Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0044
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Das Ziel nicht aus den Augen verlieren
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Christian Dahm
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Aus der Europäischen Union 36 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 4/ 2010 Sollen selbstständige Berufskraftfahrer in die EU-Arbeitszeitrichtlinie einbezogen werden oder nicht? Diese Frage spaltet das Europäische Parlament in zwei Lager: Die Befürworter argumentieren, die Verkehrssicherheit werde verbessert. Die Gegner führen an, dass eine Kontrolle von Selbstständigen ohnehin unmöglich ist. Um einen Ausweg aus der Pattsituation zu finden, hat die Berichterstatterin des federführenden EP-Sozialausschusses, Edit Bauer, von der konservativen EVP-Fraktion vorgeschlagen, auch gewerbliche Fahrzeuge unter 3,5 t in die Lenk- und Ruhezeitverordnung zu integrieren. Damit will sie insbesondere auf die Verkehrssicherheitsbedenken eingehen. Die sozialistische Fraktion ist bereit, dies zu unterstützen. Zur allgemeinen Überraschung steht aber die eigene Fraktion nicht hinter Bauer. Davon abgesehen, dass allen voran deutsche Abgeordnete diese Initiative unbedingt verhindern wollen, verfolgen ihre Parteikollegen im EP-Verkehrsausschuss eine andere Strategie. Sie sind der Meinung, dass für Berufskraftfahrer von Fahrzeugen unter 3,5 t nicht die Lenk- und Ruhezeitenverordnung gelten soll, sondern die Arbeitszeitrichtlinie − allerdings nur für Angestellte. Mehr als erstaunlich, dass sich die EVP-Abgeordneten aber noch nicht einmal darüber bewusst waren, dass sie in den zwei Ausschüssen unterschiedliche Ansätze verfolgen. Bleibt zu hoffen, dass die EVP-Fraktion ihre internen Unstimmigkeiten ausräumen kann, bevor der Sozialausschuss Ende April und das EP- Plenum im Mai entscheiden müssen, welche Lkw-Fahrer in die Arbeitszeitrichtlinie und/ oder in die Lenk- und Ruhezeiten einbezogen werden sollen. Apropos Ruhezeiten: Statt nach immer neuen Ansätzen zu suchen, wären die Europaabgeordneten gut beraten, selbst mal eine Pause einzulegen und sich auf das eigentliche Ziel der Arbeitszeitrichtlinie zu besinnen. Denn das scheint nach monatelangen, teils sehr emotional geführten Debatten völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Mit den Bestimmungen sollen Arbeitnehmer vor ihren Arbeitgebern geschützt und nicht die Verkehrssicherheit gesteigert werden. Nach den endlosen und bislang fruchtlosen Debatten dürfen sich die Europaabgeordneten nicht wundern, dass immer häufiger die Frage gestellt wird, wer den Transportsektor vor dem Europäischen Parlament schützt. Denn wie das Beispiel zeigt, ist mit den Europaabgeordneten in Fragen der Straßenverkehrssicherheit nicht gut Kirschen essen. Deshalb dürften auch insbesondere den Kurier- und Expressdiensten die jüngsten Vorschläge für eine EU-weite Ausdehnung der Lenk- und Ruhezeiten auf Fahrzeuge unter 3,5 t schwer im Magen liegen. Denn wer den Einsatz der Fahrer regulieren will, spricht gleichzeitig von Mehrkosten durch den Einbau eines digitalen Tachografen und den zusätzlichen Verwaltungsaufwand. Es ist noch keine fünf Jahre her, da war es der Kep-Branche nur ganz knapp gelungen, Das Ziel nicht aus den Augen verlieren Diskussion über Arbeitszeitrichtlinie von Berufskraftfahrern spaltet Europaabgeordnete in zwei Lager den Hals aus der Schlinge zu ziehen. Dank eines massiven Lobbyings wurde bei der Änderung der Lenk- und Ruhezeitenverordnung ein entsprechender Vorschlag des EP-Verkehrsausschusses vom Plenum abgelehnt. Damals fehlten nur 16 Stimmen. Insbesondere die in der European Express Association (EEA) zusammengeschlossenen Unternehmen DHL, FedEx, TNT und UPS hatten argumentiert, dass eine Änderung der Lenk- und Ruhezeitenverordnung dazu genutzt werden soll, gegen überhöhte Geschwindigkeit oder schlechtes Fahrverhalten vorzugehen. Es gebe aber keine Anzeichen dafür, dass leichte Lkw für einen steigenden Anteil von Unfällen verantwortlich seien. Außerdem würde die Sprinter- Klasse größtenteils zum Abholen und Zustellen genutzt, nicht aber für Langstrecken. Ob diese Argumente die Mehrheit der Europaabgeordneten erneut überzeugen werden, ist erstens jedoch völlig offen und zweitens nicht alles entscheidend. Denn das EP kann zum jetzigen Zeitpunkt alleinig eine Empfehlung aussprechen (siehe Kasten). Bevor dieser Appell aber in Stein gemeißelt werden kann, muss der neue EU- Verkehrskommissar Siim Kallas entscheiden, einen entsprechenden Gesetzesvorschlag zu unterbreiten. Dann wird sich zeigen, was für den Esten höher wiegt: die Straßenverkehrssicherheit oder die Interessen eines Wirtschaftszweigs. Sollten aber zwischenzeitlich Statistiken belegen, dass von Sprintern eine erhöhte Unfallgefahr ausgeht, dürfte es sicherlich kein Honigschlecken für die Kep-Branche werden, Kallas von einer Gesetzesinitiative abzuhalten. Doch die Kurier- und Expressdienste sollten nicht unterschätzt werden. Bereits 2005 haben sie unter Beweis gestellt, dass sie wissen, wie eine Charmeoffensive mit stechenden Argumenten zu organisieren ist: zuerst tüchtig Honig um den Bart schmieren und dann die Bienen rufen! Christian Dahm, EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Logistik- Zeitung in Brüssel Entscheidungsprozess in der EU Als „interessant“ gilt innerhalb der EU- Kommission der Vorschlag, auch Berufskraftfahrer von Fahrzeugen unter 3,5 t in die Lenk- und Ruhezeitenverordnung einzubeziehen. Eine Entscheidung, ob die geltenden Sozialvorschriften auf Lieferwagen und Transporter ausgedehnt werden, soll aber erst auf Grundlage einer Studie fallen. Derzeit wird untersucht, ob die geltende EU-Sozialgesetzgebung zu einem unlauteren Wettbewerb zwischen Fahrzeugklassen über und unter 3,5 t führt. Die Studie soll vor der Sommerpause vorliegen. Wie ein interinstitutionelles Abkommen mit der EU-Kommission vorsieht, sollen dem EP Rechte gewährt werden, die über den EU-Vertrag hinausgehen. So will sich die Kommission verpflichten, auf einen Wunsch des EP nach einem Gesetzesvorschlag innerhalb von drei Monaten zu antworten. Reagiert sie positiv, muss sie den Gesetzesvorschlag innerhalb von zwölf Monaten vorlegen. Bei einer Ablehnung müsste sich die Kommission ausdrücklich vor den Abgeordneten rechtfertigen. Das EP versucht so einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass es selbst keine Gesetzesvorschläge unterbreiten darf. Außerdem erhält das EP Einfluss auf sogenanntes „Softlaw“. Darunter wird ein Verfahren verstanden, bei dem die Kommission auf ein Gesetz verzichtet, wenn etwa die betroffene Industrie sich freiwillig den geplanten Auflagen wie Schadstoffgrenzwerten für Lkw unterwirft. Künftig muss die Kommission das EP zu entsprechenden Initiativen konsultieren. Lenk- und Ruhezeiten unter 3,5 t
