eJournals Forum Modernes Theater 35/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2024-0006
0120
2025
351-2 Balme

Die Verkörperung der Sprache als groteske Entfesslung: Herbert Fritschs Raimund

0120
2025
Matthias Mansky
Ferdinand Raimund (1790–1836) gilt in Österreich bis heute als Theaterklassiker und zählt gemeinsam mit Johann Nestroy (1801–1862) zu den Hauptvertretern des sogenannten ‚Wiener Volkstheaters‘. Während Nestroy nach wie vor als aktueller Satiriker angesehen wird, war es Raimund, den man nach seinem Tod identitätspolitisch vereinnahmte und zum österreichischen Volksdichter stilisierte. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit Herbert Fritschs Inszenierung von Raimunds Die gefesselte Phantasie am Wiener Burgtheater (Premiere: 29. März 2023) auseinander. Fritschs Anknüpfen an vorliterarische und prädramatische Theatertraditionen torpediert nicht nur die traditionsbeladenen Inbilder österreichischer Kultur, sondern sein Inszenierungsstil verschließt sich jeglichen Kanonisierungsprozessen, indem sich Sprache und Semantik in eine teilweise groteske Körperdynamik und Rhythmik auflösen. Hierdurch lässt er den oftmals zugunsten des Dramentextes vernachlässigten theatralen und korporalen Elementen auf der Bühne erneut Gerechtigkeit widerfahren.
fmth351-20071
Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund 1 Matthias Mansky (Salzburg) Ferdinand Raimund (1790 - 1836) gilt in Österreich bis heute als Theaterklassiker und zählt gemeinsam mit Johann Nestroy (1801 - 1862) zu den Hauptvertretern des sogenannten ‚ Wiener Volkstheaters ‘ . Während Nestroy nach wie vor als aktueller Satiriker angesehen wird, war es Raimund, den man nach seinem Tod identitätspolitisch vereinnahmte und zum österreichischen Volksdichter stilisierte. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit Herbert Fritschs Inszenierung von Raimunds Die gefesselte Phantasie am Wiener Burgtheater (Premiere: 29. März 2023) auseinander. Fritschs Anknüpfen an vorliterarische und prädramatische Theatertraditionen torpediert nicht nur die traditionsbeladenen Inbilder österreichischer Kultur, sondern sein Inszenierungsstil verschließt sich jeglichen Kanonisierungsprozessen, indem sich Sprache und Semantik in eine teilweise groteske Körperdynamik und Rhythmik auflösen. Hierdurch lässt er den oftmals zugunsten des Dramentextes vernachlässigten theatralen und korporalen Elementen auf der Bühne erneut Gerechtigkeit widerfahren. I. Klassikerstilisierung und Theateraufführung Konsultiert man die gängigen Handbücher zu den deutschen Klassikern, gewinnt man schnell den Eindruck, dass die Theater zu ihrer Kanonisierung wenig beigetragen hätten. Wird in ihnen die Dramatik von Dichtern wie Goethe oder Schiller im Hinblick auf ästhetische oder philosophische Fragestellungen in der Regel bis ins kleinste Detail beleuchtet, so findet man zur Aufführungsgeschichte oftmals nur kürzere Randnotizen. Literaturkanon und Theater scheinen trotz offensichtlicher Interdependenzen in einem schwierigen Verhältnis zueinander zu stehen. Auch wenn es zweifellos performative Prozesse und theatrale Inszenierungen waren, die eine Popularisierung und Vereinnahmung der heutigen Klassiker beförderten, stellten sie gleichzeitig einen Risikofaktor für ein lineares, ernsthaftes und wortgetreues Rezeptionsverhalten dar, wie es spätestens seit dem 19. Jahrhundert den bildungsbürgerlichen und nationalliterarischen Standards entsprach. Während sich das kanonisierte literarische Werk als „ kultureller Text “ 2 gerade durch Wiederholung und Vergegenwärtigung auszeichnet, da es permanent angeeignet, internalisiert und als verbindlich akzeptiert werden muss, entzieht sich die Aufführung in ihrer Flüchtigkeit und Singularität dem Werkbegriff. Aufführungen sind demnach keine Kunstwerke, da sie „ über ihren konkreten Vollzug hinaus auf keine materiellen Artefakte reduziert werden können “ 3 , sodass ihre Ereignishaftigkeit mit dem zum ‚ Klassiker ‘ stilisierten Dramentext oftmals zu kollidieren droht. Die Erhebung eines Literaten in den Rang des Klassikers ist hingegen stets an identitätspolitische Faktoren geknüpft. Deutlich wird dies etwa anhand der Rezeptionsgeschichte eines Schauspielerdramatikers wie Ferdinand Raimund (1790 - 1836), der zwar in bundesdeutschen Literatur- und Theatergeschichten keine Rolle spielt, in Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 71 - 88. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0006 Österreich allerdings gemeinsam mit Johann Nestroy (1801 - 1862) zu den Hauptvertretern des sogenannten ‚ Wiener Volkstheaters ‘ zählt. 4 Raimunds Karriere als Schauspieler und Dramatiker wurde zumeist als kleinbürgerliche Aufstiegsgeschichte eines Drechslersohns beschrieben, der durch harte Arbeit an seiner Kunst vom Laiendarsteller und Kopisten berühmter Vorbilder zum vielumjubelten Charakterdarsteller und schließlich zu einem über die Grenzen der Habsburgermonarchie hinaus erfolgreichen Dichter avancierte. Im Geschichtsbewusstsein für die Biedermeierzeit und der damit einhergehenden österreichischen Identitätssuche war Raimund stets von Bedeutung. 5 Bereits nach seinem Tod konvergierten die zahlreichen Erinnerungen an seine Märchendramen auffällig mit der verklärten Stilisierung eines biedermeierlichen Alt-Wiens, in der sich nicht nur der Verlust des Bildes von Wien als politisch und kulturell intakter Kaiserstadt, sondern auch das Ringen um eine deutsch-österreichische Identität innerhalb des Vielvölkerstaates andeutete. Demgegenüber waren die Bemühungen um eine österreichische Literaturgeschichte nach 1900 von der Sorge um den Fortbestand Österreichs vor dem Ersten Weltkrieg geprägt. 6 Die Enthüllung des Raimunddenkmals 1898 vor dem Deutschen Volkstheater entsprach somit einer gewissen Programmatik. Die Volkstheatertradition fungierte als „ Leitbild des österreichischen Selbstverständnisses “ 7 , sodass etwa Hugo von Hofmannsthal in Raimund jenes „ Wesen “ zu erkennen glaubte, „ in dem dieses Wien irgendwie Geist wurde “ 8 , oder der Theaterhistoriker Franz Hadamowsky noch 1925 Raimunds Schauspielkunst als „ stehende Maske des Erzwieners “ 9 bezeichnete. Zu einer Vereinnahmung Raimunds kam es auch in der Zeit des Nationalsozialismus, in der ihm die „ idealtypische Wiener Variante des deutschen Volksgeists “ 10 konzediert wurde. So erklärte ihn etwa Heinz Kindermann zum „ deutschen Volksdramatiker “ 11 , dessen Leistungen erst durch die Rezeptionsbedingungen eines ‚ Großdeutschen Reiches ‘ angemessen bewertet werden könnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Raimund in Otto Rommels Standardwerk zur Alt-Wiener Volkskomödie, in der sich der Autor um die Darstellung einer genuinen Wiener Formtradition und Komik bemühte, zum ‚ Vollender ‘ des Zauberstücks gekürt, 12 einer Gattung, die durch die satirischen und parodistischen Possen Nestroys abgelöst werden sollte. 13 Zeitgleich passten die vermeintlich idyllischen Märchendramen Raimunds der zu Verdrängung tendierenden Theater- und Filmindustrie der Nachkriegszeit ins Konzept. Auch die editionsphilologischen Bemühungen im Vorfeld der neuen historischkritischen Ausgabe standen in einem identitätspolitischen Kontext, wodurch Raimunds Dramen nicht als Stücke eines Schauspielers und Theaterpraktikers, sondern eines österreichischen Dichters ediert wurden. 14 Obgleich in Raimunds Werk die Intention einer ästhetischen Hebung des Wiener Unterhaltungstheaters ersichtlich ist, überwiegt im Urteil der Nachwelt weiterhin das von Legendarisierung geprägte Bild vom sentimental-naiven Biedermeierdichter, dem es zeit seines Lebens verwehrt blieb, seine Stücke im Burgtheater aufzuführen. Hierdurch wurde nicht zuletzt der Blick auf Raimunds theaterpraktische Betätigungsfelder als Schauspieler, Regisseur, Direktor und früher Theateragent, der seine Stücke selbst vermarktete, verstellt. Während Raimund-Inszenierungen in den letzten Jahrzehnten vermehrt zu einer Angelegenheit von Sommertheatern geworden sind, verdeutlicht die allgemeine Skepsis, sobald sich doch einmal ein bundesdeutscher Regisseur an eines seiner Stücke heranwagt, dass Raimund nach wie vor als österreichisches Gemeingut reklamiert wird. Und dann auch noch Herbert Fritsch - 72 Matthias Mansky ein Regisseur, der ohnehin dafür bekannt ist, mit seinen exzentrischen und komödiantischen Produktionen konventionelle Inszenierungsmuster und Publikumserwartungen zu unterlaufen. 15 Sind diese in Wien, was Raimund und Nestroy betrifft, weiterhin mit Persönlichkeiten wie Josef Meinrad, Attila und Paul Hörbiger, Hans Moser oder Paula Wessely aufs Engste verbunden, so kollidiert Fritschs Raimund - wie in der Folge zu zeigen sein wird - nicht nur mit dessen Klassikerstatus, sondern auch mit den traditionsbeladenen Inbildern österreichischer Kultur. II. Ferdinand Raimunds Die gefesselte Phantasie: Theaterhistorischer Kontext Raimund und Fritsch - so abwegig scheint diese Konstellation auf den ersten Blick eigentlich gar nicht zu sein. Während Raimund trotz seiner vermeintlichen Dichterambitionen ein für seine Zeit bemerkenswerter Theaterpraktiker blieb, hat auch der Regisseur Fritsch sein Selbstverständnis als Schauspieler nie abgelegt. Ganz im Gegenteil: Wie Raimund, der noch bevor er sich zum gefeierten Dramatiker entwickelte, als beliebter Schauspieler auf den Vorstadtbühnen reüssierte, agierte auch der 1951 in Augsburg geborene Fritsch vor seinen ersten Regie-Erfolgen als Schauspielstar im Ensemble von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne. Bei beiden handelt es sich somit um Vollblut-Schauspieler, deren künstlerische Laufbahn immer wieder von ihren Erfahrungen auf der Bühne profitierte. Hat die neuere Forschung betont, dass sich in Raimunds Stücken Spuren des Schauspielers im Text rekonstruieren lassen, 16 so ist auch in Fritschs Regiepraxis das vordergründige Interesse an Mimik, Gestik, Körperlichkeit und Rhythmik - kurzum am Schauspiel selbst - nicht von der Hand zu weisen. Dass Fritsch für seine Inszenierung am Burgtheater mit dem Zauberspiel Die gefesselte Phantasie ein heute weitgehend unbekanntes Raimund-Stück auswählte, lässt sich pragmatisch begründen. Fritsch wollte ursprünglich Raimunds Zauberstück Der Alpenkönig und der Menschenfeind inszenieren, das er als Student in den Münchner Kammerspielen gesehen hatte. 17 Da dieses 2012 in der Regie von Michael Schachermaier als letzte Raimund-Inszenierung im Burgtheater gespielt wurde, entschied er sich in enger Abstimmung mit seiner langjährigen Dramaturgin Sabrina Zwach für ein Drama Raimunds, das auch die Forschung bisweilen vor Probleme stellte. Diese akzentuierte aufgrund der im Stück vorherrschenden rhythmisierten Prosa einen allegorischen Ernst, der als „ Versuch “ Raimunds interpretiert wurde, „ in der hohen Literatur Fuß zu fassen “ 18 . Demgegenüber blieben die komischen und parodistischen Elemente, aus denen das Zauberstück ebenso besteht, in vielerlei Hinsicht unberücksichtigt. 19 In Raimunds Stück terrorisieren die beiden Zauberschwestern Vipria und Arrogantia die Bewohner der entlegenen Blumeninsel Flora, die sich ausschließlich der Dichtkunst verschrieben haben. Als das Orakel des Apollo verkündet, dass die Macht der Störenfriede nur gebrochen werden kann, wenn sich die Königin Hermione vermählt und ihrem Reich einen Herrscher gibt, besinnt sich diese auf ihr Gelübde, nur einen „ Sänger hoher Lieder “ 20 zu heiraten, weshalb sie vor zwei Jahren auch den Antrag des Königs von Athunt abgelehnt hat. Die darauffolgende Verwüstung ihres Lieblingsgartens durch die Zauberschwestern verdeutlicht hingegen die Notwendigkeit, rasch zu handeln. Und so entschließt sich Hermione, einen Poesiewettbewerb um ihre Hand und die Krone ihres Reiches zu veranstalten, in der Hoffnung, dass diesen der Hirte Amphio, dessen Herkunft den Bewohnern von Flora unbekannt ist, für sich 73 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund entscheidet. Vipria und Arrogantia verstehen es jedoch, auch diesen Plan zu durchkreuzen. Indem sie die poetische Phantasie, die die Dichter der Insel begeistert, in ihre Gewalt bringen und sie zwingen, für den aus einem Wiener Bierhaus entführten, derben Harfenisten Nachtigall ein Preisgedicht zu verfassen, wollen sie Hermiones Vorhaben vereiteln. Während nun alle Inselbewohner - einschließlich Amphio - außerstande sind, ein Gedicht zu schreiben, gelingt es auch Nachtigall nicht, der gefesselten Phantasie erfolgversprechende Verse zu entlocken, woraufhin er frustriert beschließt, ein ihm bekanntes Lied von der „ schönen Mageroni “ in „ Hermioni “ 21 umzuändern, um den Wettbewerb zu gewinnen. Tatsächlich ist sein bescheidener Beitrag anfangs der einzige, wodurch ihm die Hand der verzweifelten Königin winkt. Allerdings erscheint im letzten Moment doch noch die von Apollo befreite Phantasie und inspiriert Amphio zu einem Gedicht, in dem er sich als Sohn des Königs von Athunt zu erkennen gibt und den Wettstreit für sich entscheidet. Als Vipria und Arrogantia ihre Niederlage nicht akzeptieren und den Tempel zerstören wollen, präsentiert sich Apollo selbst als Deus ex Machina, verbannt die Zauberschwestern in den Orkus, vereinigt das Liebespaar und erklärt die Blumeninsel endgültig zur Dichterinsel. Auf ihr findet schlussendlich auch Nachtigall als zweiter Hofnarr Unterschlupf. Raimund schrieb sich in diesem Stück die Rolle des Harfenisten Nachtigall nicht ohne Ironie auf den Leib. Im Vorfeld musste er sich immer wieder Anschuldigungen gefallen lassen, nicht der Autor seiner Dramen zu sein, wogegen er sich unentwegt zur Wehr setzte. Mit der Gattungsbezeichnung ‚ Original-Zauberspiel ‘ akzentuierte er seinen Originalitätsanspruch und den Umstand, dass der Stoff auf keine direkte Vorlage rekurriere, sondern frei von ihm erfunden sei. Sein Stück situiert er auf der Insel Flora, einer isolierten „ Welt des schönen Scheins “ 22 , die auch als Elfenbeinturm eines pseudopoetischen Höhenkamms verstanden werden darf. 23 Mehr als dass Raimund in seinem Drama programmatisch auf seine Ambitionen als verhinderter Hochstildichter verweist, scheint er den zeitgenössischen Literatur- und Theaterbetrieb aufs Korn zu nehmen, hinter dessen schöngeistiger Poesie er Neid, Missgunst und Arroganz wittert. Diese werden auf seiner Dichterinsel von den dramaturgischen Spielverderberinnen Virpria und Arrogantia dekuvriert, die die auf Selbststilisierung und Verdrängung gestützte Idylle in Aufruhr versetzen. Indem sie den Garten in Hermiones Palast verwüsten und in eine öde Moorlandschaft verwandeln, kehren sie hervor, was sich „ hinter der Fassade “ 24 der üppigen Blumendekoration verbirgt. Die ästhetische Existenz der parodistisch gezeichneten Dichterlinge wird, wie Pia Janke dargelegt hat, „ als Leben im schönen falschen Schein “ 25 kompromittiert, da Vipria und Arrogantia der verdrängten „ Kehrseite einer sublimierten Kunst “ - nämlich dem „ Häßlichen und Trivialen “ 26 - einen Spielraum eröffnen. Der von Raimund vorgestellte Nachtigall wird von ihnen als ästhetischer Fremdkörper auf der Insel eingeschleust, der an ihrem hochtrabenden Habitus kratzt und in der zeitgenössischen Aufführungssituation eine weitaus größere Wirkung beim Publikum erzielte. Hierdurch vermochte es Raimund, die anhaltenden Vorwürfe, die ihm seine dichterische Fähigkeit absprachen, satirisch und parodistisch ins Visier zu nehmen. Nicht umsonst berichten zeitgenössische Kritiken über eine Improvisation Raimunds bei der Uraufführung des Stücks 1828 im Theater in der Leopoldstadt, durch die er eine „ sehr schickliche Gelegenheit fand, sich über das Gerücht auszusprechen “ 27 . Dies verdeutlicht, dass er seine Absicht in der theatralen Interaktion mit dem Publikum zusätzlich markierte. 74 Matthias Mansky III. Allegorischer Ernst und groteske Übertreibung Demgegenüber irritierten bereits die zeitgenössischen Rezensenten die antagonistischen Elemente in Raimunds Drama, durch die es nicht zuletzt von der konventionellen Unterhaltungsdramatik abwich. So berichtet beispielsweise der Kritiker im Sammler von den „ poetischen Schönheiten dieser wirklich zarten, mit treffendem Witz und schalkhafter Ironie [. . .] verflochtenen Dichtung “ , die sich mitunter „ bis zur beißenden Satyre potenzier[en] “ 28 würde. Raimund scheint im Urteil der Zeitgenossen Elemente einer im weiteren Sinne hohen Dramatik (poetische Schönheit, Dichtung, zarter Witz) mit niederer Unterhaltung (schalkhafte Ironie, beißende Satire) amalgamiert zu haben. Dass diese kontrastierenden Ingredienzien in späteren Vorstellungen oftmals recht eigenwillig zugunsten einer allegorischen Ernsthaftigkeit nivelliert wurden, zeigt Adam Müller-Guttenbrunns Rechtfertigung anlässlich der Inszenierung von Die gefesselte Phantasie bei der Eröffnung des Wiener Raimund-Theaters 1893. Müller-Guttenbrunn erläutert hier seine Textrevisionen, die darauf abzielten, die „ reizvolle, sinnige Dichtung “ 29 von parodistischen und selbstironischen Passagen zu befreien, wodurch man den Eindruck gewinnt, dass dem mittlerweile kanonisierten Dichter Raimund die komischen Momente seines Stücks zusammengestutzt wurden. Dies veranschaulicht einmal mehr, dass Komik und populäre Unterhaltung gemessen an Kanon und Klassikerverehrung leicht in den „ Trivialitätsverdacht “ 30 geraten. Immerhin evozierte die Komik, die dafür bekannt ist, Normen und Ordnungen zu transzendieren, bei den gebildeten Ästheten schon immer ein Misstrauen, da sie die ‚ hohe ‘ Kunst durch sie gefährdet sahen. 31 Zur Geringschätzung des Komischen und des „ Artistisch-Artifizielle[n] “ , durch die man oftmals als „ Blödian abgestempelt “ werde, hat sich auch Herbert Fritsch mehrfach geäußert: Denken Sie nur an einen Schauspieler wie Louis de Funès: Was für ein Genie! Und von wie vielen Kritikern wurde er zeitlebens missachtet? Dabei verstand er es wie kaum ein anderer, außerhalb der Grenzen von Sprache und Logik zu agieren - vergleichbar mit Größen wie Charlie Chaplin oder Buster Keaton. [. . .] Wenn Leute anfangen zu blödeln und auf der Bühne herumspinnen, eröffnet das die Möglichkeit, aus dem Gewohnten auszubrechen. Das Gewohnte ist das Alltägliche, das Reich der Logik [. . .]. Sich aus dem einmal auszuklinken, buchstäblich verrückt zu sein, um vielleicht aus einer verrückten Perspektive wahrzunehmen, finde ich ungemein wertvoll. 32 Die hier zitierte Stelle aus einem Interview mit Fritsch erinnert wohl nicht zufällig an Michail Bachtins Ausführungen über das Motiv des Wahnsinns, das dieser als charakteristisch für die Groteske ansieht, da es erlaubt, „ die Welt mit anderen Augen zu sehen, mit einem von ‚ normalen ‘ Vorstellungen und Bewertungen freien Blick “ 33 . Auch die „ Grenzen zwischen Körper und Welt und zwischen verschiedenen Körpern verlaufen in der Groteske “ , wie Bachtin betont, „ völlig anders als in klassischen und naturalistischen Motiven “ 34 : Sehen wir einmal von den nicht unwesentlichen historischen und gattungsmäßigen Varianten ab, so zeichnet sich der neue Leibes-Kanon dadurch aus, daß er von einem völlig fertigen, abgeschlossenen, streng abgegrenzten, von außen betrachteten, unvermischten, individuell-ausdrucksvollen Leib ausgeht. Alles was herausragt und absteht, alle scharf ausgeprägten Extremitäten, Auswüchse und Knospungen, das heißt, alles, was den Körper über seine Grenzen hinaustreibt, was einen anderen Körper zeugt, wird entfernt, weggelassen, zugedeckt, abgeschwächt. Genauso werden auch alle Öff- 75 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund nungen verdeckt, die in die Tiefe des Leibes hineinführen. Der nichtgrotesken Gestalt des Leibes liegt die individuelle, streng abgegrenzte Masse des Leibes zugrunde, seine massive und taube Fassade. [. . .] Alle Merkmale der Nichtabgeschlossenheit, der Unfertigkeit des Leibes werden sorgfältig beseitigt - genauso wie alle Äußerungen des innerleiblichen Lebens. Die von diesem Kanon geprägten Normen der offiziellen und literarischen Rede belegen alles das mit einem Verbot, was mit Befruchtung, Schwangerschaft, Geburt zusammenhängt, das heißt, gerade das, was von der Unfertigkeit und Nichtabgeschlossenheit des Leibes und von seinen innerleiblichen Leben zeugt. Zwischen der intim-familiären und der offiziellen „ geziemenden “ Rede wird eine scharfe Grenze gezogen. 35 In seinem Interesse am Komischen, Grotesken und Absurden knüpft Fritsch, wie Elisabeth Großegger kürzlich gezeigt hat, an prädramatische und vorliterarische Theaterformen an, die im 18. und 19. Jahrhundert durch die Bemühungen um ein deutsches Nationaltheater von den institutionalisierten Schaubühnen vertrieben wurden. 36 „ [Ü] berbetontes Sprechen, große Gesten, weit aufgerissene Augen, übertriebene Kostüme, große, offene Räume “ 37 stehen für eine groteske Hyperbolik, die sich in Fritschs Inszenierungen einem „ streng abgeschlossenen “ 38 , fertigen und autonomen Körperkonzept querstellen (Abb. 1). 39 Ebenso erscheint Fritschs Regiearbeit als ein unabgeschlossener, stets im Werden begriffener Prozess. Fritsch ist kein Regisseur, der aus dem Textbuch inszeniert, sondern er entwickelt seine Ideen gemeinsam mit dem Ensemble. 40 Am Beginn einer Inszenierung steht somit nicht der Regieeinfall, sondern das Konzept des Bühnenbildes und die anschließende Leseprobe. Bei der gemeinsamen Erarbeitung der Inszenierung gilt das Abb. 1: Elisa Plüss (Arrogantia), Maria Happel (Hermione), Sara Viktoria Frick (Vipria), © Matthias Horn. 76 Matthias Mansky Hauptaugenmerk dem Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler, der in Bewegung gesetzt wird und eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem Text, der Handlung sowie dem „ Primat des Kopfes und des Denkens “ 41 erlangen soll. Durch diese, wenn man so will, Rückübersetzung eines Dramas in voraufklärerische Theatertraditionen werden im Rahmen der Aufführung stillschweigend auch jene Ordnungsmechanismen entlarvt, auf denen die Literarisierung des Theaters und die Kanonisierung von Werken beruhen. Der Huldigung des idealisierten, klassischen Textes und seines Autors steht die stets unberechenbare Aufführung gegenüber, was bei Fritsch noch übersteigert wird, indem Sprache vermehrt in Wort-Klang, Rhythmus und Körperdynamik übergeht. Das Publikum soll dadurch „ verwirrt werden, einen Rausch erleben “ und bisweilen auch den „ Durchblick verlieren “ dürfen, denn: „ Immer nur bescheid wissen zu wollen, ist ziemlich jämmerlich. “ 42 IV. Spiele mit der Publikumserwartung und der Raimund ’ schen Sprachkonzeption In Fritschs Inszenierung von Raimunds Die gefesselte Phantasie wird das Spiel mit der Publikumserwartung bereits vor der eigentlichen Vorstellung evident. 43 Nehmen die im Burgtheater eintreffenden Zuschauerinnen und Zuschauer eigentlich an, dass die Aufführung erst dann beginnt, wenn sie ihre Plätze eingenommen haben, das Licht ausgeht und der Vorhang hochgezogen wird, so erhalten sie bereits beim Betreten des Zuschauerraums einen freien Blick auf die dunkle Bühne. Während sich die ersten Besucher einfinden, ihren Sitzplatz aufsuchen oder nach bekannten Gesichtern Ausschau halten, betritt etwas zögerlich und mit abgemessenem Schritt der Schauspieler Markus Scheumann die Bühne und nähert sich der Rampe, wo er - vom Getümmel im Publikum scheinbar unbemerkt - eine beobachtende Position einnimmt. Dass er im Stück den Hofnarren Muh auf der Insel Flora verkörpern wird, ist anhand seines Kostüms - er trägt einen grauen Cordanzug - zu diesem Zeitpunkt noch nicht ersichtlich, auch wenn seine pinke Langhaar-Perücke darauf hinweisen könnte. Immer wieder streift er sich die zugeknöpfte Anzugjacke zurecht. Angesichts des sich füllenden Theatersaals wirkt er nervös, blickt auf die Personen, die gerade vor ihm Platz genommen haben und scheint diese nach und nach abzuzählen. In regelmäßigen Abständen faltet er seine Hände, fasst sich beklemmt an das Sakko in die Brust- und Herzgegend oder lässt nach einem auflockernden Wechsel der Körperhaltung seinen Blick in die oberen Ränge wandern. Nähert sich ihm ein Zuschauer, bedient er sich bisweilen einer abweisenden Gestik. Dieses Prozedere wiederholt sich einige Male. Fallweise wird es unterbrochen, wenn seine Aufmerksamkeit abschweift und er einzelne Gäste, die ihren Sitzplatz nicht finden können und bei anderen Besuchern nachfragen, angespannt mustert. Werden alle ihre Plätze rechtzeitig eingenommen haben? Erst durch die eingespielte Stimme, die das Publikum auffordert, ihre Mobiltelefone auszuschalten, schreckt er auf. Unruhig beginnt nun auch er die Innentaschen seines Anzugs zu inspizieren, bevor er zügigen Schritts in der Dunkelheit des Bühnenraums verschwindet. Für jene Zuschauer, die erst jetzt eilig eintreten, aber auch für viele, die sich angeregt unterhalten haben, bleibt all dies weitgehend unbemerkt. Dennoch bewirkt diese schauspielerische Aktion eine regelrechte Umkehrung konventioneller Theatererfahrungen - sowohl was den zeitlichen Rahmen der Vorstellung als auch die gewohnten Rollen im Rezeptionsprozess betrifft. Die Aufführung hat im Grunde 77 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund bereits beim Betreten des Theaters begonnen und es bleibt vorweg ungewiss, ob sie mit dem komödientypischen Happy End abgeschlossen sein wird. Indem der Schauspieler als Beobachter des Publikums auftritt, verdeutlicht er, dass die Aufführung kein bloßes Anschauungsobjekt ist, sondern sich in der Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum ereignet. Die Bühne erscheint hierdurch als ein Ort der Transgression, die Aufführung als „ inszenierter Ausnahmezustand “ , bei dem auch die „ Grenzen der soziokulturellen Ordnung “ 44 ausgetestet werden. Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden in der Folge zu Mitspielern eines emergenten Spektakels, das das „ Grau des normativen Alltagslebens “ 45 explosionsartig aufbricht. Danach fungiert der sukzessiv von vorne nach hinten beleuchtete, „ knallbunt gestreifte[. . .] “ 46 Bühnenboden als eine Art horizontaler Vorhang. Die Bühne wird von „ hintereinander angeordneten bemalten Seitenkulissen “ 47 begrenzt und ist bunt, abstrakt und leer. Ihre Tiefe dient bei der Abfolge der Auf- und Abtritte nicht zuletzt dem Rhythmus und dem Timing. Während sich im Vordergrund das aktuelle Bühnengeschehen abspielt, erscheinen im Hintergrund bereits die Figuren der darauffolgenden Szene, die sich kontinuierlich nach vorne bewegen (Abb. 3). Die aus aufeinanderfolgenden artistischen und komödiantischen Kunststücken bestehende Aufführung ereignet sich wie auf einem imaginären Fließband, was allerdings nicht bedeutet, dass es sich um eine zeitlich eng bemessene oder mathematisch durchgeplante Slapstick-Abfolge handelt. Zieht sich eine Sequenz auf der Vorderbühne in die Länge, können die auf der Hinterbühne erscheinenden Schauspielerinnen und Schauspieler der zukünftigen Szene ihren Auftritt hinauszögern, indem sie ihren Bewegungsablauf verlangsamen oder zwischenzeitlich nochmals die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Ortswechsel werden dem Publikum somit weniger durch das Bühnenbild visualisiert, als von einem der Aufführung integrierten Chor erläutert, der gelegentlich auch die Szenenanweisungen rhythmisch wiedergibt (Abb. 2). Ihm bleibt es auch vorbehalten, die in Raimunds Stück angelegten Bedingungssysteme, auf denen die Handlung beruht, körperlich und sprachlich zu kommentieren. Indessen wird schnell klar, dass es Fritsch bei seinen chorischen Gruppierungen vordergründig um Rhythmik und Korporalität geht anstatt um inhaltliche Erläuterung. Der sich aus Einzelkörpern konstituierende Chor gemahnt einmal mehr an groteske Spielarten und Körperkonzepte, wenn er andere Figuren in seinen Bann zieht, sich auf der Bühne ausdehnt, aufspaltet, unterschiedliche Abb. 2: Maria Happel als Königin Hermione mit Bewohnern der Insel Flora, © Matthias Horn. 78 Matthias Mansky Schauspielerkörper verschmelzen lässt oder seine Formationen panisch aufgebrochen werden. Darüber hinaus gelingt es Fritsch, die bereits in Raimunds Dramenhandlung angelegten inhaltlichen Leerstellen gekonnt zu bespielen. In Raimunds Zauberstück entspricht die Auseinandersetzung der schöngeistigen Dichterlinge mit den bösen allegorischen Zauberschwestern einem „ dramatischen Konjunktionalsystem “ 48 , dessen Wenn-Dann-Abfolge eine dramaturgische Unsicherheit evoziert, da der tatsächliche „ Grund des Gesamtproblems “ und das „ Ziel seiner Lösung “ 49 allmählich zur Nebensache werden. Die blinde Zerstörungswut der Zauberschwestern begründet sich einzig und allein dadurch, dass sie sich bei ihrer Ankunft auf der Blumeninsel despektierlich behandelt fühlten. So wären sie von Hermione nicht einmal zum Tee eingeladen worden. „ [D]as hat die Schwester so empört “ , ärgert sich Arrogantia - gerade der Tee sei nämlich Viprias „ schwache Seite “ 50 . Hätte Hermione zudem nicht das vermessene Gelübde abgelegt, nur einen Dichter zu ehelichen, oder würde Amphio seine Identität als Königssohn früher preisgeben und die Königin nicht mit seiner Kunst beeindrucken wollen, wären den Zauberschwestern schnell die Hände gebunden. Auch das Orakel verkündet eigentlich schon zu Beginn, dass der zukünftige Herrscher aus dem Hause von Athunt stammen wird - eine Prophezeiung, die Hermione vorerst gekonnt ignoriert. Wurden diese inhaltlichen Leerstellen oftmals als Schwächen des Dramas ausgelegt, so unterstreichen sie den Hochmut, die Vermessenheit und die Selbstgefälligkeit, die auf der Dichterinsel vorherrschen und von denen auch das Liebespaar nicht frei ist. Die Handlung scheint sich allerdings hierdurch über weite Strecken zu erübrigen, da die Figuren als „ Marionetten “ 51 eines überirdischen Ordnungssystems figurieren, das Apollo, die Zauberschwestern, aber auch die Phantasie umfasst. Dies gilt besonders für Nachtigall, dem sich die Handlungszusammenhänge das gesamte Drama hindurch nur bedingt erschließen. Fritsch versteht es nun, diese dramaturgischen Unsicherheiten geradezu auf die Spitze zu treiben. Besonders die Sprache erfährt in seiner Inszenierung eine groteske Verkörperlichung, sodass die Motivierung und das Verständnis der Handlung im Rahmen der Aufführung weiter an Bedeutung verlieren. Auch wenn sich die von Sabrina Zwach verantwortete Bühnenfassung eigentlich sehr eng an Raimunds Text hält, 52 dient sie Fritsch hauptsächlich als Vorlage für sein komödiantisches Gestaltungsprinzip. 53 Die Sprache erfährt in seiner Inszenierung eine semantische Verschiebung, indem die bereits bei Raimund suspekten Dichterlinge bei Fritsch zu Meistern des Abb. 3: Tim Werths als Phantasie, © Matthias Horn. 79 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund Stotterns, Verhaspelns und Missverstehens mutieren. Hieraus resultieren „ etliche[. . .] Wortverdreher[. . .] “ 54 , die die Aussagen der Figuren ad absurdum führen oder eine neue Bedeutungsebene eröffnen. Akzentuiert werden diese sprachlichen Fehlleistungen durch übertriebene Gestik und Mimik. Dieses Spiel mit der Raimund ’ schen Sprache kreiert seinen eigenen Wortwitz und lässt die Körperhaltung der Schauspielerinnen und Schauspieler wiederholt aus dem Handlungszusammenhang kippen. Einerseits beruht es auf plumpen sprachlichen Verwechslungen, wenn beispielsweise der „ Hofpoet “ 55 Distichon als „ Hofprolet “ begrüßt wird oder die Bewohner Floras Hermione um „ ihre Scheide “ anstatt um „ ihr Erscheinen “ 56 bitten. Andererseits dienen gerade diese Versprecher in weiterer Folge als Stichwörter für artistische und komödiantische Aktionen, die nur mehr in einem mittelbaren Bezug zu Raimunds Handlung stehen. So wirft sich Marcel Heuperman als Affriduro nach Hermiones Aufforderung „ Schmecke den Tümpel “ schnell auf den Boden und streckt die Zunge heraus, bevor diese ihren Auftrag zu „ Schmücke den Tempel “ 57 korrigiert; die Zauberschwestern lassen die Blumeninsel vorerst nicht „ veröden “ 58 , sondern „ verblöden “ , weshalb ihre Bewohner zu stumpfsinnigen Zombies mutieren; diese bilden nach Viprias Drohung „ Warte, Schlange! “ 59 sogleich eine Warteschlange und stürzen sich einer nach dem anderen lustvoll hinter die Seitenkulisse, als würde sich dahinter eine lange Rutsche oder ein tiefer Abgrund befinden, in den man einen Bungee-Sprung wagen kann. In Fritschs Inszenierung kommen die Bedeutungszusammenhänge von Raimunds Zauberstück somit streckenweise abhanden, da sich Sprache und Körper zunehmend voneinander abspalten oder nahtlos ineinander übergehen. Einen Höhepunkt erlangt dieses Verfahren in den Neujahrswünschen, die der Hofnarr Muh den Zauberschwestern darbringt. Raimund greift hierbei auf eine satirische Tradition zurück, mit der sich noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Hanswurst Gottfried Prehauser an sein Publikum wandte. Diese Glücksbekundungen schlagen in Muhs Rede hingegen in Fluch und Verwünschung um. In Fritschs Inszenierung beginnt Markus Scheumann während seines Vortrags einzelne Reimwörter und Begriffe, noch bevor er sie ausgesprochen hat, gestisch und mimisch darzustellen, woraus sich für die Zuschauerinnen und Zuschauer eine Art Ratespiel entwickelt. Sinn und Logik bleiben aber auf der Strecke, wenn er etwa das Wort „ Katarrh “ 60 , also die Entzündung von Schleimhaut und Atmungsorganen, mit der Gestik eines auf den Ball tretenden Fußballspielers erläutert, was sich nun nicht mehr auf die Krankheit, sondern auf die Fußball WM 2022 in Katar bezieht. Dem Publikum verschwimmen hierdurch die inhaltlichen Zusammenhänge des Gedichts. Was es hingegen wahrnimmt, ist die korporale Performanz des sich auf der Bühne verausgabenden Schauspielers, der allmählich die Oberhand über den Text gewinnt und sich von diesem zu emanzipieren scheint. Übersteigert wird dies, wenn Scheumann nach Abschluss seiner Verwünschungen, diese abermals zu rezitieren beginnt, nun allerdings rückwärts, sodass sich Sprachproduktion und Sprachverstehen endgültig in der ausschließlichen Rezeption des durch groteske Mimik und Gestik geprägten Schauspielerkörpers auflösen. Die Folge ist ein durch Situationskomik und Slapstick geprägtes Körper-Theater, das zwar immer wieder zur ursprünglichen Handlung zurückzufinden scheint, durch groteske Übertreibung aber seine Vormachtstellung gegenüber dem Primat des Textes und seines klassischen Autors behauptet, denn: „ Jede Szene muss ein Kunststück sein! Theater ist nicht der Ort der Dichterverehrung und Literaturzelebration, Theater 80 Matthias Mansky entsteht im Theater, nicht am Schreibtisch. “ 61 Fritsch bedient sich zudem eines Montageverfahrens, durch das er den komödiantischen und artistischen Sequenzen Zitate aus Film und Populärkultur integriert. Damit gelingt es ihm einmal mehr, den hochtrabenden Habitus auf Raimunds Dichterinsel zu konterkarieren, da die vermeintliche Hochkultur durch das Triviale und Banale aufgeweicht wird. Aus den Rezensionen zu Fritschs Inszenierung wird die Fülle von klar erkennbaren oder vermeintlichen Allusionen schnell ersichtlich: Teletubbies, Louis de Funès, Monty Pythons, Deichkind, Laserkraft 3D, Star Wars, Mission Impossible, Bully-Parade, Andy Warhol, Prince, Michael Jackson, Michael Ende, Rudi Carell, Rainhard Fendrich, Otto Waalkes, Hans Moser, Sesamstraße, Tintifax, Looney Tunes etc. 62 V. ‚ Schwingen ‘ als Auslöser für markante Aufführungsmomente Während die Raimund ’ sche Sprache eine groteske Verkörperlichung erfährt und so in eine neue, der Handlungslogik konträre Form der Komik transformiert wird, intensiviert sich in einem weiteren Schritt die Entfesselung des Schauspielers aus dem Korsett von Dramentext und Regie durch die der Inszenierung immanenten ‚ Schwingung ‘ . In Interviews betont Fritsch regelmäßig sein nach Duke Ellington formuliertes Credo „ It Don ’ t Mean A Thing. If It Ain ’ t Got That Swing “ . Swing kann hierbei einerseits als rhythmische Qualität im Sinne des Jazz verstanden werden und tatsächlich erscheint Fritsch ein Theater ohne Musik undenkbar, auch weil sein Interesse bei einem Theatertext weniger der Interpunktion als der Melodie und dem Klang der Wörter gilt. 63 Andererseits birgt ‚ Schwingen ‘ natürlich auch ein Risiko in sich, wenn der in Schwingung geratende Schauspieler aus seiner Balance zu kippen droht (Abb. 4). Eine Konsequenz kann das ‚ Stürzen ‘ sein, das der Schauspieler Fritsch stets als einen Moment erlebte, in dem „ die Ekstase losging “ 64 . Abb. 4: Markus Scheumann als Hofnarr Muh und Ensemble, © Matthias Horn. In seiner Inszenierung der Gefesselten Phantasie konkretisiert Fritsch die bei Raimund angelegte Marionettenhaftigkeit der Figuren, indem er die von Elisa Plüss und Sarah Viktoria Frick verkörperten Zauberschwestern die Bewegungsabläufe und die körperliche Motorik der von ihnen terrorisierten Inselbewohner kurzfristig steuern lässt. Ähnliches gilt für Nachtigall und dessen Auftritt im Bierhaus, bei dem die von Sebastian Wendelin in eigenwilliger Rock ’ n ’ Roll-Manier gespielte Harfe die Wirtshausbesucher gekonnt durcheinanderwirbelt (Abb. 5). Auf der Bühne vollzieht sich hierdurch eine groteske Umkehrung der klassischen Theatersituation, in der der Körper 81 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund dem Text untergeordnet ist. Der „ Kanon der geziemenden Rede “ 65 wird außer Kraft gesetzt, wenn verzerrte Stimmen und dissonante Musik, die die Liedtexte nur mehr schwer verständlich machen, den Ton angeben und die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler nicht nur aus dem dramatischen Text ausscheren, sondern durch den scheinbaren Verlust der Schwerkraft von der Bühne zu fallen drohen. Abb. 5: Sebastian Wendelin in der Raimund-Rolle des Harfenisten Nachtigall, © Matthias Horn. Die aus den Fugen geratene Ordnung der Insel Flora spiegelt sich somit in den korporalen Handlungsvollzügen wider, die durch ständiges Wanken, Schwanken und Schwingen gekennzeichnet sind. Folglich stöckelt etwa Maria Happel als Hermione die gesamte Aufführung hindurch in roten High Heels über die Bühne, zu Beginn noch in einer vermeintlichen (Liebes-)Trunkenheit, später in permanenter Hektik und Eile, sodass ihre Wege in der schier unendlichen Tiefe der Bühne zu einer physischen Herausforderung werden (Abb. 1 und 2). Neben ihrer grotesken Körperlichkeit ist Fritschs Inszenierung somit prädestiniert dafür, dass sich die von ihm choreografierten Körper-Konfigurationen in der Aufführungssituation unvorhersehbar und eigenständig weiterentwickeln. Man kann mit Jens Roselt von markanten Momenten sprechen, auf die Fritschs Inszenierung geradezu abzielt. Der markante Moment weist die Aufführung einmal mehr als „ Zwischengeschehen “ 66 aus. Roselt bezeichnet ihn als Situation, die „ nicht ausschließlich als Ablauf bzw. Nachvollzug szenischer Vorgänge beschrieben werden kann, sondern diese mit der Wahrnehmung des Zuschauers verlötet “ 67 . Im Gegensatz zu einem spezifischen Effekt, der sich in jeder weiteren Aufführung wiederholen lässt, ist der markante Moment danach für immer verloren. In markanten Momenten werden „ vertraute Situationen ihrer Selbstverständlichkeit enthoben, gewohnte Wahrnehmungsweisen, Interpretations- und Verhaltensmuster fraglich “ , wodurch eine „ Form von A-Normalität “ 68 entsteht. Das „ intensive Erlebnis “ mag hierdurch auch als eine „ Art Panne der Rezeption “ 69 erscheinen, da es als Krisenerfahrung, Mangel oder Störung empfunden werden kann. Das Publikum wird in einer Ungewissheit belassen, inwieweit der wahrgenommene Moment tatsächlich zur Inszenierung gehörte, oder erst durch die Aufführungssituation erzeugt wurde: Ketzerisch kann man sagen, dass Theater seine Ereignishaftigkeit gerade dann ausspielt, wenn es danebengeht, dass Aufführungen dadurch einzigartig werden, wenn sie gegen Programme oder Vorgaben der Inszenierung verstoßen und ‚ so ‘ die leibhaftige Zeugenschaft der Zuschauer wertschätzen. 70 Die in Fritschs Inszenierung entfachte groteske Hysterie fordert derartige Aufführungsmomente regelrecht heraus. So sprin- 82 Matthias Mansky gen etwa die ängstlichen Bewohner von Flora in ihrer Hektik von der Bühne in den Zuschauerraum oder verlieren durch mehrmalige abrupte Verbeugungen ihre Perücken, die Steirerhüte des schuhplattelnden Chors fallen zu Boden und die von der Decke heruntergelassenen Zauberschwestern verheddern sich in den Seilen. Dieses inszenatorische Spiel mit unberechenbaren Körperaktionen zwingt die Schauspielerinnen und Schauspieler zu ständigen Reaktionen auf eine neu entstandenen Aufführungssituation, wodurch sie sich nicht zuletzt von Text und Inszenierung weiter loslösen. Der Verlust der Perücke verleitet beispielsweise den Schauspielerkollegen dazu, aufzuschreien: „ Achtung Perücke! “ Oder Maria Happel rutscht bei einer Aufführung die Krone ins Gesicht, sodass sie die Szene mit einer gewissen Orientierungslosigkeit weiterspielen muss. Ähnliches passiert Bless Amada, dem als Amphio ebenfalls seine Perücke abhandenkommt, nachdem er - von der Phantasie begeistert - in starke Wallung gerät und die Körperkontrolle zu verlieren scheint. Da er es nicht gleich schafft, sich die Perücke erneut überzuziehen, muss er sie für den weiteren Szenenverlauf in der Hand halten, bevor es ihm in einer kurzen Sprechpause doch noch gelingt, sie aufzusetzen und zurechtzurücken. Sebastian Wendelin kippt hingegen bei einer anderen Vorstellung die Harfe auf sein Knie, was er mit einem lautstarken „ Aua! “ kommentiert. Arthur Klemt stolpert als Apollo bei der Befreiung der Phantasie beinahe über deren Aktenkoffer. In der Person von Tim Werths stößt sich diese wiederum den Kopf an Jupiters Blitz an. Die körperliche Dynamik und Akrobatik verantwortet weitere Sprechfehler, die zu immer neuen Improvisationen animieren. Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt erschließt sich dem Zuschauer oftmals gar nicht mehr so recht, ganz egal, ob er der Inszenierung zum ersten Mal beiwohnt, oder sie schon einige Male gesehen hat. „ Das haben wir jetzt falsch gespielt. Da muss wohl meine Phantasie mit mir durchgegangen sein “ , erschrickt Sebastian Wendelin jeden Abend, nachdem er mit Tim Werths, der als Phantasie eigentlich gefesselt sein sollte, über die Bühne gehetzt ist. Andererseits muss er in einer singulären Aufführung tatsächlich eingestehen: „ Das war jetzt eine Improvisation. Die war gar nicht so gut - aber wurscht! “ Eingeübter Gag oder spontane Erfindung? - Im turbulenten Aufführungsgeschehen verwischen sich sukzessive die Grenzen. Was bleibt ist die „ Schnelllebigkeit “ , die sich zwischen Bühne und Zuschauerraum ereignet und wirkungsästhetisch auf eine von der Handlungslogik distanzierte Lachreaktion abzielt: Sie [die Schnelllebigkeit, M. M.] ist das Wichtigste, weil das Publikum dann keine Zeit mehr zum Nachdenken hat - denn wenn Sie nachdenken, haben Sie keine Zeit mehr zum Lachen. Und somit darf man sich auch auf der Bühne keine Sekunde fragen, was die Zuschauer gerade denken, was man da heroben macht. Dann ist es vorbei. Nur die extreme Konzentration auf den völligen Blödsinn sorgt für die Kraft und die Energie, die sich auf das Publikum überträgt. 71 Fritschs Inszenierung entspricht somit weniger einer Entstaubung des österreichischen Klassikers Ferdinand Raimund, als dass in ihr Staub aufgewirbelt wird. Der Vorgehensweise, einen historischen Dramentext auf aktuelle politische oder gesellschaftlich relevante Themen abzuklopfen, kontert er mit einem Inszenierungsstil, der von Klassikerverehrung nichts mehr wissen will. Indem sich Sprache und Semantik in Körperdynamik und Rhythmik auflösen, entreißt er den Autor dem kulturellen Gedächtnis und lässt den oftmals zugunsten des Dramentexts vernachlässigten komödiantischen und korporalen Spielformen Gerechtigkeit widerfahren. Rai- 83 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund mund, der von der Nachwelt oft als großer österreichischer Dichter verklärt wurde, war ein ebenso gewandter Theaterpraktiker, auch das wird in seinen Stücken ersichtlich. Dass Fritsch seinem heute weitgehend unbekannten Zauberstück Die gefesselte Phantasie zu erneuter öffentlicher Aufmerksamkeit verholfen hat, liegt wohl auch daran, dass die lange verkannten komischen und parodistischen Elemente seinem Inszenierungsstil durchwegs in die Karten spielen. Nach der Premiere im Burgtheater erscheint Fritsch selbst im goldenen Anzug und mit Harfe auf der Bühne, als wolle er Raimund gerade in jenen heiligen Hallen österreichischer Kultur und Identität huldigen, die ihm zu Lebzeiten verschlossen blieben. 72 Ein Handzeichen - allgemeine Stille - große Spannung - ein kurzer, missglückter Akkord - schallendes Gelächter! Raimund hätte seine Schadenfreude. Anmerkungen 1 Gefördert durch den Austrian Science Fund FWF, Grant-DOI: 10.55776/ P34619. Für die Erlaubnis, Fotos der Inszenierung im Rahmen des Artikels abzudrucken, danke ich Eva Ludwig-Glück vom Pressebüro des Burgtheaters. 2 Aleida Assmann, „ Was sind kulturelle Texte? “ , in: Andreas Poltermann (Hg.), Literaturkanon - Medienereignis - Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, Berlin 1995, S. 232 - 244. 3 Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 117. 4 Vgl. in der Folge: Matthias Mansky, „ Theaterpraktiker und Geschäftsmann - neue Perspektiven der Raimund-Forschung “ , in: Nestroyana 43, 1 - 2 (2023), S. 29 - 43. Christian Tillinger, „ Ferdinand Raimund - das Werden einer Persona non grata: Aspekte der Forschungsgeschichte und Biographie “ , in: Maske und Kothurn 46 (2001), S. 49 - 76. 5 Vgl. Tillinger, „ Ferdinand Raimund “ , S. 50. 6 Vgl. Johann Willibald Nagl, Jakob Zeidler und Eduard Castle (Hg.), Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, 4 Bde, Wien/ Leipzig 1898 - 1937. 7 Tillinger, „ Ferdinand Raimund “ , S. 51. 8 Hugo von Hofmannsthal, „ Ferdinand Raimund “ , in: Gesammelte Werke. Prosa III, hrsg. v. Herbert Steiner, Frankfurt am Main 1952, S. XLIX. Vgl. hierzu: Martin Stern, „ Die Raimund- und Nestroy-Rezeption Hofmannsthals mit einem Seitenblick auf Josef Nadler, Heinz Kindermann und Herbert Cysarz, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 14 (2006), S. 369 - 382. 9 Franz Hadamowsky, „ Wesen, Entwicklung und Vollendung der schauspielerischen Persönlichkeit Ferdinand Raimunds “ , in: Ferdinand Raimund als Schauspieler, erster Teil, Wien 1925, S. XXXI-LVL, hier S. XLIX. 10 Tillinger, „ Ferdinand Raimund “ , S. 51. Vgl. Günter Holtz, Ferdinand Raimund - der geliebte Hypochonder. Sein Leben, sein Werk, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 12. 11 Heinz Kindermann, Ferdinand Raimund. Lebenswerk und Wirkungsraum eines deutschen Volksdramatikers, Wien/ Leipzig 1940. 12 Vgl. Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom barocken Welt-Theater bis zum Tode Nestroys, Wien 1952, S. 886 - 927. Otto Rommel, Ferdinand Raimund und die Vollendung des Alt-Wiener Zauberstückes, Wien 1947. 13 Demgegenüber hat die neuere Forschung zum Wiener Vorstadttheater gegen eine lokale Vereinnahmung derartiger Theaterformen argumentiert und die Internationalität der Wiener Unterhaltungsbühnen hervorgehoben. Vgl. hierzu stellvertretend Jürgen Hein, Das Wiener Volkstheater, Darmstadt 1997. Auf Bezüge Raimunds zu den Stücken von Carlo Gozzi verweist etwa Susanne Winter, „ Märchenwelt und Lachkultur bei Carlo Gozzi und Ferdinand Raimund “ , in: Nestroyana 32, 1 - 2 (2012), S. 10 - 23. 14 Demgegenüber werden in der neuen historisch-kritischen Ausgabe erstmals Raimunds Originalhandschriften und die Überarbeitungen in den späteren Theatermanuskripten wiedergegeben, sodass neben den 84 Matthias Mansky Arbeitsprozessen des Dichters der Theaterpraktiker Raimund in den Vordergrund rückt. Vgl. Ferdinand Raimund, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Jürgen Hein et al., Wien 2013 ff. Der Abschluss dieser Ausgabe wird derzeit im Rahmen eines vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF (Austrian Science Fund) geförderten Drittmittelprojekts am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg realisiert. FWF Einzelprojekt P34619: Der „ Theatermacher “ Ferdinand Raimund; Projektleiter: Matthias Mansky, Projektmitarbeiter: Johann Lehner. 15 Vgl. hierzu auch die Dramaturgin Sabrina Zwach im Interview mit der Bühne: „ Wir werden es so machen wie immer. [. . .] Wir werden die Erwartungshaltungen nicht erfüllen. “ (Atha Athanasiadis, „ Immer in die Vollen “ , in: Die Bühne (26. Januar 2023). URL: buehne-magazin.com/ a/ immer-in-dievollen-die-gefesselte-phantasie (Zugriff am 26. Januar 2024). Vgl. auch die Einschätzung von Thomas Rothschild: „ An Herbert Fritsch scheiden sich die Geister. Die einen lehnen ihn rundweg ab, die anderen können gar nicht genug von seinen Methoden bekommen. “ Thomas Rothschild, „ Die Burg lacht. Die gefesselte Phantasie und Der Raub der Sabinerinnen “ (11. Oktober 2023). URL: kultura-extra.de/ theater/ auffuehrung/ repertoire_GefesseltePhantasie_RaubSabinerinnen_burgtheater.phh (Zugriff am 30. Januar 2024). 16 Vgl. Jürgen Hein, „ Der Künstler als Agent. Zur Neuedition der Märchenspiele Ferdinand Raimunds “ , in: Hubert Christian Ehalt / Jürgen Hein (Hg.), Ferdinand Raimunds inszenierte Fantasien, Wien 2008, S. 129 - 146, hier S. 137 f. 17 Vgl. den vom Dramaturgen der Bregenzer Festspiele Florian Amort gehosteten Podcast Hör-Spiele, in dem u. a. Sabrina Zwach und Herbert Fritsch interviewt wurden. URL: https: / / bregenzerfestspiele.com/ de/ ho er-spiele (Zugriff am 8. Februar 2024). 18 Kurt Kahl, Ferdinand Raimund, Felber bei Hannover 1967, S. 63. 19 Vgl. hierzu Matthias Mansky, „‚ Ich bin ein Wesen leichter Art, / Ein Kind mit tausend Launen. . . ‘ Reflexionen über Kunst und Poesie in den Werken Ferdinand Raimunds “ , in: Nestroyana 43, 3 - 4 (2023), S. 98 - 117. 20 Ferdinand Raimund, Die gefesselte Phantasie. Mit einem Nachwort v. Jürgen Hein, hrsg. im Auftrag der Raimundgesellschaft v. Gottfried Riedl, Wien 2002, S. 11. 21 Ebd., S. 58. 22 Jürgen Hein, „ Nachwort “ , in: Ferdinand Raimund, Die gefesselte Phantasie, S. 68 - 74, hier S. 74. 23 Vgl. Mansky, „‚ Ich bin ein Wesen leichter Art, / Ein Kind mit tausend Launen. . . ‘“ , S. 106 - 117. 24 Pia Janke, „ Zauberbrut und Geistergesindel. Raimunds ‚ Spielverderber ‘“ , in: Ilija Dürhammer / Pia Janke (Hg.), Raimund, Nestroy, Grillparzer. Witz und Lebensangst, Wien 2001, S. 97 - 107, hier S. 103. 25 Ebd., S. 103 26 Ebd., S. 105. 27 Ferdinand Raimund, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 2, hrsg. v. Johann Hüttner, Wien 2018, S. 665. 28 Ebd., S. 671. 29 Adam Müller-Guttenbrunn, Die gefesselte Phantasie. Gelegenheitsschrift zur Eröffnung des Raimund-Theaters, Wien 1893, S. 15. 30 Klaus Zeyringer, „ Die Kanonfalle. Ästhetische Bildung und ihre Wertelisten. Literatursoziologischer Essay “ , in: LiTheS 1 (2008), S. 72 - 103, hier S. 86. 31 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, Klaus Zeyringer: „ Komische Diskurse und literarische Strategien. Komik in der österreichischen Literatur - eine Einleitung “ , in: Wendelin Schmidt-Dengler / Johann Sonnleitner / Klaus Zeyringer (Hg.), Komik in der österreichischen Literatur, Berlin 1996, S. 9 - 19, hier S. 9 f. Zum Ausgrenzungsprozess von prä- und nichtliterarischen Formen vgl. auch Gerda Baumbach, Seiltänzer und Betrüger? Parodie und kein Ende. Ein Beitrag zu Geschichte und Theorie von Theater, Tübingen 1995, S. 41: „ Alte rituelle Parodie, rituelles Beschimpfen und Verlachen des ‚ Höchsten ‘ , als die mittelalterlichen - auf der Freiheit des Parodierens während der Fest-Zeit beruhenden - Narrenfeste, Eselsfeste, Charivari, Diablerien, Oster-Lachen 85 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund (risus paschalis), Weihnachts-Lachen (risus natalis) und Begräbnis-Lachen, deren Herkunft im Mythisch-Rituellen zu suchen ist, wurden im Zuge dieser Prozesse der Ausgrenzung und der Vereindeutigung unterworfen; ihre ‚ Protagonisten ‘ , kulturelle Mittler, die sich auch außerhalb der Fest-Zeiten der dort praktizierten Verfahren bedienten, wurden diskriminiert, in Subkulturen abgedrängt und schließlich wirksam reformiert. “ 32 „‚ Man wird als Blödian abgestempelt ‘ Regisseur Herbert Fritsch über Ferdinand Raimund, Louis de Funès und die missachtete Kunst der Komödie “ , in: Wiener Zeitung (29. März 2023). https: / / www.tagblatt-wie nerzeitung.at/ nachrichten/ kultur/ buehne/ 21 83078-Man-wird-als-Bloedian-abgestem pelt.html (Zugriff am 30. Januar 2023). 33 Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, übers. v. Gabriele Leupold, hrsg. v. Renate Lachmann, Frankfurt a. M. 2022, S. 90. Vgl. ebd., S. 90: „ In der volkstümlichen Groteske aber ist der Wahnsinn eine heitere Parodie auf die offizielle Denkart, auf die einseitige Seriosität der offiziellen ‚ Wahrheit ‘ . Das ist ein festlicher Wahnsinn. “ 34 Ebd., S. 357. 35 Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übers. v. Alexander Kaempfe, Frankfurt a. M. 1990, S. 20 f. 36 Vgl. Elisabeth Großegger, „‚ Groteske Komödie ‘ . Herbert Fritsch am Burgtheater “ , in: Stefan Hulfeld / Rudi Risatti / Andrea Sommer-Mathis (Hg.), Grotesk! Ungeheuerliche Künste und ihre Wiederkehr, Wien 2022, S. 241 - 257. 37 Petra Paterno, „ Sinnverlust. Regisseur Herbert Fritsch über Hitchcock, die Steinzeit und Wichtigtuereien am Theater “ , in: Wiener Zeitung (2. Dezember 2015). URL: http s: / / www.tagblatt-wienerzeitung.at/ nachrich ten/ kultur/ buehne/ 789206-Sinnverlust.html (Zugriff am 30. Januar 2024). Fritsch betont hier in einem Interview: „ Die Schauspieler der Stummfilmära sind meine Helden - überbetontes Sprechen, große Gesten, weit aufgerissene Augen, übertriebene Kostüme, große, offene Räume - das gefällt mir. “ 38 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 79. 39 Vgl. ebd., S. 345: „ Übertreibung, Hyperbolik, Übermaß und Überfluß sind nach allgemeiner Auffassung eines der wichtigsten Merkmale des grotesken Stils. “ 40 „ Ich lese ein Stück einmal und schaue dann bis Probenbeginn überhaupt nicht mehr hinein. Ich lasse mir alles von den Schauspielern erzählen, weil es für mich viel wichtiger ist, dass in das Ensemble eine Bewegung kommt. Also [. . .] habe ich auch dieses Stück gelesen und zuerst überhaupt nichts verstanden. Es ist zahm und unverständlich zugleich, kommt pausbackig, mit leuchtend roten Wangen daher und will doch klassisch sein. Ich hatte vor Probenbeginn solche Angst, dass ich nicht mehr schlafen konnte. Aber bei der ersten Leseprobe hab ich mich mit den Schauspielern so amüsiert! Ich war sofort in alle verknallt. Egal, was das für ein Irrtum ist, in den ich mich womöglich hineinbegebe, ich mache es gern. “ Heinz Sichrovsky, „ Entfesselte Spiellust ohne Belehrungsqual “ , in: News 11 (2023), S. 68 - 69, hier S. 69. 41 Großegger, „‚ Groteske Komödie ‘“ , S. 242. 42 Paterno, „ Sinnverlust “ . 43 Für die Aufführungsanalyse wurden die Vorstellungen vom 26.4.2023, 4.5.2023, 16.5.2023, 15.6.2023 und 10.1.2024 besucht. Der Dramaturgie des Burgtheaters in der Person von Barbara Mitterhauser verdanke ich den Mitschnitt der Generalprobe. Zitate aus den Aufführungen richten sich nach den Gedächtnisprotokollen, die während den Aufführungen erstellt wurden. 44 Großegger, „ Groteske Komödie “ , S. 251. 45 Ebd., S. 251. 46 Patric Blaser, „ Ein Bukett entfesselter Kreativität “ , in: Die Furche 14 (6. April 2023), S. 24. 47 Athanasiadis, „ Immer in die Vollen “ . 48 Volker Klotz, Dramaturgie des Publikums. Wie Bühne und Publikum aufeinander eingehen: insbesondere bei Raimund, Büchner, Wedekind, Horváth, Gatti und im politischen Agitationstheater, Würzburg 1998, S. 67. Die anhand von Raimunds Zaubermärchen Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär von Klotz erörterte Wenn- 86 Matthias Mansky Dann-Konstellation lässt sich bis zu einem gewissen Grad auch auf Die gefesselte Phantasie übertragen: „ Weder den Betroffenen auf der Bühne noch dem Publikum werden einleuchtende, aus Erfahrung herzuleitende Ursachen, Folgen, Einschränkungen, Zwecke geliefert. Stattdessen beugt sich jegliches Geschehen dem totalen Gesetz des Wenn/ Dann. Darum ist das Ziel der Gesamthandlung unverhältnismäßig dürftig gegenüber dem Weg dorthin, der sich im Zug und Druck gestellter und vollbrachter Bedingungen verwickelt. Sogar der dramatische Konflikt der widerstreitenden Parteien [. . .] geht in der Bewegung des Wenn/ Dann auf. Macht Partei A einen Zug, dann macht Partei B prompt den entsprechenden Gegenzug. So schiebt das heftige Hin und Wider gegenwärtiger Auseinandersetzungen den Grund des Gesamtproblems und das Ziel seiner Lösung in den Hintergrund. “ Ebd., S. 67. 49 Ebd. 50 Raimund, Die gefesselte Phantasie, S. 15. 51 Holz, Ferdinand Raimund - der geliebte Hypochonder. Sein Leben, sein Werk, S. 176. 52 Bei Sabrina Zwach, die mir ihre Bearbeitung für diesen Artikel zur Verfügung gestellt hat, möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. 53 Vgl. hierzu auch Zwachs Erläuterungen zu ihrer Bearbeitungspraxis: „ Mein Schreibprozess ist nicht intuitiv. Mein Schreibprozess ist diskursiv, ist intellektuell, im Bewusstsein, dass ein Text für eine Inszenierung entsteht, die traumtänzerisch über die Dialoge gleiten wird, im Bewusstsein, dass der Regisseur sich nicht in erster Linie für den Text interessieren wird, sondern den Text als eine von vielen Komponenten sehen, intuitiv mit Worten und Inhalten umgehen wird. Theater ist nicht die Unterabteilung der Literaturwissenschaft oder angewandte Textinterpretation. In Fritschs Kosmos kommt einiges zusammen und in diesem Verständnis gehe ich meinen Teil der Arbeit an. [. . .] Die meisten historischen Texte bleiben historisch, es finden keine Modernisierungen statt, es werden keine tagespolitischen Bezüge eingefügt, und doch werden die Texte verändert. Spuren werden beseitigt, die den Text zu eindeutig - in Ort, Zeit oder Lesbarkeit - machen. Die historischen Stoffe werden vorsichtig aufpoliert, verkehrstauglich gemacht oder etwas beschleunigt. Figuren verschwinden oder es kommen welche dazu. “ URL: https: / / 2019-2024.burg theater.at/ schreibweisen6 (Zugriff am 28. August 2024). 54 Blaser, „ Ein Bukett entfesselter Kreativität “ , S. 24. 55 Die gefesselte Phantasie. Zauberspiel in zwei Aufzügen von Ferdinand Raimund, Bearbeitung/ Fassung: Sabrina Zwach, Manuskript, S. 1. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 17. 58 Ebd., S. 15. 59 Ebd., S. 16. 60 Ebd., S. 20. 61 Zitiert nach: Großegger, „‚ Groteske Komödie ‘ . Herbert Fritsch am Burgtheater “ , S. 244. 62 Vgl. hierzu stellvertretend Julia Danielczyk, „ Raimunds Zaubermärchen glitzert golden “ , in: Salzburger Nachrichten (31. März 2023), S. 8: „ Mit kleinen Verschiebungen in Betonung und Aussprache, grotesker Outrage und Parodie springt er [Sebastian Wendelin als Nachtigall, M. M.] zwischen den Reimen, sodass man manchmal Otto Waalkes, Louis de Funès oder Hans Moser zu hören glaubt, aber in der Rasanz der Szenen muss man bedacht sein, dem Sprachwitz zu folgen. “ 63 Vgl. hierzu Fritsch: „ Kunst muss nicht grundsätzlich Kritik sein. Sie kann auch Genuss bieten. Für meine Arbeit steht fest, dass der spielerische und der optische Genuss im Vordergrund stehen. Ich befrage Stücke wie ein Orakel. Ich höre die Texte und lasse mich vom Swing des Satzes, eines Wortes berauschen. Ein Theaterabend, der alles erklären will, der alles kritisiert, den finde ich unergiebig. Theater sollte eine Droge ohne Schaden sein. “ Zit. nach: Großegger, „‚ Groteske Komödie ‘“ , S. 249. 64 TV aspekte - Herbert Fritsch mischt die Bühne auf - Murmelmurmel, (S)panische Fliege. URL: www.youtube.com/ watch? v=L g-RRLt4MWs&pp=ygUaVHYgYXNwZWt0 87 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund ZSBoZXJiZXJ0IGZyaXRzY2 g%3D (Zugriff am 23. Februar 2024). 65 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 21. 66 Roselt, Phänomenologie des Theaters, S. 46 f. 67 Ebd., S. 13. 68 Ebd., S. 47. 69 Ebd., S. 13. 70 Ebd., S. 266 71 Athanasiadis, „ Immer in die Vollen “ . 72 Vgl. Jakob Hayner, „ Sei nicht so sentimental, das Leben ist hart “ . URL: https: / / www.welt. de/ kultur/ article244614726/ Wiener-Burg theater-Die-gefesselte-Phantasie-und-Kasi mir-und-Karoline.html (Zugriff am 30. Januar 2024). 88 Matthias Mansky