eJournals Forum Modernes Theater 35/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2024-0015
0120
2025
351-2 Balme

Theresa Schütz. Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater. Berlin: Theater der Zeit 2022, 342 Seiten.

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2025
Eva Döhne
fmth351-20195
Scripts of Blackness bezeichnet dabei performative Routinen, mit denen Blackness im frühneuzeitlichen Europa (re-)präsentiert wurde und eine Geisteshaltung mitbeförderte, die das Machtgefälle festigte bzw. neu ausrichtete. In diesem Sinne, so Ndiaye, gehen vordergründige Fragen der Mimesis oder Glaubwürdigkeit völlig an der kulturellen Realität dieser Skripte vorbei. Ndiaye baut ihre Arbeit grundsätzlich komparatistisch auf - ein Ansatz, der der kulturellen Realität der Frühen Neuzeit besonders gut Rechnung trägt, denn die Rückprojektion nationalstaatlicher Ordnungsräume erzeugt eine systematische Verkürzung. Leider sind solche komparatistischen Studien heute immer noch eine Ausnahme, was nicht zuletzt an den hohen Sprachanforderungen liegt. Ndiayes Ansatz aber, der England, Frankreich und Spanien miteinander vergleicht, zeigt, welche Zusammenhänge sichtbar werden, wenn man die Fixierung auf einzelne Konstellationen aufgibt. So erscheint das Elisabethanische England in vielerlei Hinsicht eher als Ausnahme denn als Regel. Dass Ndiaye sich für ihr Thema nicht (vornehmlich) auf literarische Texte stützen kann, lenkt den Blick unmittelbar auf die Machtstrukturen, die schon der Praxis der Überlieferung eingeschrieben sind. Die Gliederung ihres Arguments erfolgt vielmehr in drei Schritten: Black- Up, die materielle Praxis des Schwarz-Schminkens und ihre unterschiedliche Bedeutung, Blackspeak, die Repräsentation von Blackness auf der Ebene gesprochener Sprache, und schließlich Black Moves, die Körpersprache von Blackness, die sich als paneuropäischer Code ausbreitete. Als methodisches Grundproblem konstatiert sie: “ This book ‘ s transverse structure also allows me to bring to the fore two regimes of racialization - the acoustic and the kinetic - that have received hardly any scholarly attention in early modern performance studies, because the Western understanding of early modern performance relies so heavily on the supremacy of the visual, or scopic, regime. ” (24) Die Sorgfältigkeit, methodische Präzision und Originalität in der Analyse von unterschiedlichsten Quellen lässt ein Modell theaterhistorischen Arbeitens erkennen, das die Spannung von Materialität und kultureller Praxis auf der einen Seite und kritischer Textlektüre, die die Spuren performativer Praktiken sichtbar werden lässt, auf der anderen Seite in einen produktiven Dialog überführt. Dabei werden performative Elemente erkennbar, die politische und soziale Realität ermöglichen, wie etwa Rassismus und Sklaverei. Dabei versagen Kategorien wie Authentizität oder Intentionalität, wie Ndiaye in ihrer Analyse der black dances unterstreicht: “ Thus, I use the term black dances to refer to dances that, regardless of authenticity, were defined as black in the imagination of the dominant segment of European populations that enthusiastically consumed and replicated them. [. . .] To translate: black dances are aesthetically foreign, indissolubly attached to the practice of slavery in lands begging to be colonized, characterized by genital fixation, and performed perhaps half of the time by Afro-diasporic people and half of the time by white people. ” (190) Die Lektüre eröffnet neue Wege historischen Denkens und regt an, bestehende Paradigmen in Frage zu stellen - gleichzeitig aber lässt sie den: die Leser: in mit der beunruhigenden Einsicht in die Aktualität des Themas zurück. Köln P ETER W. M ARX Theresa Schütz. Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater. Berlin: Theater der Zeit 2022, 342 Seiten. Theresa Schütz geht in ihrer rezeptionsästhetischen Untersuchung Theater der Vereinnahmung Fragen der Publikumsinvolvierung in immersiven Theaterformen nach. Sie beschreibt Strategien der Vereinnahmungen anhand von affekttheoretischen Analysen von Paulus Mankers Alma, Punchdrunks Sleep no More, Scruggs/ Woodards Projekt 3/ Fifths - Supremacy Land und den Arbeiten Das halbe Leid, Das Heuvolk und Wir Hunde von SIGNA. Sie erweitert den Immersionsbegriff innerhalb der deutschsprachigen Theaterwissenschaft um Überlegungen aus der schon früher einsetzenden englisch- und französischsprachigen Diskussion (z. B. mit Jose- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 195 - 197. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0015 195 Rezensionen phine Machon, Adam Alston, Gareth White, Marcel Freydefont, Julie Sermon u. a.). Die Kernthese ihrer Studie ist es, dass Modi der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater wirkungsästhetisch auf eine Vereinnahmung der Zuschauer*innen abzielen und dies oftmals über die Etablierung von fiktional und narrativ angelegten diegetischen Ordnungen geschehe. Schütz beginnt ihre Studie mit einem sehr breiten Bezug auf sogenannte immersive Formate in Kunst, Kino, Literatur, Gaming und Unterhaltungs-industrie und damit in Korrespondenz mit dem von Oliver Grau aus kunsttheoretischer Perspektive 2001 genannten „ Prinzip Immersion “ (18). Sie beschreibt, dass die vom spätlateinischen Substantiv immersio abgeleitete primäre Bedeutung „ Eintauchen “ in alternative, simulierte, virtuelle Welten seit den 1970er Jahren ein wiederkehrendes filmisches Sujet sei. In Abgrenzung zur bestehenden Forschung wolle sie Immersion, inspiriert durch Estelle Sohier, über die Dimension von Worldbuilding-Prozessen denken und damit zeigen, wie immersives Theater bestimmte Selbst-/ Weltverhältnisse nicht nur präge, sondern auch hervorbringen könne. Als Merkmale „ immersiver Theaterdispositive “ (50 f.) benennt Schütz geteilte Bühnenräume (53) und die Aufhebung einer starren Trennung von Bühnengeschehen und Publikum. Sie nennt „ die Asymmetrie zwischen beteiligten Performer*innen und involvierten Zuschauer*innen “ (56), eine „ systemische Desorientierung und Verunsicherung “ (57) und eine „ fiktive Narration “ (71) als weitere Merkmale und betont, dass die von ihr beschriebenen Aufführungen „ komplexe Affizierungs- und Emotionalisierungsprozesse “ (66) hervorrufen würden. Deutlich wird, dass die als immersiv benannten, partizipativen Theaterformen, die Schütz beschreibt, oftmals mit den Behauptungen einhergehen, kohärente Illusionsräume gesellschaftlichen oder gemeinschaftlichen Zusammenseins zu simulieren. Mit Blick auf den Forschungskontext, konkludiert auch Schütz gut nachvollziebar, hat Alston in seiner Studie Beyond Immersive Theatre (2013) die neoliberalen Logiken und Ökonomisierungsmechanismen von künstlerischen Erfahrungen innerhalb der letzten vier Jahrzehnte benannt und diese in Zusammenhang mit Theaterformen wie Lundahl & Seitl, Ray Lee, Punchdrunk, Half Cut und anderen gebracht, welche oftmals zu einer hochgradigen Vereinzelung von Erfahrung beitragen. Auch Natalie Alvarenz (2018) problematisiert die Asymmetrie zwischen Performer*innen und Publikum und die damit verbundenen Ambivalenzen von Immersion, wenn sie immersive Formate als oftmals in eine hegemoniale Wissensproduktion eingeschriebene bezeichnet. Vor diesem Hintergrund wird die Frage der Reflexion der Teilnehmenden und die Frage der Totalität von Kunst virulent. Im letzten Teil der Arbeit beschreibt Schütz sechs spezifische Involvierungsmodi: anhand von Paulus Mankers Alma die räumliche und figurenperspektivische Involvierung, anhand von Punchdrunks Sleep no more das Soundscape, bei SIGNAs Das halbe Leid die olfaktorische Involvierung, bei SIGNAs Das Heuvolk die konkreten Handlungsanweisungen, bei SIGNAs Wir Hunde das körperliche Berühren und abschließend auf die Verwendung von Zeichen, Diskursen und Bedeutungen bei 3/ Fifths - Supremacy Land von Scruggs/ Woodard. Mit Das Heuvolk geht sie dabei eindrücklich der konkreten Fragestellung nach, welche Funktionen die oftmals autoritären Handlungsanweisungen während der sechsstündigen Performance, die Schütz als stattfindendes Ritual beschreibt (209), hätten. Entlang ihrer Beobachtungen formuliert sie Involvierung einerseits innerhalb des relationalen Aufführungsgeschehens und andererseits innerhalb der fiktionalisierten Lebenswelt der Himmelfahrer Glaubensgemeinschaft, die das Publikum für sechs Stunden an einem Abend auf dem Gelände des Benjamin Franklin Villages in Mannheim besucht. In einer detaillierten Szenenbeschreibung erläutert sie die wechselseitige Affizierung als Teilnehmerin mit der Performerin der Figur der Davina (Marie S. Zwinzscher). Kritisch merkt Schütz an, dass die Teilnehmenden sich innerfiktional durch ihr aktives Mitwirken an dem hierarchisch formierten System der Glaubensgemeinschaft der Himmelsfahrer beteiligen (218). Die Autorin bezieht sich auf die sich zeigenden Machtverhältnisse in Form gezielter Desorientierung, Vereinzelung der Teilnehmenden sowie die Tendenzen von Totalität in SIGNAs Arbeiten; auch wenn sie die Arbeiten insgesamt 196 Rezensionen sehr wohlwollend und fasziniert beschreibt und die Frage nach der emotionalen Verantwortung gegenüber den Darsteller*innen, aber auch gegenüber dem Publikum nur skizziert. In Bezug auf die auch von Alston formulierten gesellschaftspolitischen Überlegungen fragt Schütz abschließend, ob die Suche nach Desorientierung, Vereinzelung und Überforderung Teil des In-der-Welt-Seins für Generation Y und Z markieren und die Sehnsucht nach temporärer Gemeinschaft und emotionaler Bindung, wenn auch autoritär dirigiert, Gründe für die Begeisterung eben jener Personengruppe für die untersuchten Künstler*innen und künstlerischen Arbeiten seien. Es ist die Überlegung, ob das bewusste Zulassen der emotionalen Verführbarkeit (287) durch eine situative oder eine Selbsterkenntnis ex post der Teilnehmenden den Reiz der Erfahrung ausmachen. Schütz konkludiert, dass sich das von ihr beschriebene Theater der Vereinnahmung als eine „ emotionale Begegnungs- und Selbsterfahrungsmaschine, die ihr Publikum dazu anregen kann, sich der eigenen autoritären, affektiven Dispositive bewusst zu werden “ (288) darstellen lasse. Neben diesen gesellschaftspolitisch zentralen Überlegungen bleibt kritisch anzumerken, dass die Autorin in der Theoriebildung stellenweise zu synoptisch verfährt. Bei der Einführung des Denkens von Inder-Welt-Sein (29, 59), das für die Argumentation der Worldbuilding-Prozesse große Relevanz hat, macht sie keinen Bezug auf die Philosophie Heideggers und spricht die Weiterentwicklungen bei Latour, Nancy, Haraway nur knapp an (60). Auch die Diskussion darüber, Theater als Dispositiv zu verstehen, hätte an einer detaillierteren Auseinandersetzung mit Foucault und Agamben gewonnen. Denn daran ließe sich der Gedanke weiterverfolgen, ob die beschriebenen Aufführungsformen nun unter dem vorgeschlagenen, aber immer auch vage bleibenden Begriff eines immersiven Theaters zusammengefasst werden können, oder aber letztlich das Dispositiv, welches sie hervorbringt, anders und neu definieren. Ist es nicht die Vagheit und die Unschärfe des Immersionsbegriffs selbst (49), mit dem in ihren Einzelheiten unendlich singuläre Theater- und Kunstpraktiken verallgemeinert und damit in ihrer Singularität unscharf werden? Immersives Theater könnte jedoch als methodischer Begriff das Wechselverhältnis von Bühnenform und Dispositiv diskutieren und damit über eine deskriptive Begriffsverwendung, wie sie Programmschriften und Theaterkritiken prägen, hinausgehen. Am Ende der Studie ist es schlüssig, dass sich Schütz selbst zunehmend auf den Begriff der Vereinnahmung stützt und sich damit einerseits in die Forschung um das immersive Theater einordnet, aber andererseits Tendenzen der Simplifizierung von allzu unterschiedlichen Theaterarbeiten, -formen und -praktiken unter dem Begriff des immersiven Theaters problematisiert. Vereinnahmung charakterisiert Schütz nie rein passiv, sondern konstitutiv reziprok und relational (87). Vereinnahmende Wahrnehmung, so die entscheidende affekttheoretisch inspirierte Überlegung der Studie, bleibt singulär, hochgradig unverfügbar und situativ zu verorten. Frankfurt am Main E VA D ÖHNE Frank Schmitz. Spiel-Räume der Demokratie. Theaterbau in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1975, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2022, 383 Seiten. Angesichts aktueller Debatten um die Modernisierungsbedürftigkeit kommunaler Spielstätten - prominent die langjährige Kontroverse um die Zukunft der Frankfurter ‚ Doppelanlage ‘ - , die auch in den wissenschaftlichen Diskurs ausstrahlen, verliert der Theaterbau zunehmend an Selbstverständlichkeit. Wo hat Theater seinen zeitgemäßen Ort? Welche Öffentlichkeit versammelt die Bauaufgabe Theater? Wie korrespondieren Theaterauffassungen und Architekturen? Mit Frank Schmitz ‘ architekturgeschichtlichem Band liegt nun eine umfassende Historisierung und Würdigung des bislang wenig beachteten bundesrepublikanischen Theaterbaus vor, die derartige Komplexe für die Nachkriegszeit erhellt. Das Interesse der Studie gilt dem Verhältnis von Architektur und demokratischer Gemein- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 197 - 199. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0016 197 Rezensionen