Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2024-0012
0120
2025
351-2
Balme„. . . jene wienerische Lust am Tanzen . . .“ Lokal? Volkstümlich? Populär? Die Zugehörigkeiten der Grete Wiesenthal
0120
2025
Marion Linhardt
Die österreichische Tänzerin Grete Wiesenthal (1885–1970), ausgebildet im klassischen Tanz und über einige Jahre Mitglied des Balletts der Wiener Hofoper, dann mit einer eigenen Technik international gefeierte Protagonistin des Freien Tanzes, war nicht nur diewesentliche Repräsentantin der Bewegungskunst im künstlerischen Gefüge der Wiener Moderne. Wiesenthal avancierte im Verlauf ihrer Karriere und durch deren mediale Kommentierung zum „Inbegriff desWienerischen“ schlechthin. Diesem Topos, der, so oft er auch reproduziert wurde, doch kaum zu greifen ist, versucht der vorliegende Beitrag sich mit einem neuen Blick auf einige Stationen von Wiesenthals Laufbahn anzunähern. Einen solchen neuen Blick ermöglichen die unter anderem von Levke Harders vorgeschlagene analytische Kategorie des Belonging sowie Urs Stähelis differenztheoretisches Konzept des Populären. Beide Zugriffe erlauben nicht zuletzt ein genaueresVerständnis der Funktion des Wiener Walzers für die Wahrnehmung Grete Wiesenthals durch ihr Publikum und einen differenzierten Blick auf dieses Publikum selbst.
fmth351-20160
„ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ 1 Lokal? Volkstümlich? Populär? Die Zugehörigkeiten der Grete Wiesenthal Marion Linhardt (Bayreuth) Die österreichische Tänzerin Grete Wiesenthal (1885 - 1970), ausgebildet im klassischen Tanz und über einige Jahre Mitglied des Balletts der Wiener Hofoper, dann mit einer eigenen Technik international gefeierte Protagonistin des Freien Tanzes, war nicht nur die wesentliche Repräsentantin der Bewegungskunst im künstlerischen Gefüge der Wiener Moderne. Wiesenthal avancierte im Verlauf ihrer Karriere und durch deren mediale Kommentierung zum „ Inbegriff desWienerischen “ schlechthin. Diesem Topos, der, so oft er auch reproduziert wurde, doch kaum zu greifen ist, versucht der vorliegende Beitrag sich mit einem neuen Blick auf einige Stationen von Wiesenthals Laufbahn anzunähern. Einen solchen neuen Blick ermöglichen die unter anderem von Levke Harders vorgeschlagene analytische Kategorie des Belonging sowie Urs Stähelis differenztheoretisches Konzept des Populären. Beide Zugriffe erlauben nicht zuletzt ein genaueres Verständnis der Funktion des Wiener Walzers für die Wahrnehmung Grete Wiesenthals durch ihr Publikum und einen differenzierten Blick auf dieses Publikum selbst. Stellt man den Fokus auf die historische Figur Grete Wiesenthal weit, treten einzelne Ereigniszusammenhänge markant hervor: Wiesenthal als eine von nicht wenigen Vertreterinnen eines Freien Tanzes 2 in Mitteleuropa in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, die Literaten und bildende Künstler zu vielfältigen Auseinandersetzungen mit den neuartigen Formen der Kunst der Bewegung inspirierten; Wiesenthal in intensivem künstlerischen Austausch mit Hugo von Hofmannsthal, aus dem unter anderem moderne Tanzkreationen im Genre der Pantomime hervorgingen (vgl. Abb. 1); Wiesenthal als Darstellerin im noch jungen Medium Film; Wiesenthal als Begründerin einer eigenen Tanztechnik, die sie über Jahrzehnte in Tanzschulen bzw. -studios und an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst unterrichtete und die unter anderem von der „ Tanzgruppe Grete Wiesenthal “ national und international präsentiert wurde. Stellt man den Fokus schärfer, wird sichtbar, was Grete Wiesenthal einzigartig macht: Von den frühen Vertreterinnen des Freien Tanzes verfügte nur sie über eine klassische Tanzausbildung und nur sie ging aus einer Institution hervor, in der der Bühnentanz traditionell verankert war. Die Tanztechnik, die Wiesenthal auf dieser Basis etwa ab 1905 entwickelte, stand im Dialog mit den formalen, stilistischen und thematischen Tendenzen in Literatur, bildender Kunst, Kunstgewerbe und Musik im Wien jener Zeit. Wiesenthals Tanz war also, so könnte man formulieren, ein konstitutives Element der Wiener Moderne; zugleich war er immer auch Reflexion auf lokale und volkstümliche Musik- und Tanzpraktiken. Diesem historischen Komplex, der die Erscheinung Grete Wiesenthal in einer Vielzahl von künstlerischen und lokalkulturellen Bezügen am Beginn des 20. Jahrhunderts verortet, haben Gunhild Oberzaucher- Schüller und Gabriele Brandstetter einen Sammelband gewidmet, dessen Titel Mundart der Wiener Moderne 3 als Charakterisierung des Wiesenthal ’ schen Tanzes die Fort- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 160 - 181. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0012 schreibung einer Beobachtung aus einem berühmten Feuilleton Paul Zifferers aus dem Jahr 1912 ist. Dort heißt es: „ Man könnte sagen, die Kunst der Grete Wiesenthal bediene sich der Wiener Mundart “ 4 . Der vorliegende Beitrag rückt noch näher an Grete Wiesenthal heran: an ihre Kindheit und an ausgewählte Situationen ihrer frühen tänzerischen Laufbahn. Dieser Serie von Close-ups dient „ Zugehörigkeit “ als analytische Kategorie. 5 Die auf Bedingungen bzw. Prozesse der Konstitution solcher Zugehörigkeit zielende Formel „ Performances of Belonging “ trifft mit Grete Wiesenthal (1885 - 1970) gewissermaßen auf eine idealtypische Erscheinung: Bekanntlich waren Leben, Laufbahn und Kunst der Wiesenthal durch eine Folge von Zugehörigkeiten zu wechselnden Gemeinschaften, Räumen und sozialen wie ästhetischen Ordnungen gekennzeichnet. Ob mit Blick auf Wiesenthals Mitgliedschaft im Wiener Hofopernballett in den Jahren 1901 bis 1907 oder auf die nachfolgenden Jahrzehnte, in denen Wiesenthal als institutionsunabhängige Tänzerin in enger Verbindung zu Künstlern der Moderne, zu frühen Vertretern einer künstlerischen Regie im Theater und zu Filmschaffenden auftrat, ihre Zugehörigkeiten konstituierten sich hier tatsächlich über Performances, über das Vorführen körperlicher Handlungen, das damit im wörtlichen Sinn ein ‚ doing belonging ‘ (Levke Harders) war. Fragen von Belonging drängen sich nun allerdings nicht nur hinsichtlich der Tänzerin Grete Wiesenthal auf, für die sich unterschiedliche Zugehörigkeiten beschreiben lassen, sondern auch hinsichtlich des umfassenderen ‚ Phänomens ‘ Grete Wiesenthal; dieses Belonging wiederum hat zu tun mit Konzepten des ‚ Populären ‘ , des ‚ Volkstümlichen ‘ und des ‚ Lokalen ‘ und weist daher gleichsam einen potenzierten Grad an Zuschreibung auf. Im Abb. 1: Grete Wiesenthal als Psyche in der Pantomime Amor und Psyche von Hugo von Hofmannsthal (Musik: Rudolf Braun; Inszenierung: Grete Wiesenthal; Kostüm: Erwin Lang). Berlin 1911. Fotografie: Becker & Maaß, Berlin. Postkarte: Verlag Hermann Leiser, Berlin. Privatbesitz. 161 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? Folgenden wird an einigen für die frühe tänzerische Laufbahn Wiesenthals bedeutsamen Stationen skizziert, wie sich Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit jeweils konkret fassen lässt. Ausgehend von Urs Stähelis differenztheoretischen Thesen zum Populären werden sodann Überlegungen angestellt, inwieweit sich das im Fall Wiesenthals auf mehreren Ebenen relevante Konzept des Populären mit der Kategorie des Belonging zusammendenken lässt. Station 1, Kindheit - Selbstzuschreibung 6 In ihrer 1919 erschienenen Autobiografie Der Aufstieg. Aus dem Leben einer Tänzerin 7 öffnet Grete Wiesenthal den Blick auf Erfahrungen ihrer Kindheit, die ihre Leser: innen quasi gemeinsam mit der Zurückschauenden wie Theaterszenen betrachten. Viele dieser Szenen erweisen sich als Splitter eines übergeordneten Sinnzusammenhangs, der die Initiation der Künstlerin Grete Wiesenthal und die Grundlagen ihres Verständnisses von Tanz begreifbar machen will. 8 Vier Bedeutungsfelder bzw. kulturelle Praktiken sind zentral: die Lebensbedingungen und die Atmosphäre eines Künstlerhaushalts, das bäurische Walzertanzen 9 als früheste erinnerte Begegnung mit Tanz, Musik in jeglicher Form (als ein unwiderstehliches Ereignis und als eine das eigene Innere durchströmende Energie 10 ) und schließlich die Stadt Wien mit der sie umgebenden Landschaft und ihrer als spezifisch wahrgenommenen Atmosphäre, die nicht zuletzt durch volkstümliche Musik und durch ‚ Musikalität ‘ geprägt ist. Station 2, die Hofoper Als Ballettschülerin, später als Tänzerin gehört Wiesenthal der Hofoper an, die aufgrund ihrer organisatorisch-wirtschaftlichrechtlichen Anbindung an den Hof und aufgrund jahrhundertelanger Tradition eine besonders prestigeträchtige Institution ist. Der hochkulturelle Status der Hofoper ist dabei unmittelbar an Mechanismen des Ausschließens geknüpft: Das Publikum dieses Theaters ist, wenn auch nicht vollständig, so doch weitgehend auf die soziale und die Finanzelite beschränkt. Die Ballett-Sparte ist in ihrer Funktion auf Unterhaltung, in ihrer Ästhetik auf dekorative Tableaus und wiederkehrende Inszenierungen des Lokalen, in ihrer Technik auf die durch Disziplinierung und konsequente Übung erzielte Virtuosität des klassischen Tanzes ausgerichtet. Zugehörigkeit hat hier neben der institutionellen auch eine tanztechnische und eine auf die Gruppenorganisation bezogene Dimension: Alle Tänzerinnen müssen das Bewegungsvokabular in gleicher Weise beherrschen, die Ausbildung zielt auf Uniformität der Bewegung, 11 die Tänzerinnen sind eingebunden in ein streng hierarchisiertes Ensemble. Der Tanz im Corps oder als Halbsolistin schaltet Individualität weitestgehend aus. 12 Neben die Zugehörigkeit zur Institution tritt bei Grete Wiesenthal mit fortschreitender Zeit ein Bewusstsein von Nicht-Zugehörigkeit in ästhetischer Hinsicht. Aus ihrer Perspektive ist das Hofopernballett von fehlender Musikalität und Sinnlosigkeit der tänzerischen Bewegung geprägt. Station 3, Exklusivität - oder das Verlassen von Hierarchie und Ordnung Die Lösung Grete Wiesenthals aus ihrer Zugehörigkeit zum sozialen und künstlerischen Gefüge der Hofoper erhält einen womöglich entscheidenden Impuls durch die Einstudierung des Balletts Chopin ’ s Tänze von Joseph Haßreiter im April 1905. 13 Aus der Empfindung der Unangemessenheit des Umgangs mit Frédéric Chopins Musik in 162 Marion Linhardt dieser Choreografie, 14 sodann ermuntert durch den befreundeten jungen Maler Rudolf Huber und angeregt von Berichten über Auftritte Isadora Duncans, 15 erarbeiten Grete und ihre Schwester Elsa einen ersten eigenen Tanz zu einer Walzerkomposition von Chopin. Diesen und weitere Tanzschöpfungen, etwa zu Musik von Johann Strauss Sohn und Ludwig van Beethoven, zeigen die Schwestern Wiesenthal ab 1906 in Hubers Atelier. 16 Die Formierung eines neuen Belonging erfolgt unter den Vorzeichen der Exklusivität: Die ‚ neue Tänzerin ‘ Grete Wiesenthal agiert in privatem Rahmen in den Zirkeln der Wiener Künstler und Künstlerinnen. 17 Station 4, Fenella Auf Initiative Alfred Rollers und ohne Wissen des eigentlich zuständigen Ballettmeisters Haßreiter studiert Wiesenthal die Titelpartie der Fenella 18 in einer Neuproduktion von Daniel-François-Esprit Aubers Oper Die Stumme von Portici, die im Februar 1907 an der Hofoper herauskommt. 19 Die Reaktionen der Presse auf die Darbietung der weitestgehend unbekannten jungen Tänzerin reichen von bloßer Erwähnung über wohlwollende Bemerkungen, die Wiesenthals Ausdrucksstärke und Natürlichkeit herausstellen, bis zu beleidigender Ablehnung und Einforderung sofortiger Umbesetzung der Partie. 20 Die positiven wie die negativen Stimmen kommentieren Wiesenthals Körper: schmächtig, dünn, eckig. Bereits bei der zweiten Aufführung ist die Umbesetzung - auf Betreiben leitender Persönlichkeiten der Oper - erfolgt. Das Neue Wiener Journal informiert: Jetzt gibt es in der Hofoper zwei Darstellerinnen der „ Stummen von Portici “ . Die eine ist Fräulein Wiesenthal, die andere Fräulein Kamilla Weigang.[ 21 ] [. . .] Fräulein Weigang mimte die Partie der Fenella mit großem Erfolg. Die interessante und charakteristische äußere Erscheinung und das wohldurchdachte Spiel fanden starke Anerkennung. In der morgigen Aufführung der „ Stummen “ tritt wieder Fräulein Wiesenthal auf. 22 Ich deute die Fenella-Episode als Zuschreibung von Nicht-Zugehörigkeit aufgrund einer Abweichung von zeitgenössischen Normen, nach denen sich ‚ attraktive Weiblichkeit ‘ - insbesondere bezogen auf Bühnendarstellerinnen - bemisst. 23 Station 5, ästhetisierte Volkstümlichkeit In Weigls Dreherpark, einem traditionsreichen Vergnügungsort Wiens mit einem ausgedehnten Gastgarten, regelmäßigen populären Musikdarbietungen und einer Bühne für Varieté-Programme, wird Anfang Juni 1907 ein Gartenfest veranstaltet, für dessen Konzeption und Ausstattung führende Künstlerpersönlichkeiten aus dem Kreis der Secession, der Wiener Werkstätte und der Kunstgewerbeschule verantwortlich zeichnen. Die Bewirtung und ein breites Angebot an für Jahrmärkte und Kirchweihfeste typischen Belustigungen, wie Spielhölle, Rodelbahn, Schießbude, Glückshafen, Lebzelten- und Zuckerwerkverkauf, übernehmen Damen aus der besten Wiener Gesellschaft. 24 Im Mittelpunkt des Festes steht die Aufführung der Pantomime Die Tänzerin und die Marionette (vgl. Abb. 2) von Max Mell und der Harlekinade Pierrot und Pierrette, Letztere inszeniert von Fritz Zeymer und Anton Kling. Neben Grete Wiesenthal in der Partie der Tänzerin agieren hier tänzerische Laien. Die Veranstaltung ist in zweifacher Weise von einer Ästhetisierung des Volkstümlichen gekennzeichnet: das Gartenfest adaptiert Ereignisformen der Populärkultur für die künstlerische und gesellschaftliche Elite und die 163 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? gezeigten Stücke reihen sich in die für die internationale Moderne charakteristische Hinwendung zu vormals volkstümlichen Genres und Motiven wie Pantomime, Märchen sowie Hanswurst- und Marionettenspiel ein. 25 Die Sphäre einer ästhetisierten Volkstümlichkeit gibt den Deutungshorizont für Wiesenthals Tänze ab. Abb. 2: Grete Wiesenthal als Tänzerin, Hans Strohofer als der junge König in der Pantomime Die Tänzerin und die Marionette von Max Mell (Musik: Rudolf Braun; Ausstattung und Regie: Eduard Josef Wimmer-Wisgrill; Tänze: Elsa Wiesenthal). Wien 1907. Fotograf: anonym. Postkarte. Privatbesitz. Station 6, Tänze in begrenzter Öffentlichkeit Eine Besonderheit unter den Kleinkunstbühnen, die in Wien seit der Jahrhundertwende vermehrt entstehen, will das Kabarett Fledermaus mit seinem die Ausstattung bis ins Detail bestimmenden künstlerischen Programm der Wiener Werkstätte sein: Die Initiatoren nehmen für sich in Anspruch, in einzigartiger Weise eine „ Stätte [. . .] der Kultur der Unterhaltung “ 26 von festlichem Charakter geschaffen zu haben. Das Kabarett Fledermaus ist ein Ort des nächtlichen Vergnügens mit Vorstellungen ab 22 Uhr und Wiener Musik und Gesang ab 1 Uhr. Mit 300 Plätzen, Platzpreisen von umgerechnet etwa 70 bzw. 40 Euro und anspruchsvollen Darbietungen zielt das Etablissement auf eine schmale soziale Schicht. 27 Prägend für das Publikum sind Künstler, Kunstgewerbler: innen und Mitglieder jüdischer Familien. In der Fledermaus, aber nicht im Nachtprogramm zwischen Chansons und literarischen Sketchen, sondern in Spätnachmittagsvorstellungen zeigen Grete Wiesenthal und ihre Schwestern Elsa und Berta im Januar 1908 erstmals öffentlich die Tänze, die sie selbst erarbeitet haben: einen Walzer in Des-Dur von Chopin, die Walzer Rosen aus dem Süden op. 388 und An der schönen blauen Donau (Donauwalzer) op. 314 von Strauss Sohn (vgl. Abb. 3), das Allegretto aus der Klaviersonate Nr. 6 F-Dur op. 10 Nr. 2 (vgl. Abb. 4) und das Andante con moto 28 aus dem Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58 von Beethoven, vier Tänze zu Stücken aus Robert Schumanns Carnaval op. 9, einen Tanz aus Jules Massenets Manon sowie Walzer von Joseph Lanner und Franz Schubert in einer Zusammenstellung des Ballettkomponisten Josef Bayer (vgl. Abb. 5). Die Reaktionen auf das Programm identifizieren Wiesenthal unmittelbar mit dem ,Wienerischen ‘ . Die zumal in späteren Jahren geläufige Apostrophierung Grete Wiesenthals als „ Inbegriff des Wienerischen “ hat ihren Ursprung darin, dass sie ab jetzt (auch! ) als Tänzerin von Wiener Musik wahrgenommen wird. Hier scheint mir eine doppelte Zuschreibung wirksam zu werden: Die Tanzmusik des 164 Marion Linhardt 19. Jahrhunderts wird in der Moderne in Bezug auf das ‚ Wienerische ‘ essentialisiert, und wenn Wiesenthal zu dieser Musik tanzt, werden Wien, Musik und Tänzerin eins - oder, wie es Die Zeit formuliert: Man hat selten wienerischere Kunst genossen als diese ist. [. . .] man spürt aus jeder Bewegung des Armes, jeder Neigung des Kopfes diese österreichische Atmosphäre, diese anmutige, südlich helle Kultur, diese zärtlich-leichten Kräfte, die hier aus dem Volkstum wirken. 29 Entscheidend ist: Wiesenthal wird als Verkörperung eines wienerischen Wesens 30 oder gar einer Wiener Volkskultur gedeutet, während sie der Bevölkerung Wiens weiterhin nahezu völlig unbekannt ist. Station 7, nicht mehr vor „ einem kleinen Kreise von Ästheten “ 31 Ab dem 2. März 1909 geben Grete Wiesenthal und ihre Schwestern fünf Vorstellungen am Raimundtheater. Unter den Wiener Ope- Abb. 3: Grete Wiesenthal in Donauwalzer von Johann Strauss Sohn (Kostüm: Erwin Lang). 1908. Fotografie: Rudolf Jobst, Wien. Postkarte: Verlag Dr. Trenkler & Co., Leipzig. Privatbesitz. Abb. 4: Grete Wiesenthal im Allegretto aus der Klaviersonate Nr. 6 F-Dur op. 10 Nr. 2 von Ludwig van Beethoven. 1908. Fotografie: Rudolf Jobst, Wien. Postkarte: Verlag Dr. Trenkler & Co., Leipzig. Privatbesitz. 165 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? rettenbühnen gilt diese Bühne aufgrund der Zusammensetzung ihres Publikums und dessen Geschmack als die volkstümlichste. Die Schwestern Wiesenthal haben in den Monaten zuvor ihren Tanzabend unter anderem während einer Gastspielreise durch Deutschland gezeigt, wo „ überall die Maler, die Bildhauer, die Dichter [. . .] die lauten Herolde der Wiesenthals “ 32 waren; zudem ist Grete im Juni 1908 im Gartentheater der Wiener Kunstschau 33 neuerlich vor einem „ distinguirte[n] Publikum “ 34 aufgetreten, diesmal in drei verschiedenen Pantomimen (Die Tänzerin und die Marionette; Der silberne Schleier; Der Geburtstag der Infantin 35 ). Im Raimundtheater zeigen die Wiesenthals ein Programm mit neuen Choreografien: Tarantell zu Musik von Auber, Strauss ’ Walzer Frühlingsstimmen op. 410, Der Wind und Panstänze, 36 beides mit Musik von Franz Schreker, schließlich Pesther Walzer op. 93 von Lanner. Die Wiesenthals sind hier das Nachprogramm zu abendfüllenden Operetten: An zwei Abenden tanzen sie nach Heinrich Reinhardts Die Sprudelfee (vgl. Abb. 6), an zwei weiteren nach Carl Michael Ziehrers Der Liebeswalzer (vgl. Abb. 7), an einem nach Strauss ’ Die Fledermaus. Fotografische Aufnahmen zum Tanz der Wiesenthals auf der einen und zu Szenen aus den Operetten auf der anderen Seite machen unmittelbar sinnfällig, inwieweit die Wiesenthals in Bewegungsduktus und Körperkonzept als gravierende ‚ Abweichung ‘ von etablierten Mustern der Bühnenpräsentation erscheinen müssen. Es wird deutlich, dass die Volkstümlichkeit, die den Wiesenthals zugeschrieben wird, nichts mit der lokalen Ausrichtung der städtischen Unterhaltungskultur zu tun hat, von der sich breitere Bevölkerungsschichten Wiens angesprochen fühlen. Das Publikum des Abb. 5: Berta Wiesenthal (links), Elsa Wiesenthal (Mitte) und Grete Wiesenthal (rechts) (Beschriftung im Bild nicht korrekt) in Lanner-Schubert-Walzer (Musikzusammenstellung: Josef Bayer; Kostüme: Rudolf Huber). 1908. Fotografie: Rudolf Jobst, Wien. Postkarte: Verlag Dr. Trenkler & Co., Leipzig. Privatbesitz. 166 Marion Linhardt Raimundtheaters reagiert teils mit Unverständnis. Die im Ganzen wohlwollende Besprechung des Neuen Wiener Journals dokumentiert die Aufnahme: „ Das empfängliche Publikum applaudierte lebhaft, doch es gab auch manche Zuschauer, die mit dieser Kunst des Tanzens nichts anzufangen wußten. Ihnen sagten weder die Farbenharmonien noch der Rhythmus der Bewegungen etwas. “ 37 Stationen 8 und 9, zweimal Varieté Im März 1910 und im Januar 1912 ist Grete Wiesenthal Teil des Programms des Wiener Varieté-Theaters Apollo, 1910 noch zusammen mit ihren Schwestern, 1912 allein. Gemeinsam mit ihren Schwestern hat Wiesenthal 1909 unter anderem Gastspiele am Londoner Hippodrome und am Théâtre du Vaudeville in Paris absolviert. 1910 bzw. 1911 werden in Berlin Pantomimen aufgeführt, bei denen Grete nicht nur als Tänzerin, sondern auch als Choreografin mitwirkt: Friedrich Freksas Sumurûn sowie Hugo von Hofmannsthals Amor und Psyche und Das fremde Mädchen. 38 1910 treten die Schwestern im Wiener Apollo mit der Pantomime Der Geburtstag der Infantin auf, die, den Marketingstrategien des Varietés entsprechend, als „ Sensationspremiere “ und als „ neu “ plakatiert wird, was sie natürlich nicht ist. Das Publikum findet kein Gefallen an dem Stück. Direktor Ben Tieber, der sich eigentlich die bekannten Tänze der Wiesenthals für sein Programm gewünscht hatte, befeuert die Ablehnung wohl zusätzlich. 39 Die Wochenzeitung Der Floh konstatiert: Schwächer als die sonst glänzenden Apolloprogramme erweist sich das neue März-Programm. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, daß die als Monatsschlager geplante Nummer nicht in erwarteter Weise angesprochen hat. Die Schwestern Wiesenthal haben für ihre Darbietungen ein weniger verständliches, als langweiliges Tanzpoem gewählt. Es war dies um so überflüssiger, als sie jedermann in ihren Wiener Tänzen gern bewundert. 40 Als Grete am 3. März ausfällt und für die Programmfolge kurzfristig Ersatz gefunden werden muss, tritt zur Begeisterung des Publikums die Volksschauspielerin und Komikerin Hansi Niese auf (vgl. Abb. 8). Eine Pressestimme dazu: „ Für Freunde urwüch- Abb. 6: Betty Seidl als Prinzessin Bozena und Ludwig Herold als Fürst Aladar in Die Sprudelfee von Heinrich Reinhardt, Wien, Raimundtheater 1909. Fotografie: Ludwig Gutmann, Wien. KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien. 167 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? sigen Humors war dieser Tausch nicht schlecht; sie kamen voll auf ihre Rechnung, denn Frau Niese ist imstande, ein ganzes Varietéprogramm zu bestreiten. Natürlich wurde die tapfere Künstlerin stürmisch bejubelt. “ 41 Die Pantomime der Wiesenthals, neben der im Apollo als Programmhöhepunkt die parodierende Ballettoperette Chantecler in Wien 42 (vgl. Abb. 9) gegeben wird, stiftet keine ästhetische, soziale oder emotionale Zugehörigkeit. Ganz anders die Tänze, die Grete Wiesenthal 1912 zeigt: Strauss ’ Frühlingsstimmen-Walzer (vgl. Abb. 10), Franz Liszts 2. Ungarische Rhapsodie (vgl. Abb. 11) und Strauss ’ Walzer An der schönen blauen Donau. In Kommentaren zu diesem Auftritt wird deutlich, wie das Medium „ Walzer “ Grete Wiesenthal, Johann Strauss und Wien zur Deckung bringt. In Paul Zifferers ausführlicher Analyse in der Neuen Freien Presse gerät soziale Differenzierung unmittelbar zu einer sozialen Utopie: [. . .] in ihrer naiven Art hat sie die Linienwälle für den Tanz erobert, ihre Kunst bedeutet eine gar anmutige Revolution, der freilich schon von Meister Johann Strauß der Weg gebahnt wurde, als er den schlichten Walzer zu Ruhm und Ehren brachte. Grete Wiesenthal indessen hat den Mut besessen, diesen schlichten Wiener Walzer, der für den Tanz bestimmt war, auch wirklich zu tanzen; fast ganz ohne Spitzenschritt, ohne Coupés, Fleurets, Contretemps, Pirouetten und Tournées, beinahe so, wie er Besitztum aller Wienerinnen ist, der kleinen, flinken Mädchen in der Vorstadt und der vornehmen Damen in knisternden, seidenen Ballroben, doch viel freier und leichter, als brächte er die Erfüllung dessen, was die anderen nur ungeschickt tastend suchen. 43 Abb. 7: Louise Lichten als Kathi, Franz Glawatsch als Leopold Führinger und Rose Karin-Krachler als Antschi in Der Liebeswalzer von Carl Michael Ziehrer, Wien, Raimundtheater 1908. Fotografie: Ludwig Gutmann, Wien. KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien. 168 Marion Linhardt Station 10, Wien in Berlin - Krieg - Überhöhung Wie so oft in vorangegangenen Jahren tritt Grete Wiesenthal 1915 in Berlin auf. Sie wirkt als Choreografin an einer Inszenierung Max Reinhardts am Deutschen Theater mit, die den herausragenden Wiener Charakterspieler Max Pallenberg in der Hauptrolle eines Stückes des prominentesten Wiener Volkstheaterdichters des 19. Jahrhunderts, in Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind, 44 präsentiert. Daneben ist sie die Hauptnummer im Januar- Programm des Varietés Wintergarten, wo sie eine Choreografie „ Brauttanz “ 45 nach Musik von Schubert, Liszts Ungarische Rhapsodie und Walzer von Strauss zeigt. Mittlerweile ist Grete Wiesenthal auch Filmdarstellerin. Im Jahr 1913 ist nicht nur Das fremde Mädchen verfilmt worden, auch in weiteren Filmen hat Wiesenthal mitgewirkt. 46 Im Februar 1915 erscheint im Berliner Tageblatt ein Feuilleton der Schriftstellerin Elisabeth von Schmidt- Pauli über Wiesenthal und ihren Tanz, über Wien, über den Krieg und über die heilende und erlösende Kraft, die Wiesenthal zu eigen sei. 47 Schmidt-Pauli führt zwei anonyme Besucher des Wintergartens ein, einen österreichischen Offizier und einen deutschen Dichter, deren Gedanken nach dem Verlassen des Etablissements in einer Winternacht sie schildert, um anschließend Mutmaßungen über die nächtlichen Träume der beiden Männer anzustellen. Während die Identität des Offiziers offenbleiben muss, dürfte es sich bei dem Dichter, dessen Gedanken und Träume Schmidt-Pauli zu kennen behauptet, mit großer Wahrscheinlichkeit um Rainer Maria Rilke handeln, dem Schmidt-Pauli nahestand und den sie Jahrzehnte später in einem Gedenkbuch würdigte. Schmidt-Pauli lässt die beiden Protagonisten ihres Textes in einem bemerkenswerten Durchschreiten von Schauplätzen eines äußeren und eines inneren Lebens (das gegenwärtige winterliche Berlin, das empfundene frühlingshafte „ Wien “ ) eine Überhöhung Wiesenthals vollziehen, die einerseits das Wienerische der Tänzerin, andererseits ihr Seelisches adressiert. Die nächtlichen Träume der zwei Männer führen vom Varieté in ein Lazarett bzw. in einen „ weißen Tempel [. . .] in einem stillen Wiesengrunde “ 48 , an zwei Orte, an denen die Tänzerin Grete Wiesenthal die Menschen von ihren Schmerzen - den körperlichen und den seelischen - erlösen wird. Die Frage der Zugehörigkeit gewinnt hier, unter den Bedingungen des Weltkriegs, eine neue Dimension. Dies betrifft zunächst die Ineinssetzung der Wiesenthal mit einem angenommenen ‚ Wienerischen ‘ . Die Emphase, mit der die aus Hamburg stammende Abb. 8: Hansi Niese in der Titelpartie von Das Wäschermädel von Rudolf Raimann, um / nach 1905. Fotografie: Charles Scolik, Wien. KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien. 169 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? Elisabeth von Schmidt-Pauli in einem in Berlin veröffentlichten Zeitungsartikel über ein Berliner Kunstereignis den von ihr entworfenen „ österreichischen Offizier “ Grete Wiesenthal gleichsam als Mensch und Bewegung gewordenen Wiener Frühling wahrnehmen, ihn in Wiesenthals Lächeln Bilder und Klänge der „ Heimat “ 49 sehen und spüren lässt, macht deutlich, wie verankert die Überblendung Grete Wiesenthals mit Wien auch außerhalb Wiens und bei Nicht- Wienerinnen ist. Die Erfahrung des Krieges weitet diese Überblendung in zwei Richtungen: An die Tänzerin knüpft sich das Empfinden der Sehnsucht nach dem „ liebe[n] Wien “ 50 , und mit ihrem Tanz und ihrem Lächeln verbindet sich für die Verwundeten des Krieges zumindest eine Ahnung von Trost. „ Alles Volk “ von Schmerzen erlösen und „ glücklich machen “ kann Grete Wiesenthal, die „ Freundlichste unter allen “ 51 , im Traum des Dichters. Hier wird also Zugehörigkeit in noch umfassenderem Verständnis beschworen. Die ausführlichen Kommentare von Schmidt-Paulis „ Dichter “ zu den Tänzen Wiesenthals, die er im Wintergarten gesehen hat, sind von einer komplexen religiösen Bildlichkeit durchzogen, deren Fluchtpunkt die Jungfrau Maria ist. 52 Bereits am 3. Januar 1915 überreichte Rainer Maria Rilke Grete Wiesenthal ein Exemplar seines Marien-Lebens, in das er eine gedichtartige Widmung für sie eingetragen hatte. 53 Populäre Kommunikation und die Zugehörigkeit von / zu Grete Wiesenthal Wenn eingangs vom ‚ Phänomen ‘ Grete Wiesenthal die Rede war, sollte damit auf den Sachverhalt hingewiesen werden, dass Wiesenthal nicht nur eine von mehreren Tänzerinnen war, die im frühen 20. Jahr- Abb. 9: Polly Koß und Ensemble in Chantecler in Wien, Wien, Apollo 1910. Fotografie: Berthold Bing, Wien. KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien. 170 Marion Linhardt hundert wesentlich zu einem neuen Verständnis von Bühnentanz als Kunst beigetragen haben, sondern dass sie gleichsam zu einem kulturgeschichtlichen Topos wurde, der der Wiener Moderne eine bestimmte Farbe verlieh. Für die Formierung dieses Topos war die mediale Kommentierung der Auftritte der Wiesenthal vielleicht wichtiger als ihr Tanz selbst. Zahlreiche Quellen aus den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit belegen, wie Grete Wiesenthal und ein aus der Empfindung des Verlustes heraus definiertes wienerisches Wesen miteinander identifiziert wurden. Was war die Grundlage dieser Identifikation? Es ist offensichtlich, dass dafür die nun bereits mehrfach erwähnten Konzepte des Populären, des Volkstümlichen und des Lokalen maßgeblich waren. Das Lokale wäre zu fassen als etwas, das an einem durch verschiedene Parameter als einzigartig charakterisierten, abgegrenzten Ort vorfindlich ist; es war darüber hinaus ein wichtiges Motiv der Unterhaltungskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, soweit dort Bekanntes, Alltägliches gezeigt wurde, das Zugehörigkeit evozierte. Aussagen über Grete Wiesenthal und ihren Tanz, die einen Lokalbezug Abb. 11: Grete Wiesenthal in der 2. Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt. Diese Choreografie tanzte Wiesenthal unter anderem bei ihren Auftritten im Winter Garden Theatre in New York im Frühjahr 1912. Fotografie: White, New York. Postkarte: Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G., München. Privatbesitz. Abb. 10: Grete Wiesenthal im Frühlingsstimmen- Walzer von Johann Strauss Sohn. Grafik von Leo Rauth, 1912. Postkarte. Privatbesitz. 171 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? stark machen, zeigen unmittelbar den Konstruktcharakter dieses Lokalen, selbst wo es scheinbar um Realien geht. Am Volkstümlichen hat das ‚ Phänomen ‘ Wiesenthal in erster Linie über Wiesenthals Verbindung mit dem Walzer Anteil. Der von Grete Wiesenthal und ihren Schwestern getanzte Walzer hatte mit „ Volksmusik “ allerdings nichts gemein, es handelte sich dabei um städtische Tanz- und Konzertmusik, um Unterhaltungsmusik des mittleren und späten 19. Jahrhunderts. Diese Musik besaß keine wie auch immer zu definierende Authentizität, konnte aber für sich in Anspruch nehmen, eine Musik für alle zu sein. Das Populäre schließlich ist nach geläufigem Verständnis das von sehr vielen Gekannte und vielleicht Geschätzte, das unter Umständen auch der Unterhaltung dient. Bezogen auf die Bevölkerung Wiens traf dies für Grete Wiesenthal und ihre Tanzkunst sicherlich nicht zu. 54 In seiner theoretischen Skizze zum Populären setzt sich der Soziologe Urs Stäheli 55 kritisch-konstruktiv mit Positionen der Cultural Studies und hier insbesondere mit Essentialisierung, machttheoretischer Überfrachtung und Überpolitisierung (im Sinn der Betonung von Subversion in der Unterscheidung „ Leute / Nicht-Leute “ ) auseinander und konstatiert zugleich die Enthaltsamkeit der Systemtheorie gegenüber dem Populären, das er als einen quer zu Systemen „ laufende[n] Prozess[] “ und als „ konstitutiv mit Prozessen funktionaler Differenzierung verbunden “ 56 begreift. Sein eigenes Konzept des „ Populären als Unterscheidung “ argumentiert, stark vereinfachend formuliert, mit der Beweglichkeit der Grenze zwischen unterschiedlichen Publika. Stäheli fasst „ das Populäre als das kommunikative Prozessieren der Unterscheidung zwischen dem Publikum und seiner Außenseite “ 57 und umreißt die komplexen Prozesse, die „ die Grenze zwischen dem Publikum und seinem Außen “ 58 organisieren. Mit Blick auf Modi der Inklusion und Exklusion benennt er für das Außen zwei Optionen: das Außen kann als Bedrohungsszenario wahrgenommen oder aber als Inklusionspotenzial konzipiert werden. 59 Dies führt Stäheli zu kommunikationstheoretischen Überlegungen. Als populäre Kommunikation begreift er Kommunikationsformen, die auf ein als Inklusionspotenzial aufgefasstes Außen zielen. Dementsprechend betont er, dass „ das Populäre und populäre Kommunikation nicht deckungsgleich sind, sondern populäre Kommunikation nur einen spezifischen Kommunikationstypus bezeichnet. “ 60 Maßgeblich für diesen Kommunikationstypus sind zwei Aspekte, die auch im Kontext der Cultural Studies prominent firmieren, nämlich Allgemeinverständlichkeit (bei Stäheli: Hyper-Konnektivität) und Affektivität. 61 Ausgehend von Stähelis theoretischer Annäherung an das Populäre und vor dem Hintergrund der in den Stationen 1 - 10 skizzierten Verschiebungen und wiederholten Neukonzeptualisierungen von Zugehörigkeit(en) in der frühen tänzerischen Laufbahn Grete Wiesenthals lohnt ein Blick auf zwei weitere Momente dieser Laufbahn bzw. auf die Wahrnehmung dieser Momente durch zeitgenössische Beobachter. Es handelt sich dabei erstens um den Abend im September 1911, an dem Hugo von Hofmannsthals Pantomimen Amor und Psyche und Das fremde Mädchen in Berlin uraufgeführt wurden, und um die Kommentierung dieses Abends im Berliner Tageblatt und in der Schaubühne; zweitens um die Auftritte Grete Wiesenthals im Berliner Wintergarten im März 1913 in der Deutung durch Hans Brandenburg, der mit seinem 1913 erstmals erschienenen Band Der moderne Tanz zu den führenden Beobachtern des Ausdruckstanzes am Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte. 62 Die zwei im Duktus (und ganz sicher hinsichtlich einer potenziellen Leser: innen- 172 Marion Linhardt schaft) sehr unterschiedlichen Besprechungen der Pantomimen eint, dass beide die Tänzerin von der Pantomimendarstellerin Grete Wiesenthal (und damit letztlich von der Pantomime als solcher) trennen. 63 Die performativen Ebenen, die einander in dieser Argumentation gegenübergestellt werden, nehmen ihren Ausgang im ersten Fall von Affektivität - dies durchaus im Sinn von Urs Stähelis Modell populärer Kommunikation - , im zweiten Fall von Diskursivität. Fritz Stahl berichtete und kommentierte im Berliner Tageblatt: Als Grete Wiesenthal gestern abend den Straußischen Walzer „ Frühlingsstimmen “ tanzte, konnte sie den herzlichen Beifall hören, an den sie gewöhnt ist. Auf die Pantomime: „ Amor und Psyche “ , die vorhergegangen war, hatte er kühl und höflich geklungen, auf die Pantomime: „ Das fremde Mädchen “ , die folgte, blieb er so gut wie ganz aus. Das bedeutet: Die Tänzerin ist dieselbe geblieben, die sie war, von dieser Anmut der Bewegungen und des Tanzes, mehr noch der Bewegungen als des Tanzes, die nicht äußerlich ist, sondern aus schöner und reiner Empfindung fließt, und so hinreißend in ihrer Freude, in ihrem sinnlichen Jubel, weil man eine innig ernste Natur dahinter fühlt; aber die Pantomimen sind beide ganz und gar verunglückt. Es ist so peinlich das zu sagen, weil außer der Künstlerin, die uns lieb ist, noch ein Dichter an ihnen beteiligt ist, in dem wir einen hohen Wert verehren: Hugo v. Hoffmannsthal [! ]. [. . .] Hoffmannsthal hat ein Textbuch für diesen Abend geschrieben, in dem er über die Pantomime mit seiner Kunst gewählter Worte die feinsten Dinge sagt. Er zeigt sie, um es in ein Wort zu fassen, als die Erlöserin der Gebärde vom Worte, dem sie im Schauspiel fast immer zu dienen hat. Aber wohl gerade, weil sie das ist, ist er nicht ihr Dichter, denn seine Kraft ist die Sprache und nicht die Handlung. [. . .] Grete Wiesenthal strebt, wie so viele unserer Künstler, aus dem Gebiete heraus, das ihre Natur ihr angewiesen hat. Sie hält es für wertvoller, in Pantomimen zu spielen, als ihre einzelnen Tänze zu tanzen. [. . .] Wir aber sind ihrer Tänze gar nicht müde, in denen sich ihr Wesen viel freier und reicher ausspricht. Und wir möchten sie am liebsten wieder mit ihren Schwestern zusammen sehen, mit denen sie ihre ersten Erfolge erwarb und mehr als Erfolge. 64 Die Besprechung verknüpft drei argumentative Felder: Erstens werden dramaturgische Unzulänglichkeiten der Pantomimen Hofmannsthals kommentiert, und zwar mit Blick auf die Möglichkeiten dieses Genres im Allgemeinen und mit Blick auf Grete Wiesenthal als Darstellerin der Hauptfigur im Besonderen. Zweitens wird das tänzerischdarstellerische Vermögen Wiesenthals charakterisiert, das in der Äußerung ihrer „ Natur “ , ihres „ Wesens “ liegt, wofür es allerdings eines angemessenen Rahmens bedarf. Drittens - und dies bildet den Ausgangswie den Endpunkt der Ausführungen - geht es um die Aufnahme des konkreten Tanz-Programms durch das Publikum und damit zugleich um die prinzipielle Haltung des Publikums (auch des Autors) zu Wiesenthals Kunst. Das Publikum fühlt sich von jenen Programmteilen angesprochen, die unmittelbar affektiv wirken und verständlich sind, weil sich in ihnen, so darf man behaupten, die (angenommenen) Emotionen der Tänzerin und diejenigen der Zuschauenden begegnen. Die Schaubühne veröffentlichte eine Reflexion von Herbert Ihering zum Pantomimen- und Tanzabend: Grete Wiesenthal. Von ihr, nicht von Hofmannsthals Pantomimen muß gesprochen werden. Denn die Tänzerin hat gegen ihren Dichter gesiegt. Hofmannsthal rührt als Kunstdenker in seinem Aufsatz „ Ueber die Pantomime “ und in seinem Gespräch über „ Furcht “ mit andächtigen Worten an die letzten Geheimnisse des Tanzes, der Gebärden, der Bewegungen; als Schöpfer aber hat er vor der Pantomime versagt, weil es ihm an 173 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? konkreter Phantasie, an Mut zur Sachlichkeit fehlt. Wer eine Pantomime schreibt, muß Bühnenanweisungen schreiben, nicht metaphysische Stammeleien. [. . .] Hofmannsthal [. . .] hat eine Unterlage in „ Amor und Psyche “ für konventionelle Ballettänze, im „ Fremden Mädchen “ für mimische Statistenkünste geschaffen und so Grete Wiesenthal eher gehemmt als erlöst. Nur in zwei Szenen ist der Tanz als seelische Befreiung und damit als dramatisches Ausdrucksmittel empfunden: Psyche will sich von den Schatten der Unterwelt lösen und: das fremde Mädchen tanzt vor dem unbekannten Manne. [. . .] Wie Grete Wiesenthal [. . .] immer jubelnder im Rhythmus ihres Körpers sich befreit - das hat für mich, gerade weil diese Erlösung sich so ohne Krampf und irdische Schwere nur im Fließen und Wiegen eines kinderschlanken Körpers andeutet, etwas so Erschütterndes, daß nur die größten schauspielerischen Leistungen daneben bestehen können. Und wenn Grete Wiesenthal in ihren Einzeltänzen, im „ Frühlingsstimmenwalzer “ und in der „ Schönen, blauen Donau “ noch freier, körperloser, unmaterieller zu schweben scheint, so erklärt sich das allein daraus, daß eine beflügeltere Musik ihr Inneres reiner aufblühen läßt als die schwerfälligen, gequälten Weisen der Pantomimenkomponisten [. . .]. 65 Wie bei Fritz Stahl ist auch bei Ihering die tanzende und nicht die agierende Grete Wiesenthal dasjenige künstlerische Ereignis, an das das Interesse, das ‚ Mitgehen ‘ des Publikums sich bindet. Noch prononcierter als Stahl formuliert Ihering die Möglichkeit zur tanzenden Äußerung des „ Inneren “ Wiesenthals in Abhängigkeit von der verwendeten Musik. Ihering erwähnt nicht nur den Frühlingsstimmen-Walzer, der tatsächlich Teil des Programms war, sondern darüber hinaus den Walzer An der schönen blauen Donau, den Wiesenthal über Jahre und in verschiedensten Kontexten immer wieder gezeigt hatte. Was Ihering den „ gequälten Weisen “ Rudolf Brauns und Hannes Ruchs gegenüberstellt, ist dezidiert der Walzer, sind Kompositionen von Johann Strauss. Popularität erlangt der moderne Tanz Wiesenthals, wo er den künstlerisch geformten Ausdruck „ des Seelischen “ an Wiener Musik bindet, die ihm gleichsam als Mittel affektiver Kommunikation dient. In seiner grundlegenden Darstellung zum „ modernen Tanz “ überschreibt Hans Brandenburg die acht Kapitel, die konkreten Tänzer: innenpersönlichkeiten gewidmet sind, mit einer einzigen Ausnahme stets nur mit dem Namen des / der jeweiligen Tänzer: in. 66 Diese Ausnahme bildet das Kapitel über die Schwestern Wiesenthal. Dort lautet die Kapitelüberschrift: „ Der Walzer und die Schwestern Wiesenthal “ . Und tatsächlich spricht Brandenburg in seinem Text nur zum geringen Teil explizit über die Schwestern Wiesenthal. Ein erster großer Abschnitt ist der Tänzerin Fanny Elßler gewidmet. Die Art und Weise, wie Brandenburg Elßler und ihren Tanz, den von ihr ausgelösten internationalen Rausch, die tief, jenseits einer extremen Körperbeherrschung liegenden Ursachen für ihre immense Wirkung, wie er vor allem ihre Persönlichkeit, ihre „ seelische Macht “ beschreibt und wie er die Bedeutung ihrer Herkunft aus Wien herausstellt, erweist sich in der Conclusio als Charakterisierung, die sich so auch auf die Wiesenthals beziehen lässt: Nicht zuletzt aber bleibt die Lauterkeit und Wärme ihrer edlen Persönlichkeit ein zeitlos voranleuchtender Stern für alle, die auf neue und wandelbare Art das Ziel erstreben, im Tanze sich und andere zu befreien. Wer aber im Tänzerschritte aus Wien her kommt, dem vor allem sollen die guten Geister des Bodens, der Fanny Elsslers Heimat war, hold sein, damit sie sich reiner und befreiter von Irrtum und Mode, neu uns offenbaren. Ich denke an die Schwestern Wiesenthal. 67 Ein zweiter großer Abschnitt des Kapitels behandelt den Walzer in seiner tänzerischstilistischen Entwicklung, als kulturelle Er- 174 Marion Linhardt scheinung sowie hinsichtlich soziologischer Implikationen. 68 Das Scharnier, mit dem Brandenburg - spät - zu den Wiesenthals lenkt, bilden die Walzer-Musik sowie die Idee einer Adaption des bislang „ bloß Sozietären “ als Kunst. 69 Der dritte Abschnitt wendet sich, so scheint es, endlich den Wiesenthals selbst zu, doch schon nach wenigen Bemerkungen schwenkt Brandenburg auf ein neues Thema um, nämlich auf Max Reinhardt und das moderne Theater im Widerstreit von künstlerischer Innovation und den Notwendigkeiten des Geschäftstheaters. Den Ausgangspunkt bildet hier das Auftreten der Schwestern Wiesenthal in Friedrich Freksas Pantomime Sumurûn (vgl. Abb. 12). Daran schließen sich grundlegende darstellungsästhetische Reflexionen zum Theater der Moderne an, in denen Brandenburg die unverzichtbare Orientierung und Schulung von Schauspiel und Tanz an der jeweils anderen Kunst hervorhebt. Im Zentrum der eigentlichen, nicht sehr umfangreichen Auseinandersetzung Brandenburgs mit den Wiesenthal-Schwestern steht der Walzer: als jener Tanz, der „ aus Natur, aus Impuls und Emotion “ 70 ströme, als konkret beschriebene Choreografie am Beispiel von Rosen aus dem Süden und An der schönen blauen Donau, als Ereignis, das Zugehörigkeit stiftet und künstlerischem Tun der Moderne Popularität verleiht: Wer aus dem eigenen Gefühl, das er beim Tanzen hat, die höchste Möglichkeit eines „ freien “ und „ offenen “ Walzers als Ahnung und Sehnsucht kennt, der konnte hier deren eigentlichste Erfüllung erleben. Die unsichtbare Form, die über der Tanzlust einer rein triebhaften Massenbewegung viele Generationen hindurch schwebte, wurde sichtbar in einem Reichtum von Formen, die alle doch durch den konzentrierenden Rhythmus des Dreivierteltaktes gemeistert waren. Ein altes, gesellschaftliches Empfinden individualisierte sich in Kunst, welche durch diese ihre Herkunft doch typisch und allgemeinverständlich ist. 71 Brandenburg endet mit Bewertungen der Kunst Elsa und Berta Wiesenthals auf der einen, Grete Wiesenthals auf der anderen Seite. Von den Auftritten der beiden jüngeren Schwestern seit der Trennung von Grete zeigt er sich enttäuscht. Die Ausführungen zu Grete, in denen das Kapitel kulminiert, beziehen sich auf deren aktuelle Auftritte im Berliner Wintergarten (März 1913), wo Wiesenthal wieder den Frühlingsstimmen- Walzer, die 2. Ungarische Rhapsodie und An Abb. 12: Grete Wiesenthal als Sumurûn und Elsa Wiesenthal als Dienerin in der Pantomime Sumurûn von Friedrich Freksa (Musik: Victor Hollaender; Inszenierung: Max Reinhardt; Choreografie: Grete Wiesenthal). Berlin 1910. Fotografie: Becker & Maaß, Berlin. Postkarte: Verlag Hermann Leiser, Berlin. Privatbesitz. 175 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? der schönen blauen Donau gezeigt hat. Den Kern von Brandenburgs Charakterisierung bilden hier Argumente, in denen mit Stäheli Funktionsweisen populärer Kommunikation greifbar werden: Die weitwirkende, volkstümliche Kraft, die ein Uhland oder Eichendorff durch ihren Anschluß an das Volkslied erreichen, hat hier der Kunsttanz durch den Anschluß an den Walzer erreicht. [. . .] Populäreres wird Grete Wiesenthal wohl niemals schaffen, vielleicht gelingt ihr noch Größeres, ob auch der Grad der Volkstümlichkeit in gewissem Sinne, so leicht dieser Sinn mißverstanden wird, ein Grad der Größe ist. 72 Grete Wiesenthal und ihre Kunst der Bewegung repräsentieren in mehrerlei Hinsicht - mindestens tanzästhetisch, im zugrunde liegenden Körperverständnis und in der Unabhängigkeit von etablierten Kulturinstitutionen - das, was für die historische Avantgarde als kennzeichnend gilt. Obwohl sie also eine „ Moderne “ war, verfügte Wiesenthals Tanz über das Potenzial, ihre Kunst emotional und sozial breiter anschlussfähig zu machen. Dieses Potenzial ist gleichsam geronnen zu dem über Jahrzehnte geläufigen, vielfach reproduzierten Topos „ Grete Wiesenthal, Inbegriff des Wienerischen “ , in den Epitheta des „ Beseelten “ , des „ Holden “ . Hinter diesem Topos und den damit verbundenen, immer weiter tradierten Zuschreibungen verfließen wie hinter einem Nebel die historischen, biografischen und künstlerischen Gegebenheiten, die diese Anschlussfähigkeit - als Beziehung - begründeten. Sowohl die Kategorie des Belonging als auch Urs Stähelis Konzept von Popularität bzw. populärer Kommunikation erlauben einen spezifischen Zugriff auf diese Gegebenheiten. Beiden Perspektiven ist gemein, dass sie die Grenze(n) zwischen sozialen Gruppen und damit Zugehörigkeiten als dynamisch und verhandelbar auffassen, wobei sich der Blick im ersten Fall wesentlich auf das Verhältnis zwischen Individuen und Kollektiven 73 , im zweiten Fall auf das Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Kollektiven (Publika) richtet. Die Laufbahn Grete Wiesenthals und ihre Inbesitznahme durch ein weites „ Publikum “ zeigt, wie Zugehörigkeit (auch) vonseiten des Kollektivs vollzogen (und konstruiert) wird. Von der Warte von Stähelis Thesen zu populärer Kommunikation aus betrachtet, erweist sich dieser Prozess ebenfalls als einer, in dem in Gestalt der Künstlerin und derjenigen der Rezipient: innen zwei Positionen wirksam werden. Über eine Analyse der Mittel dieser Kommunikation eröffnen sich Einsichten in die Möglichkeit und Konstitution von Zugehörigkeit. 74 Anmerkungen 1 A[rtur] M[ichel], „ Grete Wiesenthal “ , in: Vossische Zeitung, 31.10.1924 (Abendblatt), S. [3]. 2 Als die prominentesten seien hier genannt: Loïe Fuller, Isadora Duncan und Ruth St. Denis, sämtlich Amerikanerinnen, von denen entscheidende Impulse für die Etablierung des Freien Tanzes in Mitteleuropa ausgingen. 3 Gabriele Brandstetter / Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), Mundart der Wiener Moderne. Der Tanz der Grete Wiesenthal, München 2009. - Mit Wiesenthal im Kontext der Wiener Moderne hat sich neuerdings in knapperer Form auch Alys George auseinandergesetzt: Alys X. George, The Naked Truth. Viennese Modernism and the Body, Chicago / London 2020, dort Kap. 4. 4 Paul Zifferer, „ Grete Wiesenthal “ , in: Neue Freie Presse, 5.1.1912, S. 1 - 3, hier S. 1. 5 Vgl. dazu Levke Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ (25.1.2022) auf Hypotheses / Geschichtstheorie am Werk, https: / / gtw.hypotheses.org/ 1942 [Zugriff am 10.3.2023]. 176 Marion Linhardt 6 Die Ausführungen zu den Stationen 1 - 10 argumentieren bewusst pointiert und ausschließlich mit Blick auf die Frage der Zugehörigkeit. Ein relativ umfangreicher Anmerkungsapparat will im Folgenden Zusatzinformationen und - wo möglich - Belege und Quellen bereitstellen, auf die in älteren Arbeiten zu Wiesenthal teils verzichtet wurde. 7 Grete Wiesenthal, Der Aufstieg. Aus dem Leben einer Tänzerin, Berlin 1919. 8 Eine eingehende Analyse der Textstrategien der Autobiografie, die der Deutung von Wiesenthals Kindheit und Jugend dienen, liegt vor mit: Thomas Betz, „ Initiationen in die Kunst. Grete Wiesenthals Der Aufstieg. Aus dem Leben einer Tänzerin (1919) und Iffi. Roman einer Tänzerin (1951) “ , in: Mundart der Wiener Moderne, S. 177 - 207. 9 Vgl. dazu Wiesenthal, Der Aufstieg, S. 10 f. 10 Jahre, bevor sie ihre Kindheitserinnerungen in ihrer Autobiografie niederschrieb, formulierte Grete Wiesenthal zentrale Überlegungen zu Musik und zum Umgang mit ihr in einem Beitrag für den Merker. Grete Wiesenthal, „ Unsere Tänze “ , in: Der Merker 1 (1909/ 10), H. 2, S. 65 - 68, hier S. 67 f. 11 Als solche empfand Wiesenthal die kodifizierte und daher gleichförmige Bewegungssprache des Balletts. 12 Niemand hat so substanziell zum Ballett an der Wiener Hofoper im 19. und frühen 20. Jahrhundert gearbeitet wie Gunhild Oberzaucher-Schüller und Alfred Oberzaucher. Beispielhaft seien hier die Beiträge von Oberzaucher-Schüller angeführt, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Grete Wiesenthal stehen: Gunhild Oberzaucher- Schüller, „ Wiener Walzer, ‚ illustriert in drei Bildern von Louis Frappart ‘ , und Grete Wiesenthal “ , in: Mundart der Wiener Moderne, S. 67 - 86; dies., „ Der Tanz der Grete Wiesenthal oder Bewegung in Zeit und Ort “ , in: ebd., S. 87 - 102. 13 Vgl. https: / / anno.onb.ac.at/ cgi-content/ an no? aid=ope&datum=19050416&seite=1&zo om=33 [Zugriff am 10.3.2023]. 14 Vgl. dazu Wiesenthal, Der Aufstieg, S. 168 f. 15 Duncan war 1902 im Ausstellungsgebäude der Secession (Februar) sowie im Französischen Saal des Künstlerhauses (April), 1903 (März und April) sowie 1904 (Januar) im Carltheater aufgetreten. In ihrer Autobiografie betont Wiesenthal, selbst keine Vorstellungen von Isadora Duncan besucht, sondern lediglich einen Zeitungsartikel über sie gelesen zu haben. Angesichts der Tatsache, dass Duncan bei ihrer zweiten Gastspielserie des Jahres 1903 (April) einen „ Chopin-Abend “ zeigte, sind die Wege der Duncan-Rezeption in Wiesenthals Umfeld gleichwohl von einem gewissen Interesse. Duncans Auftritte des Jahres 1902 fanden jeweils vor einem kleinen geschlossenen Kreis von Künstlern, Mitgliedern des Adels und der gesellschaftlichen und intellektuellen Elite Wiens statt. Darunter waren die Frauenrechtlerin Marie Lang, die Mutter von Grete Wiesenthals späterem Ehemann Erwin Lang, sowie ihr Sohn Heinrich Lang, ein enger Freund Rudolf Hubers, des späteren Ehemannes von Elsa Wiesenthal. Marie Lang veröffentlichte am 15. Februar 1902 in der von ihr mitherausgegebenen Zeitschrift Dokumente der Frauen unter dem Titel „ Offenbarung “ (S. 636 - 638) einen euphorischen Artikel über die Duncan. Im Jahr 1903 folgten öffentliche Vorstellungen der Duncan im Carltheater (einem Operettentheater), wo ihre Art zu tanzen teilweise auf Interesse stieß, teilweise aber auch Ablehnung und Unverständnis hervorrief. Zu den nicht völlig von Duncans Tanz überzeugten Besucher: innen einer dieser Vorstellungen gehörte Rudolf Huber. Trotzdem Isadora Duncan Huber bei dieser Gelegenheit nach seinem eigenen Bekunden nicht zu berühren vermochte, gab die Erinnerung an sie einen Anstoß zu Ratschlägen an Grete und Elsa Wiesenthal im Hinblick auf deren Versuche, erste eigene Tänze zu erproben. Vgl. Rudolf Huber-Wiesenthal, Die Schwestern Wiesenthal. Ein Buch eigenen Erlebens, Wien 1934, S. 76 - 78. - Einige Chopin-Nummern fanden sich übrigens auch im Tanzprogramm von Maud Allan, die damit erstmals am 24. November 1903 im Kleinen Saal des Wiener Musikvereins auftrat. 177 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? 16 Das Atelier befand sich in der Taubstummengasse Nr. 2 im 4. Wiener Gemeindebezirk. 17 Zu den Teilnehmenden an diesen Atelier- Veranstaltungen gehörte wohl von Anfang an Alfred Roller, später auch Hugo von Hofmannsthal, dies wahrscheinlich ab November 1907, worauf jedenfalls der bekannte Brief Hofmannsthals an Grete Wiesenthal vom 7. November 1907 deutet (Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1900 - 1909, Wien 1937, S. 295 f.). Bereits kurze Zeit nach der ersten Begegnung mit den Schwestern Wiesenthal begann Hofmannsthal sich für sie und ihre Vorhaben als freie Tänzerinnen einzusetzen, wie ein Brief Hofmannsthals an Roller von Ende Dezember 1907 belegt (Hugo von Hofmannsthal, Alfred Roller, Richard Strauss, „ Mit dir keine Oper zu lang . . . “ Briefwechsel, hg. von Christiane Mühlegger-Henhapel und Ursula Renner, München / Salzburg 2021, S. 56). 18 Bei der Uraufführung in Paris 1828 war die Partie der Fenella von der gefeierten Ballerina Lise Noblet gegeben worden. 19 Vgl. https: / / anno.onb.ac.at/ cgi-content/ an no? aid=ope&datum=19070227&seite=1&zo om=33 [Zugriff am 10.3.2023]. 20 Vgl. u. a.: Neue Freie Presse, 28.2.1907, S. 11; Deutsches Volksblatt, 28.2.1907, S. 9; Wiener Zeitung, 28.2.1907, S. 5; Der Humorist, 2.3.1907, S. 2. Ausgesprochen positiv kommentierte die Arbeiter-Zeitung (David Josef Bach) das Auftreten Wiesenthals, 28.2.1907, S. 1 - 2. - Der Zusammenhang zwischen der politischen Verortung der einzelnen Zeitungen und Zeitschriften und den entsprechenden Reaktionen auf Wiesenthal wäre ein eigenes Thema. 21 Einen Eindruck von der im Vergleich zur überschlanken Grete Wiesenthal ganz verschiedenen äußeren Erscheinung Kamilla Weigangs vermittelt ein Rollenporträt, das Weigang in der Pantomime Marionettentreue von Rudolf Holzer, Rudolf Braun und Carl Godlewski zeigt. Marionettentreue hatte am 17. Oktober 1906 Premiere und wurde bis Ende 1907 an der Hofoper gespielt. Vgl. https: / / www.theatermuseum.at/ online-samm lung/ detail/ 583175/ [Zugriff am 10.3.2023]. 22 Neues Wiener Journal, 7.3.1907, S. 7. 23 Die Mitgliedschaft der Schwestern Wiesenthal im Hofopernballett endete mit dem 31. Mai 1907. 24 Die zeitgenössische Presseberichterstattung bietet detaillierte Listen der anwesenden Persönlichkeiten und beschreibt insbesondere die Aktivitäten der Damen der Gesellschaft. 25 Mit Arthur Schnitzler und Wsewolod E. Meyerhold seien hier lediglich zwei Künstler genannt, unter deren Arbeiten sich prominente Beispiele für diese Tendenz finden. 26 Vgl. den Programmtext in der bereits Wochen vor der Eröffnung der Fledermaus erschienenen Broschüre. Nachdruck in: Michael Buhrs / Barbara Lesák / Thomas Trabitsch (Hg.), Kabarett Fledermaus 1907 - 1913. Ein Gesamtkunstwerk der Wiener Werkstätte. Literatur, Musik, Tanz. Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung des Museums Villa Stuck, München, und des Österreichischen Theatermuseums, Wien. Wien 2007, S. 155 - 170. Umfangreiche Materialien zur Fledermaus sind abrufbar in der Online- Sammlung des Theatermuseums in Wien, vgl. u. a. https: / / www.theatermuseum.at/ on line-sammlung/ detail/ 545803/ , https: / / www. theatermuseum.at/ online-sammlung/ detail/ 5 45813/ , https: / / www.theatermuseum.at/ on line-sammlung/ detail/ 545860/ [Zugriff am 10.3.2023]. 27 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Erinnerungen Rudolf Hubers an das Publikum jener Aufführungen in der Fledermaus, die auf die als geschlossene Veranstaltung abgehaltene Generalprobe folgten: „ Die erste öffentliche Vorstellung war ausverkauft. [. . .] Nun interessierte mich vor Beginn der Vorstellung die Art des Publikums. Zu meinem Staunen kannte ich nur ganz wenige unter den Zuschauern. Ich suchte nach Kolleginnen Gretes und Elsas aus dem Ballett, aber - ich sah niemanden. Kurz und gut - es war fast niemand aus den Kreisen gekommen, auf die wir so fest gerechnet hatten; dagegen waren die Logen und ein Teil des Parketts von Mitgliedern eines Kreises besetzt, zu dem 178 Marion Linhardt niemand von uns Verbindung besaß und an den wir auch nicht im geringsten gedacht hatten - von Mitgliedern der Hocharistokratie, zu deren Interesse vielleicht Hugo von Hofmannsthal den ersten Anstoß gegeben hatte. Vor der Vorstellung stand in der engen Johannesgasse, in der die ‚ Fledermaus ‘ gelegen war, eine lange Reihe von Wagen, die in Wien jener Zeit Aufsehen erregen mußte. [. . .] Und es blieb so während der ganzen Reihe von Vorstellungen. Die Logen waren jedesmal von den Angehörigen der gleichen Schichte im voraus bestellt. “ Huber- Wiesenthal, Die Schwestern Wiesenthal, S. 123. 28 Für eine Abbildung vgl. https: / / www.theater museum.at/ online-sammlung/ detail/ 497373/ [Zugriff am 8.3.2023]. 29 c. h., „ Die Schwestern Wiesenthal “ , in: Die Zeit, 15.1.1908, S. 4. - Vgl. zu diesem Themenfeld: Marion Linhardt, „ Zwischen Moderne und Populärkultur. Das ‚ Wienerische ‘ der Grete Wiesenthal “ , in: Mundart der Wiener Moderne, S. 41 - 56. 30 Bemerkenswert ist, dass und wie Rudolf Huber am Beispiel der Familie Wiesenthal „ echte Wiener “ über Multiethnizität charakterisiert (was er selbstverständlich in zeittypischer Terminologie tut). Huber-Wiesenthal, Die Schwestern Wiesenthal, S. 87 f. 31 Wiener Zeitung, 3.3.1909, S. 3. 32 Stefan Großmann, „ Die Schwestern Wiesenthal “ , in: Arbeiter-Zeitung, 5.3.1909, S. 1 - 2, hier S. 1. 33 Vgl. zur Kunstschau ausführlich Agnes Husslein-Arco / Alfred Weidinger (Hg.), Gustav Klimt und die Kunstschau 1908. Begleitpublikation zur Ausstellung der Österreichischen Galerie Belvedere, Wien 2008/ 09. München / Berlin / London / New York [2008]. 34 - dtner, „ Gartentheater der ‚ Kunstschau ‘“ , in: Neuigkeits-Welt-Blatt, 1.7.1908, S. 13. 35 Musik: Franz Schreker, Tanzregie: Elsa Wiesenthal. 36 Vgl. die Holzschnitte „ Der Wind “ (https: / / www.theatermuseum.at/ online-sammlung/ d etail/ 708101/ ) und „ Pantanz “ (https: / / www. theatermuseum.at/ online-sammlung/ detail/ 708100/ [Zugriff am 14.3.2023]) von Erwin Lang, 1910. 37 Neues Wiener Journal, 3.3.1909, S. 7. 38 Sumurûn wurde im April 1910 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters uraufgeführt, Amor und Psyche sowie Das fremde Mädchen im September 1911 im Theater in der Königgrätzer Straße. - Vgl. zur Entstehung der beiden letztgenannten Stücke und zum Verhältnis zwischen Wiesenthal und Hofmannsthal im kreativen Prozess die umfangreiche Dokumentation in: Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. XXVII: Ballette. Pantomimen. Filmszenarien, hg. von Gisela Bärbel Schmid und Klaus-Dieter Krabiel, Frankfurt a. M. 2006. - Sumurûn könnte Ausgangspunkt einer intersektionalen Analyse einiger von Grete Wiesenthal in Pantomimen, Tanzstücken und Filmen dargestellten Figuren sein. Während dabei vor dem Hintergrund kultureller Konstruktionen des ‚ Orients ‘ in Wien und im Habsburgerreich in Historismus und Moderne vordringlich mit Race als Differenzkriterium zu argumentieren wäre, stellen Choreografien wie das Ballett Der Taugenichts in Wien (1930), aber auch die Tänze nach den Rosenkavalier-Walzern (1917) und der Tanz Der Liebesnarr (1918), die gleichsam Androgynität inszenieren, primär Fragen von Gender(-zugehörigkeit) zur Debatte. Wesentlich für die Argumentation des vorliegenden Beitrags ist allerdings ein anderes: Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit im Sinn von Volkstümlichkeit bzw. Popularität konstitutiert sich am tanzenden Körper „ Grete Wiesenthal “ , der bei den entsprechenden „ Performances “ gerade keine „ Figur “ / „ Rolle “ annimmt. 39 Vgl. zum Verlauf des Gastspiels im Apollo die Erinnerungen von Rudolf Huber: Huber- Wiesenthal, Die Schwestern Wiesenthal, S. 169 f. 40 Der Floh, 6.3.1910, S. 6. - Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Heinz Hartmann, der im Merker nach einer quasi privaten Voraufführung eine begeisterte Besprechung des Stücks veröffentlichte, die Problematik der Unvereinbarkeit von künstlerischer Pantomime und Varieté bereits 179 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? thematisiert. „ Franz Schrekers Pantomime ‚ Der Geburtstag der Infantin ‘ wurde von den Schwestern Wiesenthal im Apollotheater getanzt. Mit dieser frohen, leichten Grazie getanzt, der die Umwelt nicht zu bestehen scheint und deshalb, ohne innerlichen Schaden zu leiden, in eine Atmosphäre verpflanzt werden konnte, die fast nur Bejahung der Zuschauer ist. Die Frage nach der Berechtigung dieses merkwürdigen Experiments - ein unerhörtes künstlerisches Ereignis auf einer Varietébühne - ist wohl müßig. Freuen wir uns vielmehr, daß es den Wiesenthals gelungen ist, in einer Umgebung von Akrobaten, Marschrhythmen und Dressurhunden eine halbe Stunde wirklichen Erlebens vorbeiziehen zu lassen. [. . .] Musikalische Feinschmeckerarbeit. Wie das Tanzspiel auf ein Durchschnittspublikum wirken wird, weiß ich nicht, fürchte aber, daß die Kunst der Wiesentals [! ] und Franz Schrekers viel zu hoch und vornehm ist, um bei vollen Tellern und Gläsern genossen werden zu können. “ Heinz Hartmann, „ Der Geburtstag der Infantin “ , in: Der Merker 1 (1909/ 10), H. 13, S. 565 - 567. 41 Reichspost, 4.3.1910, S. 8. 42 Bei Chantecler in Wien handelte es sich um eine als „ Ballettoperette “ angekündigte Parodie auf Edmond Rostands erst kurz zuvor, im Februar 1910, in Paris uraufgeführtes Stück Chantecler; der Text stammte von Armin Friedmann alias Fanfaron, die Musik von Rudolf Raimann. 43 Zifferer, „ Grete Wiesenthal “ , S. 1. 44 Hier als Rappelkopf oder Alpenkönig und Menschenfeind; Premiere: 18. Januar 1915. 45 Den „ Brauttanz “ zeigte Wiesenthal u. a. auch im Frühjahr 1917 im Großen Saal des Wiener Konzerthauses. Eine detailreiche und in dieser Ausführlichkeit eher rare Beschreibung dieser Choreografie findet sich in Raoul Auernheimers Feuilleton „ Eine Wiener Tänzerin im Kriege “ in: Neue Freie Presse, 11.3.1917, S. 1 - 3. 46 Zu Grete Wiesenthals und Hugo von Hofmannsthals Filmprojekten vgl. ausführlich: Heinz Hiebler, Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne, Würzburg 2003. Zum weiteren Kontext vgl. Kristina Köhler, Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz, Marburg 2017. 47 E[lisabeth] v[on] Schmidt-Pauli, „ Grete Wiesenthal “ , in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, 14.2.1915, S. [2]. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Elisabeth von Schmidt-Pauli war zutiefst religiös. Im freundschaftlichen Austausch über Schmidt-Paulis Wiesenthal-Text hat Matthias Pernerstorfer Überlegungen zu einer konkreten Anbindung der von Schmidt- Pauli angesprochenen Örtlichkeiten angestellt. Die Linie Stephansdom (Wien) - Heiligenkreuz - Mayerling, die in den Gedanken des „ österreichischen Offiziers “ greifbar wird, ließe sich im Sinn der Via Sacra bis zum Gnadenort Mariazell verlängern, in dem man Matthias Pernerstorfer zufolge den vom „ Dichter “ im Traum geschauten „ weißen Tempel [. . .] in einem stillen Wiesengrunde, von Bergen feierlich umschlossen “ vermuten könnte. In gewisser Weise liegt Schmidt-Paulis Text also eine sakrale Topografie zugrunde. 53 „ Oft bricht in eine leistende Entfaltung / das Schicksal ein “ , in: Rainer Maria Rilke, Die Gedichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 1012 f. - Vgl. zur Widmung den Brief Grete Wiesenthals an Klaus W. Jonas vom 20.6.1963, https: / / www.autographen.shop/ autograph/ theater-und-film/ rilke-wiesenthal-grete-taen zerin-und-choreographin-1885 - 1970/ [Zugriff am 15.3.2023]. 54 Eigens zu erörtern wäre die Frage, wie und in welchen Bevölkerungskreisen Wiens sich die Bekanntheit Wiesenthals durch die Aufführung ihrer Filme ab 1913 erhöhte. 55 Urs Stäheli, „ Das Populäre als Unterscheidung - eine theoretische Skizze “ , in: Gereon Blaseio / Hedwig Pompe / Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 146 - 167. 56 Ebd., S. 154. 57 Ebd., S. 158. 58 Ebd., S. 157. 59 Vgl. ebd., S. 158 f. 60 Ebd., S. 160. 180 Marion Linhardt 61 Vgl. ebd., S. 160 - 162. 62 Zu Brandenburg als Kommentator des Freien Tanzes vgl. Jacobien de Boer, „‚ Sie lieber Hans Brandenburg ‘ . Gertrud Leistikow and Hans Brandenburg “ , in: Dance Research 34 (2016), No. 1, S. 30 - 46. 63 Bei den hier folgenden Überlegungen zur Bewertung von Wiesenthals Auftreten in Hofmannsthals Pantomimen geht es nicht um den Misserfolg dieses Tanzabends oder um die kritische Position des jeweiligen Rezensenten, sondern um die grundsätzliche Einordnung Wiesenthals als Tänzerin, die sich in dieser oder ähnlicher Form in vielen Kommentaren findet. Vgl. dazu u. a. Alfred Kerr, „ Grete Wiesenthal “ (17. September 1911), in: ders., Die Welt im Drama, Bd. V: Das Mimenreich, Berlin 1917, S. 480 - 482. 64 F[ritz] St[ahl], „ Pantomimen. Theater in der Königgrätzer Straße “ , in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, 16.9.1911, S. [2]f. 65 Herbert Ihering, „ Grete Wiesenthal “ , in: Die Schaubühne, 28.9.1911, S. 274 f. 66 Hans Brandenburg, Der moderne Tanz, München [1913]. 67 Ebd., S. 23. 68 Auf Brandenburgs Ausführungen zum Walzer hat bereits Gunhild Oberzaucher-Schüller hingewiesen. Vgl. Oberzaucher-Schüller, „ Wiener Walzer, ‚ illustriert in drei Bildern von Louis Frappart ‘ , und Grete Wiesenthal “ , S. 86. 69 Vgl. Brandenburg, Der moderne Tanz, S. 26. 70 Ebd., S. 29. 71 Ebd., S. 30. 72 Ebd., S. 31. 73 Vgl. dazu Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ . 74 Gerne verweise ich an dieser Stelle auf ein aktuelles Forschungs- und Tanzprojekt zu Grete Wiesenthal, das unter der Leitung von Andrea Amort an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien erarbeitet und im März / April 2023 in Wien gezeigt wurde. Zum Konzept schreibt Andrea Amort: „ In dem Tanzabend ‚ Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung ‘ versuchen wir das tanztechnisch unterschiedlich tradierte Bewegungsvokabular der Grete Wiesenthal auf seine Tauglichkeit für zeitgenössische Tänzerinnen / Choreografinnen zu testen, es uns anzueignen und eigenkreativ in Soli weiterzuführen. Thematisch interessiert uns u. a. der Begriff der Glückseligkeit, der Wiesenthals Tänzen und dem Charisma ihrer Schöpferin oft zugeschrieben wurde und der im rauschartigen Drehmoment seinen Anfang nehmen kann. “ (Email vom 27.3.2023) Vgl. dazu https: / / br ut-wien.at/ de/ Programm/ Kalender/ Pro gramm-2023/ 03/ Andrea-Amort [Zugriff am 6.7.2024]. Vgl. ferner Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung. Programmheft brut nordwest / Lebendiges Tanzarchiv Wien, März / April 2023. 181 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär?
