Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2024-0010
0120
2025
351-2
Balme„Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben!“ Konstruktionen von Gemeinschaft in Carl Elmars Liebe zum Volke
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2025
Lisa Niederwimmer
Der Beitrag untersucht Konstruktionen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit anhand des Theaterstücks Liebe zum Volke, oder: Geld – Arbeit – Ehre (1850) von Carl Elmar. Aufgrund seines historischenKontextes und der Rezeption bietet sich dieses Stück für eine Annäherung an den funktionalen Charakter von Theater während des militärischen Ausnahmezustandes an, der nach Ende der Revolutionen von 1848/49 über Gebiete der Habsburgermonarchie verhängt wurde. Der unmittelbare Einfluss der Militäradministration auf den Alltag der Wiener:innen sowie die reaktionäre Politik führten zu Unzufriedenheit bei Teilen der Stadtbevölkerung. Vor diesem Hintergrund rücken Fragen nach der theatralen Verhandlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und nach der Aushandlung von gesellschaftlichen Zugehörigkeiten ins Zentrum der Analyse. Es wird dargelegt, wie die Aufführungen von Liebe zum Volke eine soziale Funktion übernommen haben, indem sie alsVentil dienten, das dem Publikum ermöglichte, Emotionen zu kanalisieren.
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„ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ Konstruktionen von Gemeinschaft in Carl Elmars Liebe zum Volke (1850) Lisa Niederwimmer (Wien) Der Beitrag untersucht Konstruktionen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit anhand des Theaterstücks Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre (1850) von Carl Elmar. Aufgrund seines historischen Kontextes und der Rezeption bietet sich dieses Stück für eine Annäherung an den funktionalen Charakter von Theater während des militärischen Ausnahmezustandes an, der nach Ende der Revolutionen von 1848/ 49 über Gebiete der Habsburgermonarchie verhängt wurde. Der unmittelbare Einfluss der Militäradministration auf den Alltag der Wiener: innen sowie die reaktionäre Politik führten zu Unzufriedenheit bei Teilen der Stadtbevölkerung. Vor diesem Hintergrund rücken Fragen nach der theatralen Verhandlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und nach der Aushandlung von gesellschaftlichen Zugehörigkeiten ins Zentrum der Analyse. Es wird dargelegt, wie die Aufführungen von Liebe zum Volke eine soziale Funktion übernommen haben, indem sie als Ventil dienten, das dem Publikum ermöglichte, Emotionen zu kanalisieren. 1 Am 31. Oktober 1848 wurde die Revolution in Wien durch das Militär niedergeschlagen. Als auch die Aufstände in Ungarn im Oktober 1849 erstickt wurden, siegte die Gegenrevolution über die transleithanischen Ausläufer der ersten europaweiten Bewegung, die politische und soziale Forderungen gestellt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war der junge Franz Joseph I (1830 - 1916) bereits zum Kaiser gekrönt worden. Mithilfe des Militärs versuchte er, die Habsburgermonarchie innen- und außenpolitisch zu stabilisieren. 2 Zentrale, demokratisierende Forderungen der Revolution, wie politische Mitbestimmung und Abschaffung der Zensur, wurden im Keim erstickt und mit repressiver Politik versucht, revolutionäre Kräfte zu unterdrücken. Für große Teile der Monarchie bedeutete das Ende der Revolution die Einführung von Militärgerichtsbarkeit und -administration, die bis 1853/ 54 aufrecht blieben. 3 Für eine theaterhistoriografische Untersuchung erweist sich der militärische Ausnahmezustand in mehrfacher Hinsicht als beachtenswerte Phase. Da die Polizei- und Zensurhofstelle während der Revolution aufgelöst wurde, fiel die Theaterzensur in den Zuständigkeitsbereich des Militärs und damit an eine Stelle, die bis dahin keine Kompetenzen in der Kontrolle theatraler Darstellungsformen innehatte. 4 Bis zur Einführung der Theaterordnung am 25. November 1850 wurde die Theaterzensur offiziell vom Militär verantwortet und weniger strikt gehandhabt, als dies unter Staatskanzler Clemens Fürst Metternich (1773 - 1859) der Fall gewesen war. Obwohl das Militär in der postrevolutionären Phase (und darüber hinaus) die hauptsächliche Funktion hatte, den Staat und die dynastische Herrschaft zu stützen, dürfte paradoxerweise die Kompetenzverschiebung in Kombination mit der politisch instabilen Lage zu einer nachsichtigeren Zensurhandhabe geführt haben. Doch nicht nur auf regulativer Ebene wirkte sich die Militäradministration auf die Gesellschaft aus. Mit einer reaktionären Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 126 - 144. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0010 „ Schreckensherrschaft “ wurde versucht, jeden Ansatz revolutionärer Bestrebungen oder Störungen der öffentlichen Ordnung zu unterbinden. 5 Die Einschränkungen des militärischen Ausnahmezustands hatten unmittelbaren Einfluss auf den Alltag der Menschen und führten zu Unzufriedenheit bei Teilen der Bevölkerung. Das Militär war in den Straßen der Stadt präsent und führte Personenkontrollen durch; Verhaftungen oder Verfahren wurden nach Standrecht exekutiert. 6 Diese Verflechtung von politischen Umständen und gesellschaftlicher Dynamik zeigt sich auch theatral. Sie soll anhand des am 18. März 1850 am National-Theater an der Wien erstaufgeführten Charakterbilds Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre von Carl Elmar (1815 - 1888) im Folgenden nachvollzogen werden. Wie Rezeptionsdokumente belegen, nutzten Teile des Publikums die Premiere sowie folgende Aufführungen als Ventil, um ihrer Unzufriedenheit über die Militärherrschaft und ihrem Unmut über die nicht erfüllten Versprechungen und die gescheiterten Vorhaben der Revolution Luft zu machen. Die Produktion bietet sich für die Annäherung an den funktionalen Charakter von Theater während des militärischen Ausnahmezustandes an. Aufgrund ihres historischen Kontexts und ihrer Rezeption rücken Fragen nach der theatralen Verhandlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und der Aushandlung von gesellschaftlichen Zugehörigkeiten ins Zentrum der Analyse. Carl Elmar porträtiert Vertreter: innen aus Adel, Bürgertum und Proletariat, deren Verhältnis zueinander Aufschluss über die vom Autor imaginierte Gemeinschaft 7 gibt: Der im Titel prominent gesetzte Begriff ‚ Volk ‘ wird zum Ausdruck einer idealisierten Gemeinschaft, die reale gesellschaftliche Gegensätze überwinden soll. Im Finale des Stücks werden diese Gegensätze symbolisch durch mehrere Verlobungen zwischen Figuren teils unterschiedlicher sozioökonomischer Herkunft aufgehoben. Als Schauplatz dient eine Fabrik - ein sozialer Musterbetrieb, in dem gleich einer Petrischale die idealisierte Gemeinschaft im Kleinen kultiviert wird. Dieser Beitrag untersucht somit die Konstruktionen von Gemeinschaft in Elmars Liebe zum Volke und fokussiert drei sich überlagernde Aspekte: das ‚ Volk ‘ als abstraktes Kollektiv, die Fabrik als konkreter Teilbereich desselben und die Aufführung als historisches Ereignis, das als Ventil für ‚ das Volk ‘ diente. Die Anwendung von Kollektivbegriffen wie ‚ Volk ‘ oder ‚ Bürgertum ‘ ist für die Forschung unverzichtbar. Wie die Historikerin Levke Harders festhält, wird deren Konstruiertheit zwar zunehmend, aber nicht immer hinterfragt. Für die Erforschung von Kollektiven, Individuen oder kulturellen Praktiken schlägt Harders daher vor, ‚ belonging ‘ als analytische Kategorie zu nutzen, denn: „ Im Gegensatz zu Konzepten wie Identität betont ‚ belonging ‘ , dass Zugehörigkeiten immer situiert und plural sind, sich verändern, dass sie ebenso strategisch genutzt wie konstruiert sein können. “ 8 Ein abstrakter Ordnungsbegriff wie ‚ Volk ‘ , der für sich genommen nicht mehr benennt als ein Kollektiv von Menschen, setzt Kriterien und Strategien voraus, um die Zugehörigkeit oder Nicht- Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu bestimmen. ‚ Belonging ‘ als analytische Kategorie impliziert die Reflexion des Herstellungsprozesses und ermöglicht, diese Strategien offenzulegen und die Reproduktion historisch gewachsener Fremd- oder Selbstzuschreibungen zu vermeiden. Der Auseinandersetzung mit den Bedeutungsebenen von ‚ Volk ‘ im hier diskutierten Fallbeispiel liegt dementsprechend die Frage zugrunde, wer als Teil dieses Kollektivs zugelassen und wer ausgeschlossen wird. Grundlegend lassen sich drei Strategien unterscheiden, die dem Konzept ‚ Volk ‘ ver- 127 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ schiedene, aber nicht immer voneinander getrennte Bedeutungsebenen und damit Kriterien für Zugehörigkeit oder Nicht- Zugehörigkeit verleihen: ein ethnischer, ein im engeren Sinn politischer und ein Volksbegriff der sozialen Abgrenzung. Eine politische Dimension ist allen drei Ebenen inhärent, ebenso werden in jeder Strategie Ausgrenzungsmechanismen wirksam. ‚ Volk ‘ als ethnisch homogene Gruppe von Menschen behauptet eine gemeinsame Kultur, Sprache und Herkunft. Dabei können auch Differenzkategorien wie äußere Erscheinung und Hautfarbe eine Rolle spielen. Diese Konzeption von ‚ Volk ‘ wurde und wird besonders dann gefährlich, wenn eine vermeintliche Abstammungsgemeinschaft konstruiert und damit systematischer Ausschluss, Diskriminierung, Verfolgung oder Ermordung von als nicht zugehörig markierten Menschen gerechtfertigt wird. Der politische Volksbegriff meint hingegen die Gesamtheit von Staatsbürger: innen oder Einwohner: innen; im engeren Sinne auch jene - meist privilegierte - Bürger: innen, die in einer Demokratie Mitspracherecht genießen. Unabhängig von der Staatsform grenzt sich schließlich in der dritten Bedeutungsebene eine elitäre Oberschicht vom ‚ Volk ‘ als ‚ Masse ‘ oder ‚ Pöbel ‘ ab. 9 Diese drei dominanten Konzepte stellen den groben Bezugsrahmen dar, um die „ Leere de[s] Signifikanten ‚ Volk ‘“ 10 mit Bedeutung zu füllen. In Liebe zum Volke werden alle drei Bedeutungsebenen angewendet, wobei ich zwischen expliziten und impliziten Kriterien der Exklusion unterscheiden möchte: Explizit angewendet wird das politische und soziale Konzept von ‚ Volk ‘ . Implizite Ausschlusskriterien - solche, die keine direkte Erwähnung in der Figurenrede im Zusammenhang mit ‚ Volk ‘ finden - , werden bei Elmar durch antijüdische Stereotype und die Abwesenheit nicht-deutschsprechender Figuren markiert. Ein ethnisches Volkskonzept vermittelt sich auch über nicht ausdrücklich erwähnte Normen durch die Figuren und deren Akteur: innen. Diese wurden - soweit es das verfügbare Quellenmaterial nahelegt - vermutlich als christlich, heterosexuell, deutschsprachig und ‚ weiß ‘ gelesen. Gemeinschaft wird in Liebe zum Volke aber nicht ausschließlich im Rahmen des ‚ Volks ‘ konstruiert. Neben den vorhandenen und sich anbahnenden familiären bzw. ehelichen Zusammenschlüssen, wird das abstrakte Kollektiv ‚ Volk ‘ im Kontext der Fabrik aufgerufen, in dem besonders die soziale Bedeutungsebene zum Tragen kommt. Nicht zuletzt bildeten sich im Rahmen der Aufführungen temporäre Gemeinschaften auf Basis der physischen Ko-Präsenz von Darstellenden und Zuschauenden. Ausgehend vom Theatertext und den zahlreichen kritischen, politischen Anspielungen, die als Projektionsfläche dienten, möchte ich - gestützt auf Rezeptionsdokumente - argumentieren, dass sich aufgrund der affizierenden Wirkung und des Identifikationspotentials des Stücks innerhalb des Publikums Gemeinschaften bildeten. Über die Auseinandersetzung mit dem Theatertext werden die theatralen Ereignisse zumindest annähernd fassbar. Nicht-/ Zugehörigkeiten im Publikumsraum können unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Textanalyse und mittels Rückgriff auf produktions- und rezeptionsseitiges Material erörtert werden. Der mikrohistorische Zugriff ermöglicht Einblick in lokal begrenzte, gesellschaftliche Dynamiken. Mithin kann einmal mehr verdeutlicht werden, dass eine rein literaturästhetische Perspektive auf Stücke des Wiener Vorstadttheaters die Funktionen dieses Mediums nur unzureichend erfassen kann. Idealisierte Gemeinschaft In seiner Anlage folgt das Theaterstück der Logik einer herkömmlichen Heiratsgeschichte. Im Mittelpunkt der Handlung 128 Lisa Niederwimmer stehen ein Fabrikant, eine adelige Familie und die Familie eines mittellosen Schneiders, die in unterschiedlichen Konstellationen miteinander in Verbindung treten. Baron Wettersporn, sein Schwager Banquier Silberhain und dessen Tochter Eugenie repräsentieren gemeinsam mit Eugenies Geliebtem, dem Chevalier von Edelherz, den Adel. Der Schneider Mühsam, seine Verwandte Christel und seine zwei Kinder, Anton und Friederike, sind die Repräsentant: innen der städtischen kleinbis unterbürgerlichen bzw. proletarischen Schicht. 11 Der Metallgusswaren-Fabrikant Stillmann soll Eugenie, die Tochter des Banquiers, heiraten. Ihr Interesse gilt allerdings dem Millionär Edelherz, der sich als Philanthrop inszeniert und Wohltätigkeitsveranstaltungen organisiert. Eugenies Onkel ist über ihre Ablehnung dem Fabrikanten gegenüber enttäuscht, weil er seinen Freund für einen edlen Mann hält. Daher schmiedet er den Plan, die Tochter des Schneiders Mühsam mit Stillmann zu verkuppeln, wozu er Eugenies Bruder um Hilfe bittet. Allerdings hat Edelherz ebenfalls ein Auge auf Friederike geworfen. Christel, Mitbewohnerin im Hause Mühsam, wiederum denkt, ihr gelte die Aufmerksamkeit des jungen Millionärs, da er ihr 50 Gulden als Geschenk übergeben hat. Durch Verwechslungen und Verheimlichungen wird die Auflösung des Missverständnisses bis zum Ende des Stücks hinausgezögert, zu dem schließlich auch zahlreiche eheliche Verbindungen in Aussicht gestellt werden: Den Anfang machen Schneider Mühsam und Christel, die sich zu heiraten versprechen. Eugenie erkennt, dass sie sich von Edelherz hat blenden lassen und bittet Stillmann um Vergebung. Der Fabrikant verzeiht ihr sofort und die beiden versöhnen sich. Auch der Baron und die Schneiderstochter finden zueinander. Einzig der Chevalier bleibt nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit Anton vom Happy End ausgeschlossen. Carl Elmar bediente sich dieses konventionellen Handlungsrahmens, um mittels historischer Schlagworte und tagespolitischer Anspielungen Verbindungen zur Revolution 1848 herzustellen und auch Kritik an der reaktionären Politik zu üben. Der Autor beanstandete die fehlende politische Mitbestimmung, Unterdrückung und Bevormundung des ‚ Volks ‘ und traf damit den Nerv der Zeit. Wie ein anonymer Korrespondent der Tageszeitung Die Presse berichtete, übernahmen die Aufführungen von Liebe zum Volke eine Ventilfunktion: Der Hunger des Volkes nach endlicher Verwirklichung so mancher Verheißung, nach dem Aufschließen des Belagerungskerkers, sperrt bei Gelegenheit dieses Stückes einen ungeheuren Rachen auf und verschlingt mit wollüstiger Gier die magere Phrase und den fetten Unsinn. 12 Zwanzig Jahre später erinnert sich der Schriftsteller Friedrich Kaiser (1814 - 1874) in seinen Memoiren Unter fünfzehn Theater- Direktoren (1870) an die populären „ politischen Volksstücke “ der post-revolutionären Zeit und hebt insbesondere Carl Elmar als Vertreter dieses „ neuen Genres “ hervor. Kaiser stellt die Legitimität der Bezeichnung in Frage und kritisiert die Konzeption der Stücke, verweist aber ebenso auf den funktionalen Charakter von Aufführungen aus der Zeit der Militärverwaltung: Den politischen Beigeschmack bekamen diese Stücke nur durch die in den Dialog eingeflochtenen Schlagworte des Tages, durch einige mitunter sehr witzige Ausfälle und durch die Couplets, in welchen namentlich Elmar Meisterhaftes leistete. Aber das Publikum, leidend unter dem furchtbaren Druck der Militärherrschaft, ergriff jede Gelegenheit, seinem bis zum Ingrimme gesteigerten Unmuthe Luft zu machen. Die Zuschauer spendeten demonstrativen Beifall dafür, daß ein Anderer das sagte, was sie selbst zu sagen nicht wagen durften, und ließen sich, mit 129 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ dieser Genugthuung zufriedengestellt, in kein weiteres Urtheil über den inneren Werth solcher Stücke ein. 13 Die affizierende Wirkung von Liebe zum Volke auf das Publikum, ließ das National- Theater an der Wien für kurze Zeit zu einem politisierten Versammlungsort für das ‚ Volk ‘ werden. Rezeptionsdokumente geben nur indirekt und vage Aufschluss über die Zusammensetzung des Publikums, indem sie, meist in allgemeiner Form, von Reaktionen berichten. Über die Analyse ausgewählter Szenen aus Liebe zum Volke, können aber Aussagen über politische Dimensionen des Stücks, das Identifikationspotential und somit auch Möglichkeiten der sozialen und politischen Nicht-/ Zugehörigkeiten im Zuschauer: innenraum getroffen werden. Als „ Volksfreund “ 14 wird zu Beginn des ersten Akts der Metallgusswaren-Fabrikant Stillmann etabliert. In einem überschwänglich positiven Monolog hebt sein Freund, der Baron, hervor, wie respektvoll und wertschätzend sich der Unternehmer seinen Arbeiter: innen gegenüber verhält. Er beschreibt Stillmann als einen Arbeitgeber, [. . .] der das Volk beschäftigt und nährt - der dem Arbeiter seinen Lohn nicht als kärglichen Bettelsold hinwirft, wohl aber den Fleiß und die Mühe mit Großmuth und Freundschaft bezahlt; [. . .] der, so weit es in seiner Macht steht, dem Volk außer Lohn und Brot auch Licht und Bewußtsein gibt; der Recht und Gerechtigkeit übt, und dennoch niemals Tyrann wird [. . .]. 15 Die Konzepte ‚ Volk ‘ und ‚ Fabriksarbeit ‘ greifen hier ineinander und setzen das ‚ Volk ‘ mit Arbeiter: innen gleich, denen der Fabrikant als Patriarch vorsteht. In seinem musterhaften Industriebetrieb pflegt das männliche Oberhaupt ein fürsorgliches Verhältnis zu seinen Arbeiter: innen und wacht väterlich über sie. Repräsentiert werden die Arbeiter: innen von Anton, dem Sohn des Schneiders. Als Techniker, der sein Studium abgebrochen und in einer Fabrik angeheuert hat, stellt er einen hochqualifizierten Arbeiter dar. Wie auch bei Stillmann überschneiden sich bei Antons erstem Auftritt ‚ Volk ‘ und ‚ Fabrik ‘ . Im Verlauf der Aufführungsgeschichte wurde das Stück an dieser Stelle um eine politische Dimension beschnitten, wie die Gegenüberstellung der Druckfassung mit derjenigen des Soufflierbuchs, das bei den Aufführungen im National-Theater an der Wien verwendet wurde, zeigt. 16 Mit „ es lebe das Volk! “ 17 begrüßt der gutgelaunte Anton seine Schwester, den Baron und den Fabrikanten. Seine blendende Stimmung ist auf die Kündigung in der Fabrik zurückzuführen, die er unmittelbar davor ausgesprochen hat. Im Druck und Manuskript gehen die Begründungen dafür in zwei verschiedene Richtungen. In der publizierten Version ist eine persönliche Beleidigung ausschlaggebend: „ Der Fabriksherr beleidigte mich! er ist ein ungebildeter Mensch! “ 18 Ausgangspunkt der Auseinandersetzung sei ein „ theoretischer Streit über Volksbildung in den Fabriken “ 19 gewesen. Im Souffliermanuskript, und damit wahrscheinlich auch in den ersten Aufführungen, war die Differenz mit dem Industriellen zunächst explizit politischer Natur: „ Der Fabriksherr beleidigt das Volk! er ist ein Reaktionär! “ 20 Mit Bleistift wurde aber aus der Volksbeleidigung des Reaktionärs die persönliche Beleidigung des Ungebildeten. Der Satz, in dem der Gegenstand des Streits eingeführt wird, wurde im Manuskript drei Mal überarbeitet. In der ersten Fassung war ein „ politischer Streit, über Zusammensetzung der Kammern “ 21 der Grund. Entsprechend der Änderung seiner ersten Aussage entstand aus dem politischen ein theoretischer und schließlich ein „ hitziger Streit über die Volksbildung in den Fabriken “ 22 . In der Gegenüberstellung wird deutlich, dass der Fabrikant zunächst als Reaktionär 130 Lisa Niederwimmer und damit als ideologisches Negativbeispiel fungieren sollte. Als Figur, die, gegen das ‚ Volk ‘ gerichtet, den demokratischen Ideen der Revolution 1848 feindlich gesinnt ist, diente er als Repräsentant der Konterrevolution. Möglicherweise musste der Revolutionsbezug entfernt werden. 23 Mit der „ Zusammensetzung der Kammern “ verwies Elmar wahrscheinlich auf die Wahlen zum Erfurter Reichstag. Nach Ende der Revolution war der Deutsche Bund destabilisiert; unter der Führung Preußens wurde versucht, einen deutschen Nationalstaat unter Ausschluss Österreichs zu gründen. Für dieses Projekt wurde im Mai 1849 bereits ein Verfassungsentwurf erarbeitet, der dem wenige Monate danach etablierten Erfurter Reichstag zur Abstimmung vorgelegt werden musste. Die Wahlen zum Reichstag fanden im Jänner und Februar 1850 statt, also kurz vor der Uraufführung von Liebe zum Volke. Die erste Kammer (Staatenhaus) wurde nach dem Zensuswahlrecht, basierend auf Besitz und Vermögen, gewählt. Für die Wahlen in die zweite Kammer (Volkshaus) wurde das Dreiklassenwahlrecht eingeführt, das eine Gewichtung der Stimmen nach Steuerleistung vorsah. Die Entdemokratisierung der Wahl zur zweiten Kammer hatte zur Folge, dass die Demokraten diese boykottierten, die Wahlbeteiligung gering war und schließlich die ‚ Gothaer Partei ‘ der gemäßigten Liberalen, sowohl im Volksals auch im Staatenhaus die Mehrheit stellte. Für die ‚ Gothaer ‘ war die Repräsentation des ‚ Volks ‘ weniger relevant als das im Verfassungsentwurf festgelegte absolute Vetorecht des Reichsoberhaupts sowie das Dreiklassenwahlrecht, zumal die Mitbestimmung des wohlhabenden Bürgertums damit gesichert war. 24 Dass die Liberalen nun in dem verfassungsvereinbarenden Reichstag die Stimmenmehrheit innehatten, nahm Elmar möglicherweise zum Anlass, die Zusammensetzung der Kammern zu erwähnen. Indem die Figur Anton den Fabrikanten als Reaktionär bezeichnet, bezieht er Stellung auf Seiten jener, die die diskriminierende Wahlregelung beklagten. Wenn Anton in diesem Zusammenhang von der Beleidigung des ‚ Volks ‘ durch den Fabrikanten spricht, etabliert er einen politischen Volksbegriff und verweist auf den Ausschluss der Bevölkerung aus politischer Mitbestimmung. An die Stelle des Streits über die Kammern trat im Verlauf der Aufführungsgeschichte der Streit über die „ Volksbildung in den Fabriken “ . Die Anfänge der ‚ Volksbildung ‘ als Erwachsenenbildung liegen in der Aufklärung. Neben den Aspekt der Bildung als Erziehung von Staatsbürger: innen im Sinne der zu etablierenden nationalen Einheit traten ab Mitte des 19. Jahrhunderts Hoffnungen auf die Lösung der ‚ sozialen Frage ‘ . Im Fabrikskontext kann ‚ Volksbildung ‘ konkret als ‚ Arbeiter: innenbildung ‘ verstanden werden, die eng mit der Emanzipation der Arbeiter: innenschaft im 19. Jahrhundert verknüpft ist. Nach ersten Ansätzen während der Revolution 1848 wurde mit der Lockerung des Vereinsgesetzes 1867 die gesetzliche Basis für die Gründung von ‚ Arbeiterbildungsvereinen ‘ in der Habsburgermonarchie geschaffen; vier Jahre später wurde der erste ‚ Arbeiterinnen-Bildungsverein ‘ in Wien ins Leben gerufen. 25 Der Strich im Soufflierbuch suggeriert zwar die Zensur einer politischen Aussage, jedoch wurde diese durch eine nicht minder politische Thematik ersetzt. Die „ Demokratisierung von Bildung und Wissen “ war mit politischen Interessen verknüpft und dementsprechend ein langwieriger Prozess gewesen, der „ [p]arallel zur politischen Demokratisierung “ 26 einsetzte. Unbeeinflusst von dem Gegenstand des Streits blieb in der ersten Textfassung der zugrundeliegende Denkfehler des Fabrikanten bestehen, der Anton zufolge darin lag, dass „ er heut noch nicht wissen kann, wer morgen der Mächtige ist! “ 27 131 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ Im zweiten Akt, wenn es um eine mögliche eheliche Verbindung zwischen der Tochter des Schneiders und dem Fabrikanten Stillmann geht, wird die Zugehörigkeit zum ‚ Volk ‘ ausgeweitet. Anton, der mittlerweile bei Stillmann arbeitet, stellt die soziale Verortung des Industriellen und Friederike in den Hintergrund, denn: „ Sie ist aus dem Volke - nun gut! Herr Stillmann ist auch aus dem Volke - und wir werden doch unter uns selbst nicht wegen einigen lumpigen Gulden einen Standesunterschied machen? “ 28 In der Erstfassung des Texts geht Elmar hier noch einen Schritt weiter und hebt nicht nur die Unterschiede zwischen den beiden Figuren auf, wenn Anton fortfährt mit: „ etwa so eine Kathegorie, wo der Reichste Volk N o 1 der Ärmere Volk N o 2 und der Ärmste Volk N o 3 ist? ! Ich kenne sonst Nichts, als Ein Volk und für das verlang ’ ich Respekt! “ 29 Unabhängig vom ökonomischen Status fordert Anton Solidarität und Anerkennung. Zwar weist er auf finanzielle Unterschiede hin, dennoch konstruiert er ein ‚ Wir ‘ , mit dem er das ‚ Volk ‘ als egalitäre Gemeinschaft imaginiert. In diesem ‚ Wir ‘ steckt ein utopischer Ansatz zur Überwindung gesellschaftlicher Zerwürfnisse und zugleich erinnert es an demokratisierende Forderungen während der Revolution 1848. 30 Das Verhältnis zwischen dem Arbeiter bzw. seiner Schwester und dem Industriellen erweckt den Eindruck eines verklärten Rekurses auf die Revolution. Während das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteur: innen aus dem Bürgertum, Kleinbürgertum und Proletariat noch ein maßgeblicher Faktor für erste demokratische Errungenschaften war (Abschaffung der Zensur, Abdankung von Metternich, Ankündigung einer Verfassung), verlor die gemeinsame Positionierung gegen die Aristokratie für Bürgerliche schnell an Anziehungskraft: Der Mythos des ‚ Volks ‘ als diskurrierende Gemeinschaft zerbrach allerdings sehr rasch an den Interessensgegensätzen zwischen Arbeitern, Arbeitslosen und kleinen Handwerkern, die radikal demokratische und soziale Forderungen stellten, und dem Bürgertum, das klassenspezifisch politische Rechte einklagte und sich von den Unterschichten bald mehr bedroht fühlte, als von den Ordnungskräften der Monarchie, des Adels und des Militärs, und zwar mit Recht. 31 Das Bestreben, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verschieben, war nur bedingt erfolgreich. Da der Adel politische Macht behielt, beanspruchte das Bürgertum in weiterer Folge die wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft. Die Abgrenzung von der Aristokratie als auch der Arbeiter: innenschaft war eine zentrale Strategie im Prozess der Identitätsfindung des Bürgertums. Über die Identifikation mit geteilten Wert- und Moralvorstellungen konnte aus einer heterogenen Gruppe, bestehend aus unterschiedlichen Berufsgruppen mit divergierender politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Handlungsmacht, eine Gruppe entstehen, die in der bürgerlichen Kultur ihre Weltvorstellung vertreten sah. 32 Gegen diese realen Abgrenzungstendenzen kämpft der Arbeiter Anton ‚ von unten ‘ an und positioniert sich gegen eine auf sozioökonomischen Faktoren beruhende Grenzziehung innerhalb des ‚ Volks ‘ . Als hochqualifizierter Arbeiter, der ein Studium begonnen hat und als Modellzeichner bei Stillmann beschäftigt ist, kann er kaum der Masse der Pauperisierten, dem Industrieproletariat, zugerechnet werden. Jedoch wird im Stück diese Zugehörigkeit konstruiert und strategisch genutzt, um dem ‚ Volk ‘ eine Stimme zu geben. ‚ Aus dem Volk ‘ wird mittels Anton die Forderung nach Gleichheit und Mitbestimmung verlautbart. So sehr Elmar auch versucht haben mag, die Zugehörigkeit zu dieser fiktiven Gemeinschaft ‚ Volk ‘ so voraussetzungslos wie mög- 132 Lisa Niederwimmer lich zu gestalten, transportiert er dennoch Ausschlusskriterien. Die Abwesenheit nicht-deutschsprachiger Figuren markiert eine Grenze, die Zugehörigkeit an die Voraussetzung knüpft, Deutsch zu sprechen. Die Habsburgermonarchie war sprachlich und kulturell heterogen, es wurden über zehn verschiedene Sprachen und zahlreiche Dialekte gesprochen. Im Zusammenhang mit der ‚ Nationalitäten-Frage ‘ entwickelte sich Sprache aber zunehmend zum Politikum. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde auf legistischer Ebene der Vielsprachigkeit der Bewohner: innen des Habsburgerreiches entgegengekommen, 33 allerdings war die Anerkennung der Erstsprache einer Person meist regional begrenzt, wie Pieter M. Judson betont: „ while Austria and Hungary assigned fundamental rights to linguistic practice in a degree to which no other European state did, in practice these political rights treated language users as if they were belonging to blocks of people located in particular territories. “ 34 Deutsch war die Sprache der offiziellen Kommunikation von Bürokratie und Militär. Mit der Kenntnis der deutschen Sprache ging dementsprechend ein „ strong sense of privileged cultural capital “ 35 einher. Das Fehlen Tschechisch, Polnisch, Ungarisch, Italienisch oder Serbisch sprechender Charaktere in Liebe zum Volke kann als Ausdruck eines internalisierten Überlegenheitsgefühls der deutschsprechenden Bevölkerung gelesen werden. 36 Denkbar ist aber auch die Annahme, dass Deutsch von allen verstanden wurde oder dass sich Elmar an einem mehrheitlich deutschsprachigen Wiener Publikum orientierte. Neben Sprache wird in dem Theaterstück ein weiterer Ausschlussmechanismus wirksam: Die Reproduktion antijüdischer Stereotype verweist auf die Nicht-Zugehörigkeit jüdischer Mitmenschen. Jüdische Figuren werden durch negative Eigenschaften charakterisiert, die nicht angefochten oder durch eine positiv porträtierte, differenzierte jüdische Figur nivelliert werden. In einer Coupletstrophe singt der Schneider Mühsam über einen Juden, der nun, da die jüdische Bevölkerung staatsbürgerlich gleichgestellt sei, auch beweisen solle, dass er nicht nur von „ Gewinnsucht beseelt “ 37 sei. 38 Dies misslinge ihm allerdings, denn es würde der jüdischen Natur entsprechen, an Geld und Profit orientiert zu sein. Verkörperung findet dieses Klischee des ‚ gewinnsüchtigen Juden ‘ kurz darauf in der Chargenrolle des Spekulanten Moses Goldmayer. Er und seine Frau Deborah sind zum Wohltätigkeitsfest des Chevalier von Edelherz eingeladen. Laut Regieanweisung „ jüdeln “ beide und Goldmayer sei mit „ Schmuck beladen “ . Während des Fests findet eine Pantomime statt, in der zwei arme Kinder ihr letztes Brot mit einer alten Frau teilen, die sich später als „ Fee der Wohltätigkeit “ herausstellt. Im Kontrast zu den ärmlich gekleideten Kindern, die ihr Essen mit einer anderen Person teilen, wirkt die Episodenfigur besonders habgierig. Goldmayer wird auf „ einige als jüdisch ausgegebene Eigenarten “ 39 reduziert. Als Gast bei einem Wohltätigkeitsfest, der durch seine Äußerungen als realitätsfern und ignorant gegenüber der mittellosen Bevölkerung charakterisiert wird, instrumentalisiert der Autor die jüdische Figur, um die Heuchelei, die hinter dem Fest und seinen reichen Gästen steckt, zu verdeutlichen. Nicht altruistische Motive bringen die Anwesenden zusammen, sondern die Gelegenheit, ein Fest zu feiern und sich nach Außen als hilfsbereit und generös zu inszenieren. Obschon nach 1850 auch differenziertere jüdische Figuren in Gebrauchsdramatik Einzug finden, 40 ist vor dem Hintergrund der im frühen 19. Jahrhundert grassierenden Judenfeindlichkeit zu problematisieren, dass Elmar ausgerechnet einer jüdischen Episodenfigur diese dramaturgische Funktion zuweist. Der jüdische Publizist Gustav Heine (1808? - 1886), Inha- 133 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ ber und Redakteur der Zeitung Fremden- Blatt, äußert in seiner weitgehend wohlwollenden Rezension den Wunsch, dass die beiden Figuren gestrichen werden sollten. 41 Heines Kritik ist die einzige von sieben ausführlichen Besprechungen der Erstaufführung, in der am Rand das Ehepaar Goldmayer angesprochen wird, was verdeutlicht wie normalisiert der antijüdische Rückgriff auf das „ tiefsitzende und weitverbreitete Vorurteil der skrupellosen Gewinnsucht “ 42 Mitte des 19. Jahrhunderts war. Das Identifikationspotential der plakativen Form Eine Perspektive auf ‚ das Volk ‘ , die nicht aktiv ausgrenzend wirkt, eröffnet sich im dritten Akt, wenn Baron Wettersporn erläutert, worin die Liebe zum Volke bestehe: „ Nicht darin, daß man es beschenkt und dabei durch Verachtung entehrt, wie Edelherz, - sondern darin, daß man es schätzt, - und wenns Noth thut - auch dafür handelt, wie Stillmann! “ 43 Diese Aussage beinhaltet ein Identifikationspotential, das außerhalb soziokultureller oder ökonomischer Aspekte zu suchen ist. Legt man den Fokus auf die Verben ‚ schätzen ‘ und ‚ handeln ‘ , können Edelherz und Stillmann in der Definition der Liebe zum Volke als Verweise verstanden werden. Edelherz ist die Projektionsfläche für den Unmut über Repression und Bevormundung. Er repräsentiert jene politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die den demokratischen Fortschritt hemmen und erinnert daran, dass die Privilegien der ständischen Ordnung noch präsent sind. Stillmann tritt hingegen als ‚ Best Practice- Beispiel ‘ für eine Form der Unternehmensführung in Erscheinung, die auf Menschlichkeit und Respekt basiert. Sein wertschätzender Umgang mit den Arbeiter: innen und sein Einsatz dafür, ihnen Zugang zu Bildung oder Versorgung im Krankheitsfall zu ermöglichen, führt mich zu der These, dass in der Konzeption der Figur, in der innerbetrieblichen Organisation sowie im Verhältnis zwischen Stillmann, Wettersporn und den Arbeiter: innen ein utopisches Moment liegt, das über den Fabrikskontext hinausweist. Stillmanns Metallgusswaren-Fabrik erscheint als Ort des unbeschwerten Miteinanders, als ein Gegenbild zu realen Arbeitsbedingungen in der Schwerindustrie. Aus einer sozialhistorisch informierten Perspektive wirkt die Darstellung von Industriearbeit verklärt und romantisiert. 44 Der Betrieb des ‚ Volksfreunds ‘ Stillmann wird als „ Muster des Fortschritts “ 45 beschrieben. Er bezahle das Schulgeld und Lehrbücher für die Kinder der Fabriksarbeiter: innen, medizinische Versorgung sei auf seine Kosten sichergestellt, produktive Arbeiter: innen erhalten Prämien und er habe jederzeit ein offenes Ohr für Anliegen seiner Belegschaft. 46 Solange es sich um kleine Fehler handle, die zu entschuldigen sind, sehe der Fabrikant keine Notwendigkeit darin, Verfehlungen zu bestrafen, auch wenn er dadurch zu Schaden komme. Vor der ersten Überarbeitung des Manuskripts erläuterte Stillmann seine Güte zusätzlich damit, dass auf der Welt genügend passiere, was nicht entschuldbar sei und unbestraft bleibe, weil es von Menschen begangen werde, die „ eben mehr als Arbeiter sind! “ 47 Alles Positive, was über den Unternehmer in Erfahrung gebracht werden kann, wird stellvertretend für die Gruppe von Anton bestätigt. Nachdem er von seiner Kündigung in der anderen Fabrik berichtet hatte, bot ihm Stillmann eine Stelle in seinem Betrieb an, die er dankend angenommen hat. Vom Baron gefragt, wie es ihm in Stillmanns Fabrik gefalle, erwidert Anton: „ Ah! das ist ja gar keine Fabrik! - Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ 48 Eine Welt, in der sich Sonntagabend alle Arbeiter: innen freuen, dass der einzige freie Tag der Woche 134 Lisa Niederwimmer zu Ende gehe und sie am nächsten Tag wieder arbeiten gehen können. Ohne eine apologetische Position gegenüber dem romantisierten Bild von Industriearbeit einnehmen zu wollen, möchte ich die Figur Stillmann und die Beschreibung der Arbeitsbedingungen aus einer anderen Warte betrachten. Entkoppelt man Stillmann aus dem Fabrikskontext, ist es denkbar, dass er ein Idealbild eines Regierungschefs verkörpern soll. Insbesondere die durch Anton imaginierte Gemeinschaft des ‚ Volkes ‘ wird innerhalb des Industriebetriebs in idealisierter Form gelebt. Stillmanns Interesse gilt ausdrücklich nicht dem rücksichtslosen Machterhalt oder der Gewinnmaximierung. Er nimmt Anliegen seiner Belegschaft ernst und setzt sich für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ein. Als Führungspersönlichkeit erkennt er die Notwendigkeit, Bildung und adäquate medizinische Versorgung sicherzustellen. Stillmann pflegt ein freundschaftliches Verhältnis zum Baron und ein wertschätzendes zu den Arbeiter: innen. Der Fabrikant wird nicht als autoritärer Machthaber porträtiert, sondern übt als gütiger Patriarch „ Recht und Gerechtigkeit “ und wird trotzdem „ niemals Tyrann “ 49 , wodurch er zugleich eine normstabilisierende Funktion einnimmt - patriarchale Herrschaft wird nicht in Frage gestellt, sondern als Status quo idealisiert. Implizit verteidigt wird damit auch ein männliches, heterosexuelles und ‚ weißes ‘ Herrschaftssubjekt, das „ Weißsein als Normativität “ vermittelt. 50 In seiner Konzeption erkennt Elmar grundsätzlich gesellschaftliche Strukturen an und sucht nicht nach einer Auflösung des Systems, sondern imaginiert ein produktives gesellschaftliches Miteinander, das unter der Führung eines integren Mannes und in der Annäherung verschiedener Gruppen denkbar wird. Zusätzlich verstärkt wird die Idealisierung Stillmanns durch die Erzählungen Antons von seinem vormaligen Arbeitgeber, der von ihm als eigennützig, autoritär und herablassend beschrieben wird. Seine toxische Ergänzung findet das dramaturgische Mittel der Kontrastierung in der negativen Repräsentation des Moses Goldmayer. Im Unterschied zum ‚ gewinnsüchtigen Juden ‘ besitzt der ‚ großzügige Fabrikant ‘ Eigenschaften, die jüdischen Menschen explizit abgesprochen werden. Carl Elmar bot dem Publikum durch die plakative Form des Stücks und der Figurenkonzeption sowie durch die Vereinfachung von Lösungen für komplexe Probleme Identifikationsmomente an. Dies legen Zeitungsberichte über Zustimmung durch Jubel, Beifall und Bejahung der in Liebe zum Volke präsenten Ideen und Kritik nahe. Das theoretische Fundament, das dem Entwurf der idealisierten Gemeinschaft revolutionäres Potential geben könnte, fehlt. Aber es gibt theoretische Bezüge, die dem Theaterstück eine utopische Stoßrichtung verleihen. So finden sich Parallelen zu Ideen des Frühsozialisten Claude Henry de Saint-Simon (1760 - 1825), der beispielsweise von einer Top-Down-Methode der Armenversorgung zur „ industrielle[n] Brüderlichkeit “ gelangt, in der Wohlhabende dazu aufgerufen werden, „ ihre mit der Masse des Volkes gemeinsamen Interessen zu erkennen. “ 51 Außerdem finden sich Ansätze eines „ sozialen Musterbetriebs “ , wie ihn der Unternehmer Robert Owen (1771 - 1858) in den New Lanark Mills bei Glasgow schon im frühen 19. Jahrhundert entwickelt hatte. 52 Auch Elmars Zeitgenossen erkannten sozialistische Bezüge, standen diesen aber skeptisch gegenüber. So kritisiert beispielsweise der Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift Hans-Jörgel, Anton Langer (1824 - 1879), den Gedanken, dass Arbeiter: innen ein Anteil an den Gewinnen zustehe, die der Fabrikant erzielt: „ die g ’ wisse Koketterie mit den Arbeitern g ’ fallt mir nit. Die Idee is dem Elmar aus sein ’ Herzen in den Kopf 135 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ g ’ schossen und er hat wahrscheinlich keine Ahnung, daß sie nach Sozialismus schmeckt. Mahl den Teufel nit an die Wand, alter Spezi! “ 53 Nicht bloß skeptisch, sondern eindeutig ablehnend beschreibt der Journalist Joseph Sigismund Ebersberg (1799 - 1854) im Österreichischen Zuschauer das Charakterbild als „ eine Arbeit ohne Talent und voll bösem Willen, ohne irgend dramatischen Werth und voll giftigem moralischen Eiter. “ 54 Ebersberg, der Vater des später als O. F. Berg bekannt gewordenen Theaterdichters, hatte sich bereits 1848 offen als konservativ und kaisertreu positioniert und war auch nach der Revolution als Reaktionär bekannt. 55 Differenzierter als Ebersberg, aber nicht minder meinungsstark, kritisiert der Publizist Moritz Gottlieb Saphir (1795 - 1858) das Stück: Das Theater will und fordert und bedarf jetzt einer neuen geistigen Bewegung, einer neuen Lebensanschauung, einer neuen Kultur. [. . .] Der Kampf zwischen alten Ueberlieferungen und neuen Entdeckungen läßt noch keine Norm zu, nach welcher die Bühne Vergangenes oder Gegenwärtiges oder Zukünftiges im Bild als Bild bringen soll, und im Publikum ist besonders in politischer Beziehung noch so viel Haltlosigkeit des Selbstbewußtseins, noch so viel Rohheit und Sinnlichkeit mit Verwirrung und Katzenjammer und Trunkenheit gemischt, daß ein Bühnendichter keine Hand breit Basis fassen kann, wenn er auf dem politischen und socialen Boden der Gegenwart sein Gebäude aufführen will. 56 Saphir hinterfragt grundlegend, ob das Theater schon berechtigt und das Publikum überhaupt fähig sei zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder mit Zukunftsentwürfen. Er spricht dem Publikum politische Mündigkeit ab und sieht die Aufgabe des Theaters darin, für Ruhe zu sorgen. Da erst zwei Jahre zuvor demokratische Prozesse und die Bewusstseinsbildung von Bürgertum und Arbeiter: innenschaft in Gang gesetzt wurden, 57 ist das Argument, dass das politische „ Selbstbewußtsein “ erst im Entstehen begriffen und nicht gefestigt sei, nachvollziehbar. Saphir sieht in der Aufführung von Liebe zum Volke keine öffentliche Auseinandersetzung mit der Unzufriedenheit über Militärherrschaft und reaktionärer Politik, sondern er wertet das Stück als witzlose, anmaßende „ Brandstiftung “ . Da er „ historisch gerecht “ sein wolle, lenkt er am Ende der Kritik ein und berichtet, dass Elmar etwa dreißig Mal vom Publikum, „ das im Taumel zu schwimmen schien “ 58 , gerufen wurde. „ Das Stück ist eine ganz zufällige Nebensache “ Ähnlich wie Ebersberg oder Saphir tadeln auch andere Rezensenten politische Positionen als trivial und zynisch oder kritisieren dramaturgische Schwächen. 59 Jedoch verweisen die meisten, unabhängig von ihrer persönlichen Bewertung, auf die euphorische Stimmung im Publikum. Von den ersten Aufführungen wird berichtet, dass das Stück „ wüthend beklatscht “ 60 wurde, „ lärmende[r] Beifall “ 61 und „ minutenlanger Jubel “ 62 dominierten. Diese Kritiken vermitteln einen Eindruck von der lebhaften Anteilnahme des Auditoriums bei den ersten Vorstellungen von Liebe zum Volke, das den Publikumsraum zum Teil des theatralen Geschehens machte. Besonders eindrücklich beschreibt der bereits zitierte anonyme Korrespondent der Presse die Stimmung während der Aufführung am 20. März 1850: Fragen Sie nicht nach dem Inhalt des Stückes, sondern nur nach dem Inhalt des Beifalls, nicht nach dem Spiel der Schauspieler, sondern nach dem Spiel des Publikums, nicht nach Handlung und Charakter auf der Bühne, sondern nach den Handlungen und dem Charakter des Parterre ’ s. Das Stück ist eine ganz zufällige Nebensache, die Orchestermitglieder und die darstellenden Künstler sind 136 Lisa Niederwimmer zu beneiden, daß sie täglich gratis das Drama ansehen können, welches die Wiener vor der Regierung zur Aufführung bringen, vor der undankbaren Regierung, die dies - eine schlechte Aufführung nennt. Herr Elmar ist der Chormeister des Publikums, er schlägt in jeder Szene, beinahe in jedem Satze eine Note an, die einen abgeschwächten, oft sehr unklar tönenden Klang von Freiheit hat, und das darnach lechzend dürstende Volk hallt ihn tausendstimmig wieder [! ]; es erhebt sich ein Hexensabath von Jubelrufen, ein fanatisches Rasen von Händeklatschen, ein Galopp, den die Freude über das liberale Wort mit dem Schmerz über die unliberalen Thaten in keuchenden Sprüngen zusammen ausführen. 63 Aus dieser Schilderung geht deutlich hervor, dass der Fokus der Anwesenden nicht auf dem dramatischen Text lag, sondern auf der Möglichkeit, die eigene Unzufriedenheit zu kanalisieren. Die Akteur: innen auf der Bühne sprachen aus, was die Zivilbevölkerung aufgrund der Militärherrschaft nicht sagen konnte. Interessant ist der Verweis auf die Zuschauer: innen im Parterre, die dem Autor zufolge die Hauptakteur: innen abseits der Bühne waren. Johann Hüttner hat auf die ab den 1840er Jahren zunehmende soziale Ausdifferenzierung des Publikums in den Vorstadttheatern hingewiesen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr vom wohlhabenden Großbürgertum besucht wurden. 64 Im National-Theater an der Wien war der Eintritt in das Parterre mit dreißig Kreuzern und ein Sperrsitz mit fünfzig Kreuzern im Verhältnis zu einer Loge im Parterre, die fünf Gulden kostete, im unteren Preissegment angesiedelt. Die günstigsten Plätze in der vierten Galerie beliefen sich auf zehn Kreuzer. 65 Zum Vergleich: Ein Taglohn in Wien im Jahr 1850 wurde in etwa mit 27 Kreuzer vergütet und ein Kilo Brot kostete rund vier Kreuzer. 66 Es ist naheliegend, dass die Preisgestaltung die Publikumszusammensetzung beeinflusste und für Geringverdienende der Vorstellungsbesuch in den großen Privattheatern ein - wenn überhaupt - seltenes Vergnügen darstellte. Kritiken, die nicht nur auf das Publikum im Allgemeinen, sondern mehr oder weniger differenziert auf spezifische Personengruppen hinweisen wollten, verorteten diese oft räumlich (Parterre, ‚ Galeriepublikum ‘ ) oder zeitlich ( ‚ Sonntagspublikum ‘ ) und verwiesen damit in allgemeiner Form auf den sozioökonomischen Status. 67 Die räumliche Differenzierung des Publikums spiegelte sich auch in der Platzzuordnung bei Freikarten für Theater-Mitarbeiter: innen, wie sie im National-Theater an der Wien um 1850 geregelt war: Schauspieler durften meist im Parterre Platz nehmen, Schauspielerinnen in der ersten Galerie. Das Chor- und Orchesterpersonal erhielt Karten für die zweite Galerie, das Arbeitspersonal für die dritte Galerie. 68 Da weder theaterinterne Materialien noch Kritiken eindeutige Rückschlüsse auf das Publikum zulassen, ermöglichen zumindest das Wissen um die innerbetriebliche Hierarchie, um die Kosten eines Theaterbesuchs und die Textanalyse eine Annäherung an Faktoren, die Nicht-/ Zugehörigkeit zur Aufführungsgemeinschaft beeinflussten. Wenn der anonyme Rezensent auf das Publikum im Parterre verweist, könnte er damit formal gebildete, deutschsprachige, finanziell stabile und liberaldemokratisch gesinnte Personen gemeint haben, die sich möglicherweise dem Bürgertum zugehörig fühlten. Die Kassabücher des National-Theaters an der Wien enthalten keine Aufschlüsselung der verkauften Karten nach Preiskategorie, aber Ausgaben und tägliche Einnahmen sind nachvollziehbar. Das Cassa-Journal von 1850 belegt, dass allein die ersten sieben Vorstellungen von Liebe zum Volke Einnahmen von über 1000 Gulden pro Abend erzielten. Von den knapp 400 Aufführungen, die im Jahr 137 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ 1850 am National-Theater an der Wien und dem dazugehörigen Sommertheater gespielt wurden, haben lediglich 10 Prozent der Vorstellungen Einnahmen von 900 Gulden oder mehr erzielt. 22,5 Prozent dieser finanziell besonders ertragreichen Vorstellungen entfielen auf Liebe zum Volke. 69 Wie zahlreiche Rezeptionsdokumente berichten, war das Interesse an dem Theaterstück groß, dennoch verschwand es nach 35 Aufführungen vom Spielplan. Am 21. November 1850 fand die letzte Vorstellung von Liebe zum Volke statt. Zunächst mag es naheliegend erscheinen, die Absetzung des Stückes in seiner Struktur zu suchen, denn es lebte von der „ Anwendung der Zeitverhältnisse “ 70 und erfüllte einerseits seine Funktion als Gebrauchsdramatik, hatte andererseits aber auch eine Ventilfunktion für Theaterbesucher: innen, die unzufrieden waren mit der reaktionären Politik nach dem Ende der Revolution. Gegen den Verlust der Wirkung des Stücks oder schwindendes Interesse seitens des Publikums sprechen die Verkaufszahlen. Wenn auch in den Sommermonaten die Karteneinnahmen zurückgingen, 71 so hatten doch die letzten beiden Sonntagsvorstellungen je etwa 975 Gulden eingespielt. 72 Johann Heinrich Mirani (1802 - 1873), Sekretär des Direktors Alois Pokorny (1823 - 1883), informierte seinen Vorgesetzten während dessen Abwesenheit in einem Brief am 21. Oktober sogar über die Aufführung am Vorabend, insbesondere im Hinblick auf die hohen Einnahmen, denn „ es war Alles, Alles verkauft. “ 73 Aus ökonomischer Perspektive wäre es für die Theaterleitung zu diesem Zeitpunkt nicht klug gewesen, das Theaterstück abzusetzen. Wahrscheinlicher als das abnehmende Interesse ist der Einfluss der Zensur als Grund für das jähe Ende der Vorstellungsserie. Seit März 1848 konnte die Theaterzensur nicht mehr in gewohnter Akribie ausgeübt werden, da die zuständige Polizei- und Zensurhofstelle aufgelöst worden war. 74 Während des militärischen Ausnahmezustands war das Militär unter der Leitung des Civil- und Militärgouverneurs Franz Ludwig Freiherr von Welden (1782 - 1853) für die Theaterzensur zuständig, wie aus den Sitzungsprotokollen des österreichischen Ministerrats hervorgeht. Dass Welden dieser Aufgabe nicht ausreichend konsequent nachkam, wird von Innenminister Alexander Freiherr von Bach (1813 - 1893) in der Sitzung vom 19. Dezember 1849 angemerkt, in der aber auch erwähnt wird, dass zu diesem Zeitpunkt bereits ein Gesetzesentwurf zur Regelung der Theaterzensur in Arbeit sei. 75 Erst Monate später, in der Ministerratssitzung am 7. August 1850, kommt die Thematik wieder zur Sprache, als der Kulturminister „ aus Anlaß der jüngsten dramatischen Produktionen auf die Notwendigkeit der Einführung der Theaterzensur “ 76 hinweist. Innenminister Bach gibt jedoch zu bedenken, dass aufgrund der „ Ausnahmezustände der meisten großen Städte, insbesondere Wiens “ derzeit spezielle Umstände herrschen würden und seiner Einschätzung nach die Einführung der Theaterzensur „ noch nicht angemessen “ 77 sei. Obwohl der Ausnahmezustand noch nicht beendet war, gibt Bach in der Sitzung vom 9. September 1850 bekannt, Verordnungsentwürfe erstellt zu haben. Er skizziert das neue Theatergesetz, in dem die Kompetenz zur Aufführungsbewilligung der Statthalterei übertragen wird. 78 Am 25. November 1850 trat die neue Theaterordnung in Kraft, die im Wesentlichen an die vor 1848 gültigen Bestimmungen anschloss. Nach wie vor fühlte sich der Staat vom Potential theatraler Darstellungsformen bedroht. Mit Nachdruck wurde den Statthaltern in einer Instruktion vermittelt, dass Theater als „ mächtiger Hebel der Volksbildung “ nicht nur kontrolliert, sondern auch im Sinne staatlicher Interessen „ auf das Wirksamste unterstützt “ 79 werden müsse. 138 Lisa Niederwimmer Zwischen der letzten Vorstellung von Liebe zum Volke und der Einführung der neuen Theaterordnung lagen nur vier Tage. Dies bekräftigt die Annahme, dass die Zensurbehörde hierbei umgehend von ihrer Kompetenz Gebrauch machte, Aufführungen abzusetzen. Die theatrale Verhandlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, wie sie sich im Rahmen der Aufführungen gestaltete, konnte nicht länger geduldet werden. Offen bleibt, wie genau diese Diskrepanz zwischen der (anfänglichen) Härte der Militäradministration und der milden Zensurhandhabe zu erklären ist. 80 Eine eingehende Untersuchung dieser Phase wurde bisher noch nicht durchgeführt. Wie ich anhand von Liebe zum Volke exemplifiziert habe, stellt diese Periode eine für die Forschung zur Wiener Theatergeschichte potenziell produktive dar. Sie eröffnet Fragen nach Wechselwirkungen zwischen Militär und Theater, nach den Einschränkungen der Bevölkerung im Alltag und deren Stimmung auf der einen Seite sowie den erweiterten Möglichkeiten, die Theater in dieser kurzen Phase hatten, auf der anderen. Zu klären wäre beispielsweise, auf welcher regulativen Basis die zivilen oder militärischen Zensurbeamten operierten. 81 Anhand eines breiten Untersuchungskorpus könnte nachvollzogen werden, ob und welche bis vor Ausbruch der Revolution gültigen Grenzen des Sag- und Darstellbaren überschritten oder verschoben wurden. Sowohl zensurgeschichtliche Fragen als auch Fragestellungen zu Ästhetik und Inhalt der Theaterstücke könnten Aufschluss über kurzzeitig entstandene Formen der Subversion und Kritik am Wiener Vorstadttheater geben. Obwohl es Liebe zum Volke an dramaturgischer Finesse und theoretischer Fundierung mangelt, ermöglichte es dem Publikum Emotionen zu kanalisieren und erfüllte damit eine soziale, Gemeinschaft stiftende Funktion. Die Unmittelbarkeit von Theater wurde produktiv gemacht für spontane Bekundungen der Unzufriedenheit über das System. Der Autor bot dem Publikum unterschiedliche Nicht-/ Zugehörigkeiten an, und die Anwesenden konnten innerhalb der Aufführung kurzfristig affektiv Zugehörigkeit erzeugen. In der Figurenkonstellation liegt der Versuch, den gesellschaftlichen und ökonomischen Status als unwesentlich für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ‚ Volk ‘ zu bestimmen. Wenn auch in idealisierender Weise, so stellte Elmar verbindende Elemente zwischen den fiktiven Vertreter: innen von Proletariat, Bürgertum und Adel in den Vordergrund. Als identitätsstiftende und gemeinschaftskonstituierende Narrative zog er demokratische Positionen der 1848er-Bewegung heran und griff auf die Devise der Aufklärung und der französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - zurück. Der Autor versuchte, nicht aus einer monoperspektivischen Warte einer Figur Wert- und Moralvorstellungen zu transportieren und die Deutungshoheit über ‚ moralisch richtiges ‘ Verhalten an eine einzelne Figur zu binden, sondern das figurenübergreifende Identifikationspotential mit einem Wertsystem stark zu machen, das sich nicht allein aus sozialer Verortung ergibt. Die Bedeutungsebene der sozialen Abgrenzung sollte in dieser - besonders von Anton ausgehenden - Konzeption des ‚ Volks ‘ aufgelöst werden. Voraussetzungslos war die Zugehörigkeit zu der von Elmar imaginierten Gemeinschaft allerdings nicht. Antijüdische Stereotype und die Abwesenheit nicht-deutschsprachiger Figuren verweisen auf eine Gemeinschaft von ‚ Deutschösterreicher: innen ‘ 82 , und damit auf ein ethnisch-politisches Volkskonzept, das auf einer vermeintlichen gemeinsamen Herkunft, Kultur und Sprache basierte und in das viele Bewohner: innen des Habsburgerreichs wie auch Wiens und seiner Vorstädte nicht integriert wurden. 139 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ Anmerkungen 1 Ich danke Anke Charton, Theresa Eisele und Stefan Hulfeld für die hilfreichen Impulse und kritischen Anmerkungen. 2 Vgl. Matthias Stickler, „ Die Herrschaftsauffassung Kaiser Franz Josephs in den frühen Jahren seiner Regierung. Überlegungen zu Selbstverständnis und struktureller Bedeutung der Dynastie für die Habsburgermonarchie “ , in: Harm-Hinrich Brandt (Hg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien 2014, S. 35 - 60, hier: S. 41. 3 Vgl. Peter Melichar und Alexander Mejstrik, „ Die bewaffnete Macht “ , in: Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848 - 1918. Bd. IX: Soziale Strukturen, 1. Teilband: Von der Feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Teilband 1/ 2: Von der Ständezur Klassengesellschaft, Wien 2010, S. 1263 - 1326, hier: S. 1263. 4 Ein Umstand, der in der Forschung zur österreichischen Theaterzensur bisher nicht untersucht wurde. In Artikeln oder Monographien, die Theaterzensur als Schwerpunkt haben, darauf Bezug nehmen oder sich mit dem Wiener Vorstadttheater befassen, wird beispielweise vom Vorhandensein der Zensur ausgegangen, ohne auf die Militärzensur hinzuweisen oder es erfolgen Sprünge von 1848 auf November 1850. Eine Ausnahme bildet Edgar Yates ’ Monographie zur Geschichte der Wiener Theater, in der er unter Verweis auf Memoiren von zwei Dramatikern explizit auf die ‚ Säbelzensur ‘ hinweist. Vgl. u. a. Norbert Bachleitner, „ Die Theaterzensur in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert “ , in: LiTheS 5 (2010), S. 71 - 105; Franz Hadamowsky, Wien Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des ersten Weltkriegs, Wien/ München 1988; Jürgen Hein, Das Wiener Volkstheater, Darmstadt 3 1997; Johann Hüttner, „ Vor- und Selbstzensur bei Johann Nestroy “ , in: Maske und Kothurn 26/ 3 - 4 (1980), S. 234 - 248; Johann Hüttner, „ Zensur ist nicht gleich Zensur “ , in: Nestroyana 3/ 1 (1981), S. 22 - 24; Marion Linhardt, „ Kontrolle - Prestige - Vergnügen. Profile einer Sozialgeschichte des Wiener Theaters 1700 - 2010 “ , in: LiTheS Sonderbd. 3 (2012), S. 5 - 81; Barbara Tumfart „ Wallishaussers Wiener Theater-Repertoir und die österreichische Zensur “ , Diss., Univ. Wien 2003; Edgar W. Yates, Theatre in Vienna. A Critical History, 1776 - 1995, Cambridge 1996, S. 42. 5 Vgl. Wolfgang Häusler, „ Wien “ , in: Christoph Dipper und Ulrich Spreck (Hg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt a. M./ Leipzig 1998, S. 99 - 112, hier: S. 107 f. 6 Vgl. Melichar und Mejstrik, „ Die bewaffnete Macht “ , S. 1277 f. 7 Ich verwende den Begriff der Gemeinschaft nicht im Sinne einer politischen Kategorie, sondern möchte ihn als funktionalen Begriff verstanden wissen, in dem die Bedeutungsebene der Verbundenheit von Individuen im Vordergrund steht. Über die Kategorie ‚ Volk ‘ , als eine mögliche Gemeinschaft, nähere ich mich politischen, ethnischen oder sozialen Komponenten und damit den Aspekten, die Verbundenheit respektive Nicht-/ Zugehörigkeit zu dem Konstrukt Gemeinschaft ausmachen. Vgl. Timo Heimerdinger, „ Gemeinschaft “ , in: Brigitta Schmidt-Lauber und Manuel Liebig (Hg.), Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar, Wien 2022, S. 107 - 114, hier: S. 109 f. Zu (politischen) Gemeinschaftsdiskursen siehe weiterführend: Juliane Spitta, Gemeinschaft Jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee, Bielefeld 2013. 8 Levke Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ , in: Geschichtstheorie am Werk, https: / / gtw.hypotheses.org/ 1942 [Zugriff am 05.04.2023]. 9 Vgl. Peter Brandt, „ Volk “ , in: Görres Gesellschaft (Hg.), Staatslexikon online, https: / / www.staatslexikon-online.de/ Lexikon/ Volk [Zugriff am 11.04.2023]; Jens Wietschorke, „ Volk “ , in: Schmidt-Lauber und Liebig (Hg.), Begriffe der Gegenwart, S. 271 - 277. 10 Alfred Schäfer und Christiane Thompson, „ Gemeinschaft - Eine Einleitung “ , in: dies. 140 Lisa Niederwimmer (Hg.), Gemeinschaft, Paderborn 2019, S. 9 - 36, hier: S. 23. 11 Die Familie bewegt sich zwischen diesen Kollektivbeschreibungen, da der Vater als - nun verarmter - Schneider einer Handwerkerzunft angehört und der Sohn als qualifizierter Arbeiter in einer Fabrik tätig ist. 12 Die Presse, Nr. 71, 23.3.1850. 13 Friedrich Kaiser, Unter fünfzehn Theater- Direktoren. Bunte Bilder aus der Wiener Bühnenwelt, Wien 1870, S. 189. Hervorhebungen im Original. Sämtliche Hervorhebungen i. O. durch Sperrung werden im Beitrag in Kursivschrift wiedergegeben. 14 Vgl. Carl Elmar, Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre, Wien [ca. 1850], I/ 2, S. 2. 15 Ebd., S. 2. 16 Das Souffliermanuskript enthält Striche in Tinte und Bleistift sowie vereinzelt rote Markierungen. Wann und von wem die Striche gemacht wurden - vor oder nach der Erstaufführung, in Vorbereitung auf den Druck, von der Zensur oder Produktionsbeteiligten - ist nicht eindeutig belegbar. Es gibt allgemeine Hinweise, dass nach den ersten Vorstellungen Änderungen vorgenommen wurden (Vgl. Humorist, Nr. 80, 3.4.1850, S. 320; Änderungen der dramatis personae im November nachweisbar vgl. Fremden- Blatt, Nr. 262, 3.11.1850; ebd., Nr. 277, 21.11.1850). Ein konkreter Hinweis, dass zumindest manche der im Manuskript gestrichenen Passagen in den ersten Aufführungen ausgesprochen wurden, ergibt sich aus einer Kritik, in der die „ Trivialität von der Höhe des Wortspiels ‚ der Arbeiter dient nicht, er verdient ‘“ (Abendblatt der Wiener Zeitung, Nr. 71, 23.3.1850, S. 282) kritisiert wird. Der Satz „ Der Arbeiter dient nicht, er verdient “ ist in der Druckfassung nicht zu finden, aber im Soufflierbuch (fol. 8 v). Anfänglich stand in dem Manuskript „ [. . .], er schafft “ . Mit Bleistift wurde „ schafft “ durchgestrichen, daneben mit Bleistift „ verdient “ ergänzt und zusätzlich mit Tinte nachgezogen. Diese Passage ist zudem mit Bleistift gestrichen, was in diesem Zusammenhang vermuten lässt, dass der Strich erst nach der EA getätigt wurde. Weiters befindet sich ein roter, vertikaler Strich am linken Blattrand neben dem Satz. Auch im restlichen Manuskript finden sich vereinzelt seitlich angebrachte rote Striche sowie mit Rotstift durchgestrichene Passagen, die vielleicht (aber nicht eindeutig) von der Zensur stammen. Zweifel an der eindeutigen Zuordnung des Rotstifts als Zensureingriff ergibt sich daraus, dass im Manuskript rot markierte Stellen in die Druckfassung Eingang gefunden haben, kein Zensurvermerk vorhanden ist und die Passagen teils nur unterstrichen oder am Blattrand rot markiert sind. Vgl. Carl Elmar, Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre, Souffliermanuskript [s. d.], Wien, Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Sign.: Cod. Ser. n. 2752. Im Folgenden: Elmar, Liebe zum Volke (Man.). 17 Ebd., fol. 26 r. 18 Elmar, Liebe zum Volke, I/ 12, S. 10. 19 Ebd., S. 11. 20 Elmar, Liebe zum Volke (Man.), I/ 12, fol. 26 r/ v. 21 Ebd., fol. 26 r/ v. 22 Ebd., fol. 27 v. 23 Die Innsbrucker Zeitung berichtet am 2. April vom fortwährenden Andrang des Publikums, obwohl das Stück „ nach den Regeln des Belagerungszustandes beschnitten worden ist “ . Im Humorist wird erwähnt, dass Elmar einige Änderungen vorgenommen habe. Vgl. Innsbrucker Zeitung. Für Freiheit, Wahrheit und Recht! , Nr. 74, 2.4.1850, S. 318; Humorist, Nr. 80, 3.4.1850, S. 320. 24 Vgl. Frank Engehausen, Die Revolution von 1848/ 49, Paderborn 2007, S. 249 - 260; Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 65 f. 25 Vgl. Margret Friedrich, Brigitte Mazohl und Astrid von Schlechta, „ Die Bildungsrevolution “ , in: Rumpler und Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848 - 1918. Bd. IX, Teilband 1/ 1: Lebens- und Arbeitswelten in der Industriellen Revolution, Wien 2010, S. 67 - 107, hier: S. 105 ff., Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848, Wien/ München 1979, 141 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ S. 312 - 330; Hans Tietgens, „ Geschichte der Erwachsenenbildung “ , in: Rudolf Tippelt und Aiga von Hippel (Hg.), Handbuch Erwachsenenbildung/ Weiterbildung, Wiesbaden 5 2011, S. 25 - 41, hier: S. 29 - 33; Christa Bittermann-Wille, „ Arbeiterinnen-Bildungsverein, Wien “ , https: / / fraueninbewegung.on b.ac.at/ node/ 321 [Zugriff am 12.05.2023]. 26 Friedrich, Mazohl und Schlechta, „ Die Bildungsrevolution “ , S. 107. 27 Elmar, Liebe zum Volke (Man.), I/ 12, fol. 28 r. Der Satz wurde geringfügig überarbeitet ( „ sein wird “ statt „ ist “ ) und mit schwarzer Tinte gestrichen. Hervorhebungen im Manuskript durch Unterstreichung werden im Beitrag beibehalten. 28 Elmar, Liebe zum Volke, II/ 12, S. 27. 29 Elmar, Liebe zum Volke (Man.), II/ 12, fol. 66 v. 30 Der Grundrechtekatalog im Verfassungsentwurf des Kremsierer Reichstags (Krom ěř í ž , CZ) verdeutlicht den Willen zur Egalisierung der Gesellschaft. Im ersten Paragraph der Grundrechte hieß es: „ Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürger gleich. “ Der entscheidende Zusatz, der die Souveränität des ‚ Volkes ‘ verfassungsrechtlich verankern hätte sollen - „ Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus “ - wurde aus dem Entwurf gestrichen, da er gegen das monarchische Prinzip verstoßen hätte. Anstelle der progressiven trat am 4. März 1849 die oktroyierte Verfassung in Kraft, drei Tage später wurde der Kremsierer Reichstag aufgelöst. Vgl. Thomas Klete č ka, „ Einleitung “ , in: Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 - 1867. II. Abteilung: Das Ministerium Schwarzenberg, Bd. 1: 5. Dezember 1848 - 7. Jänner 1850 (Digitale Edition), https: / / hw.oeaw.ac.at/ ministerrat/ se rie-1/ a2-b1-pdf.xml#a2-b1_einl.pdf#page=9 [Zugriff am 24.04.2023], S. IX - LII, hier: S. XIX - XXII; „ 1848: Originaltext der Verfassung von Kremsier/ Krom ěř í ž“ , Haus der Geschichte Österreich, https: / / hdgoe.at/ original text_kremsier [Zugriff am 24.04.2023]. 31 Rudolf Burger, „ 1848 als Beginn einer österreichischen Zivilgesellschaft (? ) “ , in: Sigurd Paul Scheichl und Emil Brix (Hg.), „ Dürfen ’ s denn das? “ Die fortdauernde Frage zum Jahr 1848, Wien 1999, S. 269 - 279, hier: S. 275 f. 32 Vgl. Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, „ Zur Geschichte des Bürgertums in Österreich “ , in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995, S. 166 - 198, hier: S. 166 und 177 - 183. 33 So beispielsweise im § 4 der oktroyierten Märzverfassung von 1849: „ Für allgemeine Volksbildung soll [. . .] derart gesorgt werden, daß auch die Volksstämme, welche die Minderheit ausmachen, die erforderlichen Mittel zur Pflege ihrer Sprache und zur Ausbildung in derselben erhalten. “ ( „ Kaiserliches Patent vom 4. März 1849 “ , RGBl. 151/ 1849.) 1867 findet Gleichberechtigung nicht nur in Bezug auf Sprache Eingang in die Verfassung: „ Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. “ ( „ Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867 “ , RGBl. 142/ 1867.) 34 Pieter M. Judson, „ Encounters with Language Diversity in Late Habsburg Austria “ , in: Markian Prokopovych, Carl Bethke und Tamara Scheer (Hg.), Language Diversity in Late Habsburg Empire, Leiden/ Boston 2019, S. 12 - 25, hier S. 20. 35 Ebd., S. 21. 36 Zum Überlegenheitsgefühl der deutschsprachigen Bevölkerung der Habsburgermonarchie und Anti-Slawismus vgl. Nancy M. Wingfield (Hg.), Creating the Other. Ethnic Conflict & Nationalism in Habsburg Central Europe, New York/ Oxford 2003. 37 Elmar, Liebe zum Volke, II/ 10, S. 26. 38 Mit der oktroyierten Märzverfassung von 1849 wurden alle Konfessionen rechtlich gleichgestellt. Die Gleichstellung währte allerdings nicht lange, da mit dem Silvesterpatent von 1851 die Verfassung wieder aufgehoben wurde. Der rechtliche Status von Juden und Jüdinnen war anschließend bis 1859 in etwa vergleichbar mit jenem vor 1848. Vgl. Hannelore Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, Wien 2014, S. 61 - 66. 39 Hans-Peter Bayerdörfer und Jens Malte Fischer, „ Vorwort “ , in: dies. (Hg.), Judenrollen. 142 Lisa Niederwimmer Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit, Tübingen 2008, S. 1 - 19, hier: S. 8. 40 Beispielsweise bei David Kalisch (1820 - 1872), O. F. Berg (1833 - 1886) oder Friedrich Kaiser. Jürgen Hein zufolge arbeiteten im Kontext der Wiener Vorstadttheater nach 1850 besonders Berg, Kaiser und auch Carl Elmar handlungsrelevante jüdische Figuren in ihre Stücke ein, thematisierten - wenn auch idealisiert - die jüdische Emanzipation und traten für Toleranz ein. Vgl. Bayerdörfer und Fischer, „ Vorwort “ , S. 14; Anette Spieldiener, „ Der Weg des ‚ erstbesten Narren ‘ ins ‚ Planschbecken des Volksgemüts ‘ . Gustav Raeders Posse Robert und Bertram und die Entwicklung der Judenrolle im Possentheater des 19. Jahrhunderts “ , in: Bayerdörfer und Fischer, Judenrollen, S. 101 - 112, hier S. 105; Jürgen Hein, „ Judenthematik im Wiener Volkstheater “ , in: Hans Otto Horch und Horst Denkler (Hg.), Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg (Erster Teil), Tübingen 1988, S. 164 - 186, bes. S. 174 - 179. 41 Vgl. Fremden-Blatt, Nr. 66, 19.3.1850. 42 Hein, „ Judenthematik im Wiener Volkstheater “ , S. 172. 43 Elmar, Liebe zum Volke, III/ 1, S. 37. 44 Zu Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeiter: innen im 19. Jahrhundert siehe u. a.: Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung; Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990. 45 Elmar, Liebe zum Volke, I/ 12, S. 11 f. 46 Vgl. Ebd., I/ 3, S. 3 f. Im Stück werden nur Arbeiter erwähnt. Allerdings waren in der Metallverarbeitung auch Frauen tätig, wenn auch in geringem Ausmaß. Josef Ehmer berichtet von einem zweiprozentigen Frauenanteil in der metallverarbeitenden Industrie im mittleren 19. Jahrhundert. Sylvia Hahn zufolge ist der Anteil an Arbeiterinnen in diesem Gewerbezweig von 4,4 % im Jahr 1837 auf 10,3 % im Jahr 1869 gestiegen. In der Textilbranche stieg im Vergleichszeitraum der Anteil von rund 30 auf über 60 Prozent an. Vgl. Josef Ehmer, Familienstruktur und Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien, Wien 1980, S. 69, 87; Sylvia Hahn, „ Frauenarbeit “ , in: Felix Czeike (Hg.), Historisches Lexikon Wien, Bd. 2, Wien 2004, S. 377 - 379, hier: S. 378. 47 Elmar, Liebe zum Volke (Man.), II/ 1, fol. 43 v. 48 Elmar, Liebe zum Volke, II/ 5, S. 20. 49 Ebd., I/ 2, S. 2. 50 Vgl. Peggy Piesche, „ Der ‚ Fortschritt ‘ der Aufklärung - Kants ‚ Race ‘ und die Zentrierung des weißen Subjekts “ , in: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 30 - 39, hier: S. 30. 51 Wolf Rainer Wendt, Geschichte der Sozialen Arbeit 1. Die Gesellschaft vor der sozialen Frage 1750 bis 1900, Wiesbaden 6 2017, S. 139. 52 Vgl. ebd., S. 142 ff. 53 Der constitutionelle Hans-Jörgel. Volksschrift im Wiener Dialekte, 14. Heft, 1850, 1. Brief, S. 5. 54 Österreichischer Zuschauer. Zeitschrift für Gebildete, Nr. 68, 22.3.1850, S. 544. 55 Vgl. Ernst Gampe, Ottokar Franz Ebersberg (O. F.Berg) und seine Stellung im Wiener Volksstück, Diss. masch., Univ. Wien 1951, S. 85 ff. 56 Humorist, Nr. 68, 20.3.1850, S. 271. 57 Vgl. Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. 58 Humorist, Nr. 68, 20.3.1850, S. 272. 59 Vgl. Abendblatt der Wiener Zeitung, Nr. 71, 23.3.1850, S. 282; Fremden-Blatt, Nr. 66, 19.3.1850. 60 Österreichische Zuschauer, Nr. 68, 22.3.1850, S. 544. 61 Fremden-Blatt, Nr. 66, 19.3.1850. 62 Ost-Deutsche Post, Nr. 67, 20.3.1850. 63 Die Presse, Nr. 71, 23.3.1850. 64 Vgl. Johann Hüttner, „ Volkstheater als Geschäft: Theaterbetrieb und Publikum im 19. Jahrhundert “ , in: Jean-Marie Valentin (Hg.), Volk - Volksstück - Volkstheater im deutschen Sprachraum des 18. - 20. Jahrhunderts. Akten des mit Unterstützung des Cen- 143 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ tre National de la Recherche Scientifique veranstalteten Kolloquiums Nancy, 12. - 13. November 1982, Bern 1986, S. 127 - 149, hier S. 129 f. 65 Vgl. Theaterzettel des Theaters an der Wien 22.1.1849, Wien, Theatermuseum (TM), Programmarchiv, Theater an der Wien/ 1849. Angaben in Conventions-Münze (1 Gulden = 60 Kreuzer). 66 Vgl. „ Markt-Durchschnittspreise in den Jahren 1849, 1850 und 1851 “ , in: Tafeln zur Statistik der Österreichischen Monarchie für die Jahre 1849 - 1851. 2. Theil, V. Heft, Wien: 1856; Wiener Zeitung, Nr. 194, 15.8.1850, S. 2455. 67 Zum ‚ Galerie- ‘ , und ‚ Sonntagspublikum ‘ vgl.: Johann Hüttner, „ Literarische Parodie und Wiener Vorstadtpublikum vor Nestroy “ , in: Maske und Kothurn 18/ 1 - 2 (1972), S. 99 - 139. 68 Vgl. „ Sitzungs-Protocoll des k. k. priv. National-Theaters an der Wien. 1850/ 1851 “ , TM, Sammlung von Handschriften, Nachlass Pokorny, Sign.: Pok 5/ 20/ Ü4 (Sonderlegung Pok 14), fol. 11 f.; „ Circulare an die Mitglieder des Theaters. Wien am 18. Feb. 851 “ (Kopierbuch), TM, Nachlass Pokorny, Sign.: Pok 5/ 35 a/ Ü7 (Sonderlegung Pok 14). 69 Vgl. Cassa-Journal: Spielplan, tägliche Einnahmen und Ausgaben, 1.1.1849 - 31.12.1850, TM, Bibliothek, Archiv des Theaters an der Wien, Sign.: X121, Buch Nr. 2. 70 Der Humorist, Nr. 68, 20.3.1850, S. 271. 71 Parallel zum National-Theater an der Wien wurde ab Mai das Sommertheater in Braunhirschen (heutiger 15. Wiener Gemeindebezirk) bespielt, das bei gutem Wetter wesentlich besser besucht war als das ganzjährig bespielte Theaterhaus. 72 Vgl. Cassa-Journal (1850), Sign.: X121, Buch Nr. 2. 73 Johann Heinrich Mirani, Brief an Alois Pokorny, Wien, 21. Oktober 1850, TM, Nachlass Pokorny, Sign.: Pok 11/ 98. 74 De jure wurde die Theaterzensur 1848 nicht aufgehoben. Zur Problematik der ‚ Abschaffung ‘ der Zensur 1848 vgl. Hüttner, „ Zensur ist nicht gleich Zensur “ . 75 Vgl. „ Nr. 232 Ministerrat, Wien, 19. Dezember 1849 “ , Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 - 1867. II. Abt., Bd. 1 (Digitale Edition), Tagesordnungspunkt I, http s: / / mrp.oeaw.ac.at/ pages/ show.html? docu ment=MRP-1 - 2-01 - 0-18491219-P-0232.xml #top_2_1_232_1 [Zugriff am 08.03.2023]. 76 „ Nr. 378 Ministerrat, Wien, 7. August 1850 “ , Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 - 1867. II. Abt., Bd. 3: 1. Mai 1850 - 30. September 1850 (Digitale Edition), Tagesordnungspunkt XIII, https: / / mrp.oeaw. ac.at/ pages/ show.html? document=MRP-1 - 2 -03 - 0-18500807-P-0378.xml#top_2_3_378_ 13 [Zugriff am 08.03.2023]. 77 Ebd. 78 „ Nr. 392 Ministerrat, Wien, 9. September 1850 “ , Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 - 1867. II. Abt., Bd. 3, Tagesordnungspunkt VI, https: / / mrp.oeaw.ac. at/ pages/ show.html? document=MRP-1 - 2-0 3 - 0-18500909-P-0392.xml#top_2_3_392_6 [Zugriff am 08.03.2023] 79 „ Verordnung der Ministerien des Innern vom 25. November 1850 “ , RGBl. 454/ 1850. 80 Je nach Stadt und Region unterschied sich das Vorgehen allerdings, denn ganz im Gegensatz zu Wien, wo das Stück über ein halbes Jahr gespielt werden konnte, lehnte das Militär-District-Commando in Pest die Aufführung des Charakterbildes schon im April 1850 ab. Vgl. Carl Elmar, Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre, Zensurmanuskript, TM, Bibliothek, Sign.: M 884 Theat.-S. 81 In meiner Dissertation (in Vorbereitung) versuche ich herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen Theateraufführungen während des militärischen Ausnahmezustandes stattfinden konnten. 82 Zur österreichischen Nationsbildung und Abgrenzung zwischen ‚ Reichsdeutschen ‘ und ‚ Deutschösterreicher: innen ‘ bzw. österreichischen Deutschen vgl.: Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien 2 1996. 144 Lisa Niederwimmer
