Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2024-0001
0120
2025
351-2 Balme

0120
2025
Berenika Szymanski-Düll
fmth351-20005
Editorial Berenika Szymanski-Düll (München) Wir leben in einer Zeit multipler Krisen: Klimawandel, gesellschaftliche und politische Polarisierungen, Kriege, wirtschaftliche Unsicherheiten, zerbrechende Koalitionen und Naturkatastrophen. Täglich erreicht uns eine Flut von beunruhigenden Nachrichten, die Gefühle der Ohnmacht und Resignation hervorrufen. Inmitten dieser angespannten und oft bedrückenden Realität wird deutlich, wie wichtig Räume der Reflexion und Begegnung sind. Gerade hier wird die Relevanz des Theaters einmal mehr spürbar. In seiner einzigartigen Kraft zur Vergegenwärtigung, zum Dialog und zur kreativen Auseinandersetzung ermöglicht uns das Theater, uns mit den Themen und Herausforderungen unserer Zeit auf einer ästhetischen Ebene kollektiv auseinanderzusetzen, Perspektiven zu wechseln, Empathie zu entwickeln, kritisches Denken zu fördern. Theater ist nicht nur ein Medium der Unterhaltung, es ist zugleich - und das macht ein Blick in seine Geschichte immer wieder deutlich - eine lebendige Plattform für politische und soziale Auseinandersetzungen. Theater ist also ein Ort, der uns kollektiv fordert und zugleich verbindet. Leider gerät diese wertvolle Funktion des Theaters in der krisengebeutelten Zeit immer wieder aus dem Blick und das Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz von Kunst und Kultur scheint mancherorts zu bröckeln. Die gegenwärtigen Kürzungen im Kulturetat sind dabei ein alarmierendes Signal. Sie zeugen einerseits von einer Unterschätzung der Rolle von Kunst und Kultur als essenzielle Bestandteile einer lebendigen Demokratie und einer mündigen Gesellschaft. Andererseits führen sie uns die Furcht vor dem Potential des Theaters als Raum für gesellschaftliche Kritik vor Augen. Denn Theater fordert Machtstrukturen heraus. Das zeigen nicht nur zahlreiche Beispiele aus der Geschichte, sondern auch einige beunruhigende Debatten, die im Zuge des zunehmenden politischen Rechtsrucks in Europa entflammen, oder auch aktuelle Reaktionen autoritär regierter Staaten, die kritische Stimmen durch Einschränkungen der künstlerischen Freiheit zum Schweigen zu bringen versuchen, Theaterschaffende zur Selbstzensur drängen und die Vielfalt der Meinungen und künstlerischer Ausdrucksformen der Konformität und der Anpassung zum Opfer fallen lassen. Die wissenschaftlichen Beiträge dieser Doppelausgabe von Forum Modernes Theater greifen zahlreiche Fragen und vielfältigen Aspekte auf, die sich aus den komplexen Verschränkungen von Theater und Gesellschaft ergeben. Nadja Rothenburger stellt Barbara Lubichs Tanzdokumentation Im Umbruch (2020) in den Mittelpunkt ihres Beitrags und untersucht, unter Bezugnahme des Begriffs ‚ Auto_Choreo_Grafie ‘ , wie die Tänzer: innen Daniela Lehmann, Fine Kwiatkowski und Cindy Hammer durch und mit dem Film in einem sozialen und künstlerischen Beziehungsgeflecht situiert werden, wobei die Erfahrung des politischen Mauerfalls von 1989, wie Rothenburger herausarbeitet, zum verbindenden Moment zwischen den Tänzerinnen wird. Eva Döhne analysiert in ihrem Beitrag Creation (Pictures for Dorian) des Kollektivs Gob Squad und fragt in diesem Kontext nach den Mechanismen des Sehens: Inwiefern muss die Lust zu sehen und die Lust sich zu zeigen stets ineinander verschränkt gedacht werden? Und inwiefern ist die Verschränkung Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 5 - 6. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0001 des Sehens über den Blick grundlegend mit der Konstitution des Subjekts verbunden? Patrick Aprent und Magret Berger hingegen entführen uns in die Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts und stellen ausgewählte Theaterleiterinnen ins Zentrum ihrer Untersuchung. Diese Frauen leisteten einen wesentlichen Beitrag zum Theater- und Kulturleben ihrer Zeit, wurden aber, so die beiden Autor: innen, in der späteren Theatergeschichtsschreibung marginalisiert. Stefan Hölschers Beitrag fragt in Rückgriff auf Peter Szondi, inwiefern sich in René Polleschs Passing. It ’ s so easy, was schwer zu machen ist (2020) eine Problematik manifestiert, die auf das Verhältnis von ‚ sozialer Wirklichkeit ‘ und deren Verfremdung im epischen Theater zurückgeht. Der Beitrag von Matthias Mansky hingegen fokussiert Herbert Fritschs Inszenierung von Ferdinand Raimunds Die gefesselte Phantasie am Wiener Burgtheater (2023), die - wie der Autor herausarbeitet - die traditionsbeladenen Inbilder österreichischer Kultur torpediert. Neben den Einzelbeiträgen freuen wir uns, Ihnen auch in dieser Ausgabe ein Themenheft präsentieren zu können, das mit Performances of Belonging betitelt ist und von Anke Charton und Theresa Eisele von der Universität Wien kuratiert wurde. In Rückgriff auf das Beloning-Konzept der Histotikerin Levke Harders stellt es den heute gesellschaftlich virulenten Begriff der ‚ Zugehörigkeit ‘ in den Mittelpunkt des Interesses und fragt - in historischer wie zeitgenössischer Perspektive - , wie performative und theatrale Praktiken an der (Neu-) Ordnung sozialer Strukturen der europäischen Moderne mitwirken und Nicht-/ Zugehörigkeiten aushandeln. Berenika Szymanski-Düll, November 2024 6 Berenika Szymanski-Düll