eJournals Internationales Verkehrswesen 62/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0049
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2010
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Grenzenloser Informationsfluss

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2010
Michael Baranek
Rainer Wilken
Der Wettbewerb in der Transportwirtschaft wird zunehmend dadurch bestimmt, welcher Anbieter im Rahmen der Supply Chains die lückenloseren Informationsketten realisieren kann. Umso wichtiger wird der Aufbau durchgängiger und lückenloser Lieferketten mit einem ganzheitlichen IT-Konzept, vollständigen und richtigen Datenflüssen und jederzeit abrufbaren Informationen, um sowohl die Kundenanforderungen zu erfüllen als auch durch optimierte Nutzung der Ressource Güterwagen die Flottenproduktivität zu erhöhen.
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Technologien + Informationssysteme 46 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 4/ 2010 Abb. 1: Informationsbedarf in der Transportlogistik Michael Baranek / Rainer Wilke Grenzenloser Informationsfluss Telematik als Mittel der autonomen Informationsbeschaffung in Europa Der Wettbewerb in der Transportwirtschaft wird zunehmend dadurch bestimmt, welcher Anbieter im Rahmen der Supply Chains die lückenloseren Informationsketten realisieren kann. Umso wichtiger wird der Aufbau durchgängiger und lückenloser Lieferketten mit einem ganzheitlichen IT-Konzept, vollständigen und richtigen Datenflüssen und jederzeit abrufbaren Informationen, um sowohl die Kundenanforderungen zu erfüllen als auch durch optimierte Nutzung der Ressource Güterwagen die Flottenproduktivität zu erhöhen. Die Autoren Rainer Wilke, Chief Information Officer (CIO) und IT Governance der DB Schenker Rail GmbH, Mainz, und Michael Baranek, Chief Innovation Manager der DB Systel GmbH, Frankfurt; michael.baranek@deutschebahn.com Informationsbedarf international Erfolgreicher Schienengüterverkehr muss in der Dimension Europa organisiert werden, die Transportleistung muss auf hohem Niveau homogen erbracht werden und darf nicht von Landesgrenzen abhängig sein. Doch das europäische Bahnsystem ist mit mindestens fünf verschiedenen Stromsystemen, drei unterschiedlichen Spurweiten, 16 verschiedenen Signalsystemen und ungezählten nationalen Vorschriften heute eher ein Stückals ein Netzwerk. Hinzu kommt, dass auch die Informationsweitergabe über die nationalen Grenzen hinweg immer noch unzulänglich ist, da nationale Fahrzeuginformationssysteme weit davon entfernt sind, aufeinander abgestimmt zu sein. Die durch Informationstechnologie (IT) unterstützte Verfolgung grenzüberschreitender Transporte ist damit heute nur in Teilbereichen möglich, aber erforderlich. Nicht zuletzt die Vorgaben der EU-Kommission in Brüssel deuten in diese Richtung. Gemäß dem E-Freight-Konzept (European Commission Communication COM (2007) 607 ‘Freight Transport Logistics Action Plan’, October 2007, Chapter 2) sollen Gütertransporte unabhängig von Ihrem Transportträger identifizierbar und lokalisierbar sein. Ein Datenzugriff in Echtzeit und abgestimmte Datenformate für den Datenaustausch sind dabei Voraussetzung für einen nahtlosen, effizienten und sicheren Gütertransport. Technische Spezifikation Mit der Implementierung der TAF TSI (Telematic Applications for Freight Technical Specification for Interoperability) bis 2014 werden große Hoffnungen unter anderem auf eine signifikante Effizienzerhöhung auch des Schienengüterverkehrs verbunden. Allerdings regelt sie zwar den interoperablen Datenaustausch, nicht aber Quelle und Qualität der Daten. Doch woher sollen die Informationen in einer ausreichenden Verfügbarkeit, Qualität und Aktualität kommen? Die Telematik bietet die Möglichkeit, transport- und fahrzeugbezogene Echtzeitdaten auf europäischer Ebene zu erfassen und unabhängig von Ditten zur Verfügung zu stellen. Somit ist Telematik eine wichtige Zukunftstechnologie für den Schienengüterverkehr. Da der Terminus Telematik im Kontext des europäischen Schienengüterverkehrs auch als Synonym für IT und den Datenaustausch zwischen zentralen IT-Systemen verwendet wird, ist es erforderlich, den Begriff an dieser Stelle erneut zu definieren: Telematik kombiniert die Eigenschaften der Mobilfunktechnologie (GSM) und der Satellitennavigation (GPS) und kann Zustandsdaten (Sensorik) am Güterwagen erfassen, verarbeiten und an ein zentrales IT-System senden. Die wohl wichtigste fachliche Funktion ist die Bestimmung des eigenen Orts durch Nutzung des GPS-Systems und die onboard-Überprüfung der aktuellen Position gegen einen Referenztransportplan. Bei geeigneter Systemauslegung können aber auch ladegutspezifische Sensoren an das Telematiksystem angeschlossen werden, die den korrekten Transport wie Einhaltung der Kühlkette oder Stoßbelastung überwachen. Erstes autarkes Infosystem in Europa Zur Sicherstellung einer international durchgängigen Transportüberwachung entschloss sich die DB Schenker Rail GmbH bereits im Jahr 2000, sich der Telematik als Instrument der internationalen Informationsgewinnung zu bedienen. Hierzu wurden in den darauf folgenden Jahren rund 14 000 Güterwagen mit autarken Telematiksystemen ausgerüstet, um auf Basis von Transportplänen mit definierten Empfangszeitpunkten Soll-/ Ist-Vergleiche (Monitoring) durchführen zu können. Zusätzlich wurden Mehrwerte durch Sensorik wie etwa Detektion von unzeitigen Türöffnungen (Diebstahlschutz), unzeitiger Ladezustandsänderung, Stoßbelastung und Temperaturüberwachung des Ladeguts generiert. Ebenso wurde zur Vermeidung manueller Tätigkeiten unter dem Namen „eCargo- Service“ eine kostengünstige DV-Unterstützung geschaffen und zur Sicherstellung der daraus resultierenden proaktiven Kundeninformation ein Überwachungsteam im KundenServiceZentrum (KSZ) aufgebaut. Das Projekt hat gezeigt, dass durch Telematik die Effizienz von Transporten deutlich gesteigert werden kann. Dies machte die DB Schenker Rail GmbH zum Vorreiter für den Einsatz von Telematikanwendungen auf der Schiene in Europa und damit der europaweit autonomen, grenz- und unternehmensüberschreitenden Informationsbeschaffung im Schienengüterverkehr. Technologien + Informationssysteme 47 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 4/ 2010 Abb. 2: Funktionsübersicht Telematikanwendungen Abb. 3: Stand der Technik Stand der Technik Über die Zeit haben sich autarke Telematiksysteme nicht nur in punkto Zuverlässigkeit und Systemstabilität sondern auch funktional immer weiter entwickelt. Waren die Ursprungssysteme noch auf eine einfache Ortung und Datenkommunikation begrenzt, so kann die heutige Gerätegeneration individuellen Kundenwünschen jederzeit angepasst werden. Sie verfügt über eine hohe Eigenintelligenz, so dass einzelne Ereignisse oder Kombinationen verschiedener Ereignisse differenziert erfasst und bei Bedarf gezielte Aktionen ausgelöst werden können. Zudem sind die neuen Systeme offen und mit standardisierten Schnittstellen versehen. Standardisierungen Die Etablierung von europäischen Mindeststandards, verbunden mit einer Kompatibilität der Systeme - insbesondere im Hinblick auf „offene Systeme“ mit standardisierten Schnittstellen - ist ein wesentlicher Schritt zum Erfolg der Telematik. Vor diesem Hintergrund wurde bereits 2007 ein internationales Projekt zur Definition und Entwicklung von standardisierten Schnittstellen für Telematikanwendungen durch die europäischen Marktführer für Telematiksysteme im Schienengüterverkehr aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz gestartet. Erklärtes Ziel war es, ein standardisiertes und generisches Protokoll zu definieren und somit die Interoperabilität von Telematikanwendungen auf Basis eines zukunftsträchtigen Industriestandards herzustellen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit wurde ein Industriestandard zum Datenaustausch zwischen zentralen Servern und dezentralen Telematiksystemen mit dem Namen optiSMS - open telematics interface-Standardized Message Structure entwickelt und als lizenzkostenfreies „Luftschnittstellenprotokoll“ veröffentlicht. Darauf aufbauend wurde die Open Telematics Alliance (Opta) als internationale Gemeinschaft und als Non-Profit-Organisation zur Definition und Entwicklung von standardisierten Schnittstellen für Telematikanwendungen gegründet. Hauptaufgabe ist die Verbesserung und Weiterentwicklung der open telematics interfaces (opti). Hierzu hat die Opta eine Plattform für alle künftigen Weiterentwicklungen des Protokolls geschaffen und will die Interoperabilität im Sinne eines offenen und lizenzkostenfreien Industriestandards absichern. Mittlerweile besteht die Opta aus mehr als 30 Mitgliedsunternehmen. Aber die bereits angesprochene Etablierung von europäischen Mindeststandards geht noch weiter. Die IT Study Group der UIC (Union Internationale des Chemins de fer) hat beschlossen, auf Basis der Arbeiten Opta und den open telematics interfaces ein UIC-Merkblatt zu erstellen und zu veröffentlichen. Datentechnische Umsetzung des AVV Betrachtet man die durch den allgemeinen Verwendungsvertrag (AVV) geregelte Freizügigkeit eines Güterwagens (der Güterwagen eines Halters kann grundsätzlich von allen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) genutzt werden), fehlten hier bisher Echtzeitinformationen, um den AVV DV-technisch abbilden und somit leben zu können. Hier kommen die Vorteile der Telematik und der autarken, individuellen Datenerhebung allen nutzenden EVU zu Gute. Die Einführung von Telematiksystemen ermöglicht es, die Geschäftsprozesse des Wagenhalters und des Eisenbahnverkehrsunternehmens nicht nur übergreifend, sondern auch vollständig zu betrachten und entsprechenden Nutzen daraus zu ziehen. Ein weitergehender strategischer Nutzen ergibt sich aus den Möglichkeiten des Systems, Transparenz in die Produktionsabläufe des europäischen Eisenbahnnetzwerks zu bringen mit dem Ziel, Qualität und Performance den Markterfordernissen anzupassen und die Leistungsqualität durchgängig zu überwachen. Vor dem Hintergrund der angestrebten Interoperabilität des konventionellen transeuropäischen Bahnsystems stellt Telematik die grenzüberschreitende Wissens- und Informationsbasis dar. Die produktionsspezifischen Auswirkungen der Telematik sind hinreichend bekannt und durch einzelne Projekte auf europäischer Ebene bereits nachgewiesen worden. Durch die ermöglichte Lauf-, Status- und Zustandsüberwachung können unnötige Stillstände der Güterwagen erkannt, durch ein zielgerichtetes Gegensteuern vermieden und somit nicht nur die Umlaufgeschwindigkeit zwischen den Transporten, sondern auch die Güterwagenproduktivität signifikant erhöht werden. Dies wiederum steigert die Wettbewerbsfähigkeit. Auch sollte nicht vergessen werden, dass im Kontext Gefahrgut auf Telematik gesetzt wird, um einen weiteren spürbaren Sicherheitsgewinn zu erzielen. Der Einsatz von Telematiksystemen im Schienengüterverkehr zeigt eine zukunftsorientierte Lösung, um europaweit grenzüberschreitend und unternehmensübergreifend die erforderliche Transparenz für die Beteiligten der Supply-Chain zu schaffen. In einem modernen Supply-Chain- Managementsystem wird die Integration dieser Technologie künftig nicht mehr wegzudenken sein. Literatur [1] Baranek, M. : Einsatzmöglichkeiten von automatischen Fahrzeugidentifikationssystemen. Der Eisenbahningenieur, Ausgabe 3/ 1999 [2] Bauschulte, W.; Baranek, M. : Telematik-Ernüchterung statt Euphorie? Der Eisenbahningenieur, Ausgabe 3/ 2005 [3] Wilke, R.; Bauschulte, W.; Baranek, M. : Der intelligente Güterwagen. Der Eisenbahningenieur, Ausgabe 4/ 2008 [4] Wilke, R. : Intelligenter Güterwagen. Referat beim Bezirkstag des BFBahnen RW, November 2008 [5] Baranek, M.; Magne, O.; Schwarz, F. : Standardisierte Schnittstelle für Telematik-Anwendungen. Der Eisenbahningenieur, Ausgabe 10/ 2008