Forum Modernes Theater
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0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0030
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2023
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BalmeHans Roth. Die komische Differenz. Zur Dialektik des Lächerlichen in Theater und Gesellschaft, Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2022, 434 Seiten.
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Benjamin Wihstutz
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Ottos wertvolle Forschung zur Theatralität der Elektrizität, die mitunter auch durch ihre interdisziplinäre Vielfalt, materialreichen Quellenfundus und eine außerordentliche Kenntnis technischer Abläufe beeindruckt, leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der (Technik-)Geschichte des Theaters um 1900 und schärft das Bewusstsein für ein neuerliches Zusammendenken von Theater und Technik. Neben theoretischen Bezugspunkten wie Valery, Benjamin und Latour sowie technikhistorischen Zugängen via SCOTund STS orientiert sich Ottos Auseinandersetzung mit dem ‚ Theater der Elektrizität ‘ an aktuellen Konzepten der Theaterkulturgeschichtsschreibung. Während in diesen Technologie oftmals lediglich den Hintergrund von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen bildet, legt Otto gerade die verborgenen und hintergelagerten Prozesse frei. Dabei möchte er nicht die Trennung beider Ebenen betonen, sondern vielmehr zusammendenken und „ die technischen (wie epistemischen) Dinge in den Begriff des Sozialen mit aufnehmen “ (S. 434). So betont Ottos „ Ästhetik der Elektrizität “ weniger die künstlerischen Wandlungsprozesse als „ Reflex auf eine radikale Transformation von Welt “ (S. 432), sondern viel eher als etwas, das diesen Umwandlungsprozessen ausgesetzt ist und sich um eine „ ästhetische Überwindung “ (S. 382) dieser bemüht: „ Theater reagiert weniger auf die Elektrifizierung, als dass sich mit der Elektrifizierung ändert, was Theater ist “ (S. 432). Köln C HRISTINA V OLLMERT Hans Roth. Die komische Differenz. Zur Dialektik des Lächerlichen in Theater und Gesellschaft, Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2022, 434 Seiten. Dass die Komik ein streitbares Feld ist, offenbaren zahlreiche Debatten der vergangenen Jahre um diskriminierenden Humor, politische Korrektheit und sogenannte Cancel Culture. Dass auch die Theaterbühne im Bereich des Komischen ein umkämpftes politisches Terrain ist, zeigt Hans Roth in seiner Dissertation Die komische Differenz. Zur Dialektik des Lächerlichen in Theater und Gesellschaft. Der Titel spielt dabei bewusst auf die von Oliver Marchart erörterte politische Differenz (2010) an, nach der seit den 1980er Jahren in der politischen Theorie - etwa bei Mouffe, Laclau, Nancy oder Rancière - die Politik als gouvernmentale Praxis von dem Politischen als grundlegendem Antagonismus unterschieden wird. Ähnlich wie Marchart strebt Roth die Kritik und Überwindung einer fundamentalistischen Lesart des Politischen an, indem die auf Heidegger und Schmitt zurückgehende ontologische Unterscheidung selbst als politisch und historisch variabel entlarvt wird. In der Komiktheorie gibt es laut Roth eine verwandte Differenz, die seit der Etablierung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert an politischer und moralischer Relevanz gewonnen hat: die Unterscheidung zwischen Komik und Lächerlichkeit respektive zwischen einem guten, ästhetisch reflexiven Humor einerseits und einem schlechten und herabsetzenden Lächerlich- Machen andererseits. Roth fragt, auf welche historisch sich wandelnde Weise die komische Differenz als eine politisch-moralische Unterscheidung ins Feld geführt wird und damit hegemoniale Ordnungen des guten Humors ausgehandelt bzw. die politischen Frontverläufe des Komischen und Lächerlichen verschoben werden. Anspruchsvolles Ziel der Studie ist daher nicht weniger als die Entwicklung einer „ postfundamentalistischen Komiktheorie “ (S. 394), die sich vom postmigrantischen Gegenwartstheater ausgehend mit den Urteilsbedingungen von politischer Komik und Lachkultur beschäftigt und den Wandel des Unterscheidens selbst in den Blick nimmt. Das Buch beginnt mit einer Hassrede. Roth schildert, wie der Schauspieler Thomas Wodianka in Sebastian Nüblings Jelinek-Adaption In unserem Namen (Maxim-Gorki-Theater 2015) eine Tirade gegen die Überfremdung loslässt und dabei das Thema ins Absurde steigert, indem er im historischen Rücklauf von den „ Scheißtürken “ über die „ Scheißhugenotten “ schließlich bei den „ Scheißrömern “ und sogar bei den ersten Fischen landet, die einst „ mit halbentwickelter Lunge an unser Land krochen “ (S. 12). Das Beispiel zeigt paradigmatisch, wie parodistische Forum Modernes Theater, 34/ 2, 310 - 312. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0030 310 Rezensionen Darstellungen rassistische Narrative aufnehmen und ins Gegenstandslose kippen lassen (Kant), zugleich aber auch, wie dabei eine politische Dynamik von Assoziation und Dissoziation im Publikum entstehen kann. „ Wer dieses Zusammenspiel als komisch erfährt und goutiert, “ schreibt Roth, „ fällt zugleich ein Urteil über rassistische Unterscheidungspraxen “ (S. 14) und positioniert sich innerhalb einer sich im Lachen konstituierenden Gemeinschaft gegen die lächerlich gemachten Denkweisen. Doch handelt es sich hierbei um politisch und ästhetisch reflexive Komik oder nur um ein „ Preaching to the Converted “ (S. 18)? Die von Roth zitierten Kritiken gehen bei dieser Bewertung weit auseinander und lenken so die Aufmerksamkeit auf die Kriterien der Urteils- und Unterscheidungspraxis. Auf die Einleitung folgen zwei umfangreiche Kapitel zur Geschichte der Komiktheorie, die einen historischen Bogen von Platon und Aristoteles über Hobbes und Shaftesbury bis zu den Antagonisten Bachtin und Adorno spannen. So weist Roth daraufhin, dass erst mit Alexander Pope und Shaftesburys Sensus Communis die assoziativen Vorteile von Spott und affirmativem Mitlachen beschrieben werden, während sowohl Platon als auch Aristoteles die Komödie noch als minderwertigere Dramengattung und Zähmung des Lächerlichen betrachten. Weder die alten Philosophen noch die Ästhetiker des 18. Jahrhunderts ziehen die Möglichkeit eines „ Auslachens von unten “ (S. 63) in Betracht. Dies ändert sich mit Bachtin, der die karnevaleske Lachkultur als subversive und anti-elitäre Praxis bestimmt. Adorno sieht im Gegenteil dazu im Lachen und Vergnügen ein grundsätzliches Problem der Kulturindustrie, die im „ Fun als Stahlbad “ ihre faschistoiden Tendenzen offenbare. Auf die Theoriegeschichte folgt mit den Kapiteln 4 bis 6 der eigentliche Kern der Studie: Mittels einer in ihrer Kombination aus Aufführungs- und Diskursanalyse auch methodisch höchst innovativen Untersuchung kanonischer Fallbeispiele legt Roth dar, auf welche Weise die postmigrantische Komik politische Grabenkämpfe, Dynamiken und Polarisierungen betrifft, die direkt aus der Frage, ob überhaupt etwas komisch sei, resultieren. In zwei brillanten Diskursanalysen über Kontroversen rassistischer Imitationen aus den 2010er Jahren legt Roth dar, wie sich die Hegemonien von Normalität und Weißsein in die Affektökonomien (Ahmed) theatraler Darstellungspraktiken einschreiben. So zeigt sowohl die komisch gemeinte, aber rassistisch rezipierte Schlitzaugengeste der Intendantin Stefanie Aehnelt auf einem Werbeplakat des Neuköllner Heimathafens (2014) als auch das selbstironische Blackfacing von Martin Sonneborn in seiner Wahlkampagne „ Ick bin ein Obama “ (2011), wie sich politische Dynamiken öffentlicher Debatten über „ Humor und Hegemonie “ mit ihren Fallstricken entwickeln, aber auch, wie sich der Diskurs um Rassismus und Komik in den letzten zehn Jahren deutlich gewandelt hat. Während der Kulturkampf im öffentlichen Raum und die Debatten in den Feuilletons meist schriftlich ausgetragen werden, ist es im Theatersaal auch das Lachen selbst, mit dem der politische Konflikt als „ asymmetrische Kriegsführung “ (Salzmann) in Erscheinung tritt. So beschreibt Roth im fünften Kapitel unter Bezugnahme auf ein Interview mit zwei Schauspieler*innen, wie in einer Aufführung von Verrücktes Blut (Ballhaus Naunynstraße 2010) eine Schulklasse von Jugendlichen an vollkommen anderen Stellen als die anwesenden Erwachsenen gelacht hätten, woraufhin im Saal eine Art Lach- Wettkampf entstanden sei. Während in Nurkan Erpulats Erfolgsstück mit einer solch agonistischen Komik sowie der gezielten Provokation und Ansprache des Publikums die Dissoziation als das politische Motiv fungiert, steht Yael Ronens Common Ground (Maxim-Gorki-Theater 2014) laut Roth für das Gegenmotiv der Assoziation, die alle komischen Konflikte in einem utopisch anmutenden Happy End auflöst. Das sechste Kapitel offenbart wiederum, dass es neben diesen zwei Möglichkeiten auch komische Figuren des Dritten gibt, welche die binären Strukturen der komischen Differenz durcheinanderbringen. So stellt in Falk Richters Inszenierung von Am Königsweg (Elfriede Jelinek, Schauspielhaus Hamburg 2017) die deutschtürkische Comedienne Idil Baydar mit ihrer klischeeüberfrachteten Kunstfigur Jilet Ayse einen gezielt deplatzierten Fremdkörper dar, der die zuvor etablierte Ordnung postdramatischer Komik unterbricht und in ihrer wider- 311 Rezensionen sprüchlichen Lächerlichkeit über den Haufen wirft. In Playback von Joanna Tischkau (Mousonturm 2019) und Mittelreich von Anta Helena Recke (Münchner Kammerspiele 2017) sind es hingegen die dekolonisierenden und antirassistischen Wiederaneignungspraktiken von bürgerlichem Schauspiel, Popmusik und Fernsehgeschichte, welche mittels Reenactment und Lipsync die Grenzen und Möglichkeiten der „ Parodie-als-Kritik und Parodie-als-Hommage, (. . .) aber auch der Selbstverleugnung und des Othering “ (S. 370) ausmessen. Postmigrantische, politische Komik grenzt sich hier nicht nur von einer bürgerlich-weißen Theatertradition und -institution ab, sondern distanziert sich auch von einem Verständnis politischer Komik als radikales, „ Entzugs-Ereignis “ (Müller-Schöll), das Roth in seiner Arbeit als „ quasi-transzendental “ kritisiert (S. 119). Im Anschluss an die zitierten Autor*innen Frantz Fanon, Stuart Hall und Sara Ahmed wäre es an dieser Stelle spannend gewesen zu erfahren, wie sich die hier skizzierte Komiktheorie mit Ansätzen dekolonialer Ästhetik (Mignolo) oder auch mit dem von José Muñoz eingeführten Begriff der „ Dis/ identifikation “ verträgt, die dieser am Beispiel queerer, postmigrantischer Stand Up Comedy entwickelt hat. Auch soziologische Perspektiven, die sich mit Komik und Distinktion (Bourdieu) befassen oder komische Praktiken als Un/ Doing Differences (Hirschauer) in den Blick nehmen, hätten hier den Diskurs empirisch und praxeologisch noch erweitern können. Das Buch zeichnet sich neben einer stets klaren Theorie- und Begriffsarbeit und einer ausgesprochen angenehm zu lesenden Sprache vor allem durch ein gelungenes Gleichgewicht aus: So halten sich systematisch-theoretischer Zugang, brillante Fallstudien und historisierende Perspektive die Waage und lassen die politische Dimension postmigrantischer Komik als Geschichte der Gegenwart erscheinen. Dass die in der Theaterwissenschaft lange Zeit vernachlässigte Komik damit wieder ins Blickfeld der Theoriebildung rückt, ist ein großes Verdienst von Hans Roth. Mainz B ENJAMIN W IHSTUTZ
