eJournals Forum Modernes Theater 35/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2024-0014
0120
2025
351-2 Balme

Noémie Ndiaye. Scripts of Blackness. Early Modern Performance Culture and theMaking of Race. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2022, 376 Seiten.

0120
2025
Peter W. Marx
fmth351-20194
Rezensionen Noémie Ndiaye. Scripts of Blackness. Early Modern Performance Culture and the Making of Race. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2022, 376 Seiten. Der Begriff der Dekolonialisierung ist mittlerweile so sehr in den Alltagsdebatten und politischen Auseinandersetzungen unserer Tage angekommen, dass die eingenommenen Positionen mithin weniger von einer sachlichen Auseinandersetzung geprägt zu sein scheinen, als dass sie vielmehr zu einem Erkennungszeichen politischer Haltungen werden. Dabei gefährden vor allem konservative und rechtskonservative Positionen aus einem Geist grundsätzlicher Gegnerschaft zu dem, was diffamierend als „ woke “ bezeichnet wird, auch ehedem konsensuale Positionen. Dabei hat die Debatte Deutschland vergleichsweise spät erreicht, weil hierzulande allzu leichtfertig die vermeintlich nur marginale Kolonialgeschichte Deutschlands als Begründung einer grundsätzlichen „ Nicht-Zuständigkeit “ heranzitiert wurde. Dass dies historisch wie gegenwärtig falsch ist und selbst eine alarmierend simplifizierende Haltung mit eindeutigem politischem Interesse ist, tritt an vielen Stellen deutlich zu tage. Drängend aber bleibt die Frage, wie es eigentlich die Kulturwissenschaften mit dieser Anrufung halten, wenn sie nicht einfach durch eilfertiges Zitieren anerkannter postkolonialtheoretischer Theoretiker: innen abgetan werden soll. Hier offenbart sich tatsächlich ein substanzieller Nachholbedarf für die Forschung. Zwar wird etwa von Seiten der Jüdischen Studien - etwa durch Shulamit Volkov - schon seit langem eine historiografische Neuorientierung gefordert, eine entsprechende Einlösung steht mithin noch aus. Umso wichtiger ist der Blick auf den internationalen Forschungsdiskurs, in dem schon seit Längerem Positionen formuliert werden, die grundsätzliche Bedeutung haben. Das vorliegende Buch von Noémie Ndiaye ist ein solcher Meilenstein. Es handelt sich um ein wichtiges Buch, das zentrale Begriffe formuliert und in methodischer Hinsicht Maßstäbe für künftige Forschungen setzt. Dabei ist es hilfreich, sich die Größe des Unterfangens einer Dekolonialisierung oder Diversifizierung der Kulturgeschichte vor Augen zu führen. Hier seien nur zwei entscheidende Arbeiten genannt: 2008 hat Imtiaz Habib mit seiner Studie Black Lives in the English Archive, 1500 - 1677 (Routledge 2008; 2020) ein Standardwerk vorgelegt, das in akribischer Archivarbeit die Präsenz Schwarzer Menschen im England der Frühen Neuzeit aufzeigt. Gleichzeitig formulierte Habib Ansätze für eine Neudeutung von Archivarbeit, um die durch hegemoniale Strukturen erzeugte Unsichtbarkeit aufzubrechen. Olivette Otele wiederum hat in ihrer Studie African Europeans. An Untold Story (Hurst & Co. 2020) die Grundzüge afro-europäischer Biografien und die Konstellationen, in denen sie stehen, von der Spätantike bis in die Gegenwart nachvollzogen. Dabei wird schnell deutlich, wie sehr die Abwesenheit oder besser Unerwähntheit afroeuropäischer Menschen auch Folge der Konstruktion von Nationen als ethnisch homogener Entitäten ist. Noémie Ndiaye nun legt eine Studie vor, die sich explizit in den Horizont der Theatre/ Performance History stellt. Dies prägt sowohl die Gegenstände ihrer Untersuchung als auch ihre methodische Herangehensweise. Diese ist von einer beispielhaften theoretischen Klarheit, so dass schon die Einleitung ein ganz eigenständiges historiografisches Progamm aufstellt, wenn sie ihren Ausgangspunkt benennt: „ In this book, I ask: what did performative blackness do for early modern Europeans? “ (3) Damit wird Blackness als kulturelle Konstruktion begriffen, die aber nicht einfach nur als semiotisch-ästhetisches Phänomen begriffen wird oder im Hinblick auf die Legitimität von Darstellungen, sondern als ein grundsätzlich machtpolitisches Phänomen: „ Race is not the same thing in the fifteenth and in the twentyfirst century, or in Spain or in India, but it does the same thing: it hierarchizes difference in service of power. “ (6) Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 194 - 195. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0014 Scripts of Blackness bezeichnet dabei performative Routinen, mit denen Blackness im frühneuzeitlichen Europa (re-)präsentiert wurde und eine Geisteshaltung mitbeförderte, die das Machtgefälle festigte bzw. neu ausrichtete. In diesem Sinne, so Ndiaye, gehen vordergründige Fragen der Mimesis oder Glaubwürdigkeit völlig an der kulturellen Realität dieser Skripte vorbei. Ndiaye baut ihre Arbeit grundsätzlich komparatistisch auf - ein Ansatz, der der kulturellen Realität der Frühen Neuzeit besonders gut Rechnung trägt, denn die Rückprojektion nationalstaatlicher Ordnungsräume erzeugt eine systematische Verkürzung. Leider sind solche komparatistischen Studien heute immer noch eine Ausnahme, was nicht zuletzt an den hohen Sprachanforderungen liegt. Ndiayes Ansatz aber, der England, Frankreich und Spanien miteinander vergleicht, zeigt, welche Zusammenhänge sichtbar werden, wenn man die Fixierung auf einzelne Konstellationen aufgibt. So erscheint das Elisabethanische England in vielerlei Hinsicht eher als Ausnahme denn als Regel. Dass Ndiaye sich für ihr Thema nicht (vornehmlich) auf literarische Texte stützen kann, lenkt den Blick unmittelbar auf die Machtstrukturen, die schon der Praxis der Überlieferung eingeschrieben sind. Die Gliederung ihres Arguments erfolgt vielmehr in drei Schritten: Black- Up, die materielle Praxis des Schwarz-Schminkens und ihre unterschiedliche Bedeutung, Blackspeak, die Repräsentation von Blackness auf der Ebene gesprochener Sprache, und schließlich Black Moves, die Körpersprache von Blackness, die sich als paneuropäischer Code ausbreitete. Als methodisches Grundproblem konstatiert sie: “ This book ‘ s transverse structure also allows me to bring to the fore two regimes of racialization - the acoustic and the kinetic - that have received hardly any scholarly attention in early modern performance studies, because the Western understanding of early modern performance relies so heavily on the supremacy of the visual, or scopic, regime. ” (24) Die Sorgfältigkeit, methodische Präzision und Originalität in der Analyse von unterschiedlichsten Quellen lässt ein Modell theaterhistorischen Arbeitens erkennen, das die Spannung von Materialität und kultureller Praxis auf der einen Seite und kritischer Textlektüre, die die Spuren performativer Praktiken sichtbar werden lässt, auf der anderen Seite in einen produktiven Dialog überführt. Dabei werden performative Elemente erkennbar, die politische und soziale Realität ermöglichen, wie etwa Rassismus und Sklaverei. Dabei versagen Kategorien wie Authentizität oder Intentionalität, wie Ndiaye in ihrer Analyse der black dances unterstreicht: “ Thus, I use the term black dances to refer to dances that, regardless of authenticity, were defined as black in the imagination of the dominant segment of European populations that enthusiastically consumed and replicated them. [. . .] To translate: black dances are aesthetically foreign, indissolubly attached to the practice of slavery in lands begging to be colonized, characterized by genital fixation, and performed perhaps half of the time by Afro-diasporic people and half of the time by white people. ” (190) Die Lektüre eröffnet neue Wege historischen Denkens und regt an, bestehende Paradigmen in Frage zu stellen - gleichzeitig aber lässt sie den: die Leser: in mit der beunruhigenden Einsicht in die Aktualität des Themas zurück. Köln P ETER W. M ARX Theresa Schütz. Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater. Berlin: Theater der Zeit 2022, 342 Seiten. Theresa Schütz geht in ihrer rezeptionsästhetischen Untersuchung Theater der Vereinnahmung Fragen der Publikumsinvolvierung in immersiven Theaterformen nach. Sie beschreibt Strategien der Vereinnahmungen anhand von affekttheoretischen Analysen von Paulus Mankers Alma, Punchdrunks Sleep no More, Scruggs/ Woodards Projekt 3/ Fifths - Supremacy Land und den Arbeiten Das halbe Leid, Das Heuvolk und Wir Hunde von SIGNA. Sie erweitert den Immersionsbegriff innerhalb der deutschsprachigen Theaterwissenschaft um Überlegungen aus der schon früher einsetzenden englisch- und französischsprachigen Diskussion (z. B. mit Jose- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 195 - 197. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0015 195 Rezensionen