophon, das die telefonische Übertragung einer Oper ermöglichte, scheint paradigmatisch für die Inszenierung neuer Technologien für die bürgerliche Öffentlichkeit: Um 1900 brach ein regelrechter Hype um dieses Theatererlebnis aus - die Diagnose ‚ Théâtrophonie ‘ lässt sich laut Otto als „ bürgerlicher Kurzschluss eines telegraphischen Metropolitanismus verstehen “ (S. 228). Abermals zur Frankfurter Ausstellung zurückkehrend, nimmt Otto das Industrieballett Pandora und seine Vorläufer in den Blick. Hier zeigt sich, wie sich das Theater der Elektrizität in medialen Repräsentationen der Ausstellung wiederfindet und dabei an „ einem populären Diskurs [partizipiert], der technische Entwicklungen mit literarischen Traditionen und kolonialen Ambitionen verwebt “ , um damit nicht zuletzt auch einer „ Legitimation des Fortschritts “ zu dienen (S. 262). Anhand der allegorischen Inszenierung des weiblichen Körpers als elektrifizierter ‚ Leuchtkörper ‘ wird die Beziehung von Tänzerinnenkörper, Technik und Elektrizität um 1900 im Kontext erotisierender Varietékultur besonders deutlich. Sie findet ihren Höhepunkt im durch Loïe Fuller und ihr elektrisch beleuchtetes Kostüm populär gewordenen Serpentinentanz. Gerade am „ elektrifizierten Tänzerinnenkörper “ zeige sich, so Otto, wie Technik und Mensch, „ aber mehr noch soziale Entwicklungen und kulturelle Bedeutungen untrennbar miteinander verbunden “ (S. 431) sind. Letzteres wird auch in früheren Versuchen, Naturwissenschaft sinnlich zu inszenieren, deutlich: Über erste wissenschaftliche Erklärungsversuche physikalischer Phänomene bis hin zur Entdeckung elektromagnetischer Felder zeichnet Otto die Genese von Technik-Inszenierungen durch die vorindustrielle Wissenschaftsgeschichte nach. Abschließend nimmt Otto mit dem Scheinwerfer jene paradigmatische Theaterapparatur in den Blick, die stellvertretend für die gesamte Argumentation stehen kann: Technische Einrichtungen gehören zu den Konstanten des Theaters, die zwar grundlegend für den gesamten Theaterkomplex sind, deren Anwesenheit mit Einzug der Elektrizität aber „ von der Sphäre der Kunst ausgeschlossen “ (S. VII) und bewusst verborgen werden. Die spezifische Materialität der Industrialisierung wird aus der Inszenierung ausgelagert, die dadurch entstandene Unsichtbarkeit technischer Vorgänge bezeichnet Otto als „ Ästhetik der Elektrizität “ , die er an „ prototypischen Theaterszenen “ (wie dem leuchtenden Gral in Wagners Parsifal) ausmacht. Folgerichtig scheint Ottos leitmotivische These, „ dass das ästhetische Regime der Elektrizität eine Versöhnung mit der industriellen Moderne ermöglicht, die auf der Verleugnung des intimen Zusammenhangs von Kunst und Arbeit beruht “ (S. 429). 309 Rezensionen Ottos wertvolle Forschung zur Theatralität der Elektrizität, die mitunter auch durch ihre interdisziplinäre Vielfalt, materialreichen Quellenfundus und eine außerordentliche Kenntnis technischer Abläufe beeindruckt, leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der (Technik-)Geschichte des Theaters um 1900 und schärft das Bewusstsein für ein neuerliches Zusammendenken von Theater und Technik. Neben theoretischen Bezugspunkten wie Valery, Benjamin und Latour sowie technikhistorischen Zugängen via SCOTund STS orientiert sich Ottos Auseinandersetzung mit dem ‚ Theater der Elektrizität ‘ an aktuellen Konzepten der Theaterkulturgeschichtsschreibung. Während in diesen Technologie oftmals lediglich den Hintergrund von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen bildet, legt Otto gerade die verborgenen und hintergelagerten Prozesse frei. Dabei möchte er nicht die Trennung beider Ebenen betonen, sondern vielmehr zusammendenken und „ die technischen (wie epistemischen) Dinge in den Begriff des Sozialen mit aufnehmen “ (S. 434). So betont Ottos „ Ästhetik der Elektrizität “ weniger die künstlerischen Wandlungsprozesse als „ Reflex auf eine radikale Transformation von Welt “ (S. 432), sondern viel eher als etwas, das diesen Umwandlungsprozessen ausgesetzt ist und sich um eine „ ästhetische Überwindung “ (S. 382) dieser bemüht: „ Theater reagiert weniger auf die Elektrifizierung, als dass sich mit der Elektrifizierung ändert, was Theater ist “ (S. 432). Köln C HRISTINA V OLLMERT Hans Roth. Die komische Differenz. Zur Dialektik des Lächerlichen in Theater und Gesellschaft, Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2022, 434 Seiten. Dass die Komik ein streitbares Feld ist, offenbaren zahlreiche Debatten der vergangenen Jahre um diskriminierenden Humor, politische Korrektheit und sogenannte Cancel Culture. Dass auch die Theaterbühne im Bereich des Komischen ein umkämpftes politisches Terrain ist, zeigt Hans Roth in seiner Dissertation Die komische Differenz. Zur Dialektik des Lächerlichen in Theater und Gesellschaft. Der Titel spielt dabei bewusst auf die von Oliver Marchart erörterte politische Differenz (2010) an, nach der seit den 1980er Jahren in der politischen Theorie - etwa bei Mouffe, Laclau, Nancy oder Rancière - die Politik als gouvernmentale Praxis von dem Politischen als grundlegendem Antagonismus unterschieden wird. Ähnlich wie Marchart strebt Roth die Kritik und Überwindung einer fundamentalistischen Lesart des Politischen an, indem die auf Heidegger und Schmitt zurückgehende ontologische Unterscheidung selbst als politisch und historisch variabel entlarvt wird. In der Komiktheorie gibt es laut Roth eine verwandte Differenz, die seit der Etablierung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert an politischer und moralischer Relevanz gewonnen hat: die Unterscheidung zwischen Komik und Lächerlichkeit respektive zwischen einem guten, ästhetisch reflexiven Humor einerseits und einem schlechten und herabsetzenden Lächerlich- Machen andererseits. Roth fragt, auf welche historisch sich wandelnde Weise die komische Differenz als eine politisch-moralische Unterscheidung ins Feld geführt wird und damit hegemoniale Ordnungen des guten Humors ausgehandelt bzw. die politischen Frontverläufe des Komischen und Lächerlichen verschoben werden. Anspruchsvolles Ziel der Studie ist daher nicht weniger als die Entwicklung einer „ postfundamentalistischen Komiktheorie “ (S. 394), die sich vom postmigrantischen Gegenwartstheater ausgehend mit den Urteilsbedingungen von politischer Komik und Lachkultur beschäftigt und den Wandel des Unterscheidens selbst in den Blick nimmt. Das Buch beginnt mit einer Hassrede. Roth schildert, wie der Schauspieler Thomas Wodianka in Sebastian Nüblings Jelinek-Adaption In unserem Namen (Maxim-Gorki-Theater 2015) eine Tirade gegen die Überfremdung loslässt und dabei das Thema ins Absurde steigert, indem er im historischen Rücklauf von den „ Scheißtürken “ über die „ Scheißhugenotten “ schließlich bei den „ Scheißrömern “ und sogar bei den ersten Fischen landet, die einst „ mit halbentwickelter Lunge an unser Land krochen “ (S. 12). Das Beispiel zeigt paradigmatisch, wie parodistische Forum Modernes Theater, 34/ 2, 310 - 312. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0030 310 Rezensionen
