Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2024-0016
0120
2025
351-2
BalmeFrank Schmitz. Spiel-Räume der Demokratie. Theaterbau in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1975, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2022, 383 Seiten.
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2025
Marie-Charlott Schube
fmth351-20197
sehr wohlwollend und fasziniert beschreibt und die Frage nach der emotionalen Verantwortung gegenüber den Darsteller*innen, aber auch gegenüber dem Publikum nur skizziert. In Bezug auf die auch von Alston formulierten gesellschaftspolitischen Überlegungen fragt Schütz abschließend, ob die Suche nach Desorientierung, Vereinzelung und Überforderung Teil des In-der-Welt-Seins für Generation Y und Z markieren und die Sehnsucht nach temporärer Gemeinschaft und emotionaler Bindung, wenn auch autoritär dirigiert, Gründe für die Begeisterung eben jener Personengruppe für die untersuchten Künstler*innen und künstlerischen Arbeiten seien. Es ist die Überlegung, ob das bewusste Zulassen der emotionalen Verführbarkeit (287) durch eine situative oder eine Selbsterkenntnis ex post der Teilnehmenden den Reiz der Erfahrung ausmachen. Schütz konkludiert, dass sich das von ihr beschriebene Theater der Vereinnahmung als eine „ emotionale Begegnungs- und Selbsterfahrungsmaschine, die ihr Publikum dazu anregen kann, sich der eigenen autoritären, affektiven Dispositive bewusst zu werden “ (288) darstellen lasse. Neben diesen gesellschaftspolitisch zentralen Überlegungen bleibt kritisch anzumerken, dass die Autorin in der Theoriebildung stellenweise zu synoptisch verfährt. Bei der Einführung des Denkens von Inder-Welt-Sein (29, 59), das für die Argumentation der Worldbuilding-Prozesse große Relevanz hat, macht sie keinen Bezug auf die Philosophie Heideggers und spricht die Weiterentwicklungen bei Latour, Nancy, Haraway nur knapp an (60). Auch die Diskussion darüber, Theater als Dispositiv zu verstehen, hätte an einer detaillierteren Auseinandersetzung mit Foucault und Agamben gewonnen. Denn daran ließe sich der Gedanke weiterverfolgen, ob die beschriebenen Aufführungsformen nun unter dem vorgeschlagenen, aber immer auch vage bleibenden Begriff eines immersiven Theaters zusammengefasst werden können, oder aber letztlich das Dispositiv, welches sie hervorbringt, anders und neu definieren. Ist es nicht die Vagheit und die Unschärfe des Immersionsbegriffs selbst (49), mit dem in ihren Einzelheiten unendlich singuläre Theater- und Kunstpraktiken verallgemeinert und damit in ihrer Singularität unscharf werden? Immersives Theater könnte jedoch als methodischer Begriff das Wechselverhältnis von Bühnenform und Dispositiv diskutieren und damit über eine deskriptive Begriffsverwendung, wie sie Programmschriften und Theaterkritiken prägen, hinausgehen. Am Ende der Studie ist es schlüssig, dass sich Schütz selbst zunehmend auf den Begriff der Vereinnahmung stützt und sich damit einerseits in die Forschung um das immersive Theater einordnet, aber andererseits Tendenzen der Simplifizierung von allzu unterschiedlichen Theaterarbeiten, -formen und -praktiken unter dem Begriff des immersiven Theaters problematisiert. Vereinnahmung charakterisiert Schütz nie rein passiv, sondern konstitutiv reziprok und relational (87). Vereinnahmende Wahrnehmung, so die entscheidende affekttheoretisch inspirierte Überlegung der Studie, bleibt singulär, hochgradig unverfügbar und situativ zu verorten. Frankfurt am Main E VA D ÖHNE Frank Schmitz. Spiel-Räume der Demokratie. Theaterbau in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1975, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2022, 383 Seiten. Angesichts aktueller Debatten um die Modernisierungsbedürftigkeit kommunaler Spielstätten - prominent die langjährige Kontroverse um die Zukunft der Frankfurter ‚ Doppelanlage ‘ - , die auch in den wissenschaftlichen Diskurs ausstrahlen, verliert der Theaterbau zunehmend an Selbstverständlichkeit. Wo hat Theater seinen zeitgemäßen Ort? Welche Öffentlichkeit versammelt die Bauaufgabe Theater? Wie korrespondieren Theaterauffassungen und Architekturen? Mit Frank Schmitz ‘ architekturgeschichtlichem Band liegt nun eine umfassende Historisierung und Würdigung des bislang wenig beachteten bundesrepublikanischen Theaterbaus vor, die derartige Komplexe für die Nachkriegszeit erhellt. Das Interesse der Studie gilt dem Verhältnis von Architektur und demokratischer Gemein- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 197 - 199. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0016 197 Rezensionen schaftsbildung, das sie anhand einer vergleichenden Analyse von 38 exemplarischen Baulösungen des Booms der 1950er bis 1970er Jahre - dargestellt im Katalogteil der Arbeit - auslotet. Angelehnt an ein Verständnis von Theater als „ formalisiertes Spiel “ (S. 11), konturiert Schmitz dafür in Erweiterung etablierter kunsthistorischer Perspektiven um architektursoziologische und diskursanalytische Ansätze eine Lesart von Theaterarchitektur, die „ alle sozialen Vorgänge in und um ein Theatergebäude als ‚ Spiel ‘“ (S. 12) versteht - programmatisch gefasst im titelgebenden Kompositum der „ Spiel-Räume “ . So befragt die Untersuchung ebenso die architektonische Gestaltung wie Entstehungskontexte und öffentliche Vermittlungsprozesse hinsichtlich der Wechselwirkungen von Architektur, Politik und Gesellschaft. Eine bemerkenswerte Diversität von Quellen- und Bildmaterial verdichtet Schmitz dabei zu einer eingängig komponierten Skizze der Bauaufgabe Theater als „ Medium einer kulturellen und letztlich politischen Selbstdefinition der Bundesrepublik “ (S. 27). Den in der Forschung wiederholt bemerkten Rückgriff auf tradierte Theaterbauvorstellungen (vgl. u. a. den Band von Blümle/ Lazardzig (Hg.): Ruinierte Öffentlichkeit. Zürich 2012) perspektiviert die Studie in einer einleitenden Darstellung des hohen Stellenwerts der öffentlichen Bauaufgabe als Effekt kollektiver Aushandlungsprozesse (Kap. 2). Ein konziser Abriss zeichnet das Avancieren technisch-flexibilisierter Repräsentationsbauten zum Symbol des kulturellen Neubeginns nach, wobei sich eine hohe kulturpolitische Wertschätzung von Theater als gleichsam populäre wie sinnstiftende Instanz sowie der unbefragte Anschluss an die seit den 1920er Jahren etablierte Kommunalisierung als wesentliche Faktoren der Abkehr von den räumlichen Provisorien und Experimenten der ersten Nachkriegsjahre erweisen. Rekurrierend auf Fachdebatten sowie die öffentliche Bau- und Planungspraxis beleuchtet Schmitz Diskursorte der Neubestimmung einer verbindlichen Bauform, die in dezidiert moderner Ästhetik Abgrenzung zu höfischen wie nationalsozialistischen Theaterbauformen suchte (Kap. 3). Instruktive Einsichten in die komplexen Akteurs-Gefüge von Politik, Fachleuten sowie städtischen Öffentlichkeiten gibt insbesondere die systematische Analyse der „ expertokratischen “ Entscheidungsstrukturen der demokratischen Planungskultur (Kap. 4), in der einem engen Fachkreis maßgeblicher Einfluss zukam. Die Einordnung von Kontinuitäten durch NS-Verflechtungen von Protagonisten wie dem Theateringenieur Walther Unruh oder Gerhard Graubner, produktivster Theaterarchitekt der Nachkriegszeit, aber auch institutioneller, planerischer und baulicher Art - die zahlreichen Wiederaufbauten und Rekonstruktionen historischer Theater klammert die Studie weitestgehend aus - , erscheint trotz der akzentuierten Argumentation verkürzt. Das zentrale Analysekapitel wendet sich den Bauten zu und befragt die innere Struktur, räumliche Organisation und ästhetische Gestaltung der Publikumsbereiche „ Foyer, Saal und Bühne “ im Kontext zeitgenössischer Diskurse und Intentionen (Kap. 5). Als Kristallisationspunkt des Bemühens um ein architektonisches Abbild einer egalitären Gesellschaftsordnung widmet die Studie Zuschauerräumen spezifische Aufmerksamkeit und nimmt sie zum Ausgangspunkt, um Rekursen auf historische Bauformen und ein tradiertes Repertoire theaterbaulichen Wissens - prävalent der griechisch-antike Theaterbau und die Entwurfstheorie Manfred Sempers (1904) - weiter nachzugehen, aber auch ästhetische Fluchtlinien zwischen Architektur und zeitgenössischer Szenografie zu ziehen. Neben dem Festhalten an der Guckkastenbühne erweist sich der Topos der Festlichkeit als Traditionsmoment, dem die mit den Bauten assoziierte, implizite Definition des Wesens von Theater als Kunstgattung eingeschrieben ist (S. 292). Auch im Spiel mit Raumgrenzen, das die Untersuchung als originär theatrales Mittel anhand der Foyer-Gestaltung diskutiert, artikuliert sich der Einfluss dieses Theaterverständnisses. So zeigt Schmitz, inwiefern gerade das Spannungsverhältnis von Bestrebungen zu einer Öffnung zu städtischem Raum und Gesellschaft, einerseits, und der Markierung einer anderen Welt sowie Fokussierung auf das Spiel, andererseits, die architektonische Rahmensetzung für „ Prozesse temporärer Gemeinschaftsbildung “ und ihrer Inszenierung im urbanen Raum bildet (S. 291 f.). Schließlich weitet die Analyse die verwobenen Perspektiven Diskurs und Ästhetik auf das Außen aus und befragt die gemeinschaftsstiften- 198 Rezensionen de Bedeutung von Theaterbau als Medium gesellschaftlicher und politischer Repräsentation (Kap. 6 u. 7). Anhand aufschlussreicher Betrachtung von Bauten wie den Theatern in Bonn und Gelsenkirchen, dem Ruhr-Festspielhaus Recklinghausen, dem Nationaltheater Mannheim oder der Deutschen Oper Berlin - als Gegen- Bau zur Ost- ‚ Deutschen Staatsoper ‘ - , die neben stadträumlichen Bezügen auch die Funktionalisierung von Theaterbauten, z. B. als Postkartenmotive und Ausstellungsexponate einbezieht, arbeitet Schmitz die identitätsstiftende Rolle der prestigeträchtigen Bauaufgabe auf kommunaler, staatlicher wie internationaler Ebene heraus. Mit Blick auf ein Wiederaufleben des Nationaltheater-Konzepts in der Nachkriegszeit, das sich im Bau von National- und Staatstheatern manifestiert, figuriert Theaterbau so als Schauplatz der Legitimation und Konturierung der BRD als Kulturstaat im Kontext politischer Konkurrenzsituationen. In der breiten Anlage, die das Forschungsfeld erstmals überblickshaft und methodologisch differenziert erschließt, bildet der Band eine einschlägige Lektüre zur Architektur- und Kulturgeschichte von Theater in der Nachkriegszeit. Auch wenn Programmierung und Nutzung der Bauten ebenso wenig Teil der Reflexion sind wie dezidierte Gegenwartsbezüge, leistet die Studie einen substantiellen Beitrag zu aktuellen Diskursen um Aufführungsarchitekturen sowie die Neubewertung des Bau-Erbes der Nachkriegsmoderne und informiert als historische Folie lokale Debatten. Gemäß dem Anspruch, das „ Narrativ von der erfolgreichen Demokratisierung “ nicht grundsätzlich zu bezweifeln (S. 10 f.), stellt Schmitz der seit den 1970er Jahren etablierten publizistischen wie künstlerischen Kritik ein harmonisierendes Korrektiv gegenüber. Aspekte, die ob der typologischen Herangehensweise zurücktreten - wie auch die Relevanz von Theatertechnik und ideologische Implikationen des Theater-Wiederaufbaus - , geben vielfältige Impulse für nuancierte Anschlussbetrachtungen. Berlin M ARIE -C HARLOTT S CHUBE 199 Rezensionen
