eJournals Internationales Verkehrswesen 62/6

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0078
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2010
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ÖPNV als natürlicher Mobilitätspartner

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2010
Stephan Anemüller
Auf die sich wandelnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sollten die Unternehmen des ÖPNV mit veränderten strategischen Positionierungen reagieren. Diese könnten den Ansatz „Natürlicher Mobilitätspartner aller Bürger“ beinhalten, der auf dem Leitmotiv „ÖPNV für alle Bürger, in allen Lebenslagen, in allen Kombinationen“ aufbaut, signifikante Veränderungen der Dienstleistung bedingt und ein nennenswert verändertes Image ermöglicht.
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Mobilität + Personenverkehr 39 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 6/ 2010 Abb. 1: Wie ist das Image des ÖPNV so weit zu verbessern, dass Fahrgäste noch häufiger einsteigen und neue Fahrgäste gewonnen werden? Stephan Anemüller ÖPNV als natürlicher Mobilitätspartner Kann ein Leitbild helfen, neue ÖPNV-Kunden zu gewinnen? Auf die sich wandelnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sollten die Unternehmen des ÖPNV mit veränderten strategischen Positionierungen reagieren. Diese könnten den Ansatz „Natürlicher Mobilitätspartner aller Bürger“ beinhalten, der auf dem Leitmotiv „ÖPNV für alle Bürger, in allen Lebenslagen, in allen Kombinationen“ aufbaut, signifikante Veränderungen der Dienstleistung bedingt und ein nennenswert verändertes Image ermöglicht [1]. Der Autor Stephan Anemüller, Diplom-Geograph, Referent Öffentlichkeitsarbeit des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Köln, und Teilnehmer im Studiengang Master of Science in Public Transport Management, Universität Duisburg-Essen; anemueller@vdv.de D er Begriff „Natürlicher Mobilitätspartner“ kann wie folgt umschrieben werden: Die Bürger sind von den Verkehrsdienstleistungen des ÖPNV grundsätzlich soweit überzeugt, dass sie ihre Nutzung gemeinhin oder selbstverständlich (natürlich) für konkrete Mobilitätsanforderungen erwägen. Im Folgenden soll dieser konzeptionelle Ansatz vertieft werden. Wirtschaftliche Situation Reichen die derzeitigen Anstrengungen der ÖPNV-Unternehmen aus, um in einem noch härteren finanzpolitischen Rahmen bestehen zu können? Und wie steht es um die finanzielle Lage des öffentlichen Gemeinwesens? Bei der grundsätzlichen Betrachtung der aktuellen wirtschaftlichen Situation des ÖPNV - also losgelöst von der Betrachtung konkreter Unternehmen und konkreter Verkehrsräume - fallen hauptsächlich zwei gegenläufige Trends auf: Zum einen zeigen die betriebswirtschaftlichen Bilanzen mit steigenden Kostendeckungsgraden (Kostendeckungsgrad = Relation von Nettoertrag zu Aufwand) eine nachhaltig positive Entwicklung. Der Kostendeckungsgrad der ÖPNV betreibenden Mitglieder des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) (diese Gruppierung kann aufgrund des hohen Organisationsgrads im VDV stellvertretend für die Gesamtheit der ÖPNV-Unternehmen mit Linienverkehren gewählt werden) lag 2008 bundesweit bei durchschnittlich 76,6 % (alte Bundesländer: 77,6 %, neue Bundesländer: 70,0 %). Im Jahr 2005 lag der Wert noch bei 72,2 % (72,9 % beziehungsweise 67,2 %) [2]. Die Unternehmen werden also unabhängiger von der Kofinanzierung durch öffentliche Gebietskörperschaften und entwickeln sich immer stärker in eine Ertragslage, die weitgehend direkt aus der Nachfrage der Fahrgäste resultiert. Die Tatsache, dass die Tarife im ÖPNV genehmigungspflichtig sind und die öffentliche Hand durch ihre Preispolitik auch zu Mindereinnahmen beiträgt, sei hier einmal außer Acht gelassen. Den Unternehmen ist es weiterhin möglich, einen Teil der aktuell notwendigen Investitionen (Erhaltung des Betriebs und der Bestandsinfrastruktur) und der innovativ gewünschten Investitionen (etwa Einführung neuer Vertriebstechniken, erweiterter Informationsservice) aus eigenen Mittel zu finanzieren. Stichworte hierzu sind Betriebsstabilität, Angebotsoptimierung, Vermeidung von Anlagenstillstand, Barrierefreiheit, aber auch dynamische Fahrgastinformation, elektronisches Ticketing, Elemente der Verkehrsmittelverknüpfung und weiteres mehr. Gleichwohl ist bei Investitionen die öffentliche Kofinanzierung durch Bund, Länder und Kommunen zwingend notwendig. Es darf auch nicht übersehen werden, dass die sich aus den Kundenansprüchen ergebenden „gewünschten“ Investitionen tatsächlich als notwendige Investitionen verstanden werden müssen, um den Marktanteil des ÖPNV zu halten und ausbauen zu können. Zum anderen beschreibt aber eine abnehmende Planungssicherheit für das unternehmerische Handeln den gegenläufigen Trend. Es ist unsicher, ob die öffentliche Mitfinanzierung durch Bund, Länder und Kommunen im notwendigen Umfang dauerhaft gesichert werden kann. Genauso unsicher ist, ob die benötigten Mittel stetig bereitgestellt werden und sich am Life-Circle-Cost-Ansatz orientieren (oder, anders herum, eher kurzfristig billige, aber langfristig nicht haltende Investitionen getätigt werden). Die derzeitige Situation öffentlicher Haushalte mit nach wie vor hohen sozialen Transferkosten, der absehbar greifenden Schuldenbremse sowie auch Veränderungen im rechtlichen Ordnungsrahmen schränkt die Planungssicherheit deutlich ein. Stichworte der vergangenen Jahre sind ̇ Reduzierung der Ausgleichsleistungen für Schüler- und Schwerbehindertenverkehre (nach PBefG bzw. AEG) ̇ Einschnitte bei den Regionalisierungsmitteln“ (nach RegG) ̇ offene Fragen um die Zukunft der Mittel nach GVFG/ Entflechtungsgesetz ̇ Rückstau bei Investitionen zum Bestandserhalt. In den vergangenen Jahren wurde die Zuweisung öffentlicher Mittel für den ÖPNV um mehr als 4 Mrd. EUR gekürzt. Allein für den Bestandserhalt hat sich bereits ein Bedarf von 2,35 Mrd. EUR aufgestaut, den die Verkehrsunternehmen allein nicht auflösen können und der jährlich um weitere 330 Mio. EUR nicht gedeckter Bedarfe anwächst [3]. Hinzu kommen Entwicklungen wie der demografische Wandel mit teilweise dramatischer Entleerung verschiedener Räume und mit Verschiebungen des Kundenspektrums (weniger Junge, mehr Alte). Zudem wirkt die raumstrukturelle Diversifizierung mit dispers angeordneten Wohn-, Arbeits-, Ausbildungs- und Freizeitstandorten auf die Verkehrsnachfrage und die Möglichkeiten, dieser wirtschaftlich in einem ÖPNV-Netz nachzukommen. Kurzum: Es ist nicht sicher, ob die bisher erfolgreichen Bestrebungen der ÖPNV- Unternehmen ausreichen werden, ihre wirtschaftliche Zukunft mit marktfähigen Preisen und einer größeren Unabhängig- Mobilität + Personenverkehr 40 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 6/ 2010 keit von öffentlichen Kassen zu sichern. Es kann sein, dass die aktuelle finanzpolitische Entwicklung die wirtschaftlichen Erfolge der ÖPNV-Unternehmen überrollt und einen wesentlich dramatischeren Horizont zeichnet. Gerade die Sicherung der unternehmerischen Existenz aber und auch die Gewinnung größerer unternehmerischer Gestaltungsspielräume sind das originäre Ziel einer jeden Unternehmung, die im besten Fall zudem gewünschte Erträge abwirft. Strategische Grundfragestellung Die ÖPNV-Unternehmen stehen deshalb in ihrer perspektivischen Entwicklung vor folgender grundsätzlicher Frage, deren Beantwortung individuell ausfallen wird: Kann die wirtschaftliche Zukunft des Unternehmens durch Senkung der Kosten und gleichzeitige ausreichende Erhöhung der Einnahmen gesichert werden, indem der bisherige Optimierungsweg weiter beschritten wird (Optimierungsstrategie)? - Oder ist das mit den beschriebenen gegenläufigen Trends verbundene Risiko zu hoch, so dass ein weiterreichender Ansatz für die Unternehmensstrategie gewählt werden sollte? Als weiter reichende Ansätze lassen sich zwei unterschiedliche Richtungen skizzieren, die beide die deutliche Verbesserung des betriebswirtschaftlichen Ergebnisses und zugleich die Eröffnung nennenswerter unternehmerischer Freiräume für die künftige Entwicklung zum Ziel haben: a) Optimierung und strukturelle Veränderung ausgewählter oder auch aller Segmente des Unternehmenshandelns, um ein stark verändertes Image des ÖPNV- Unternehmens zu erreichen und in der Folge signifikant mehr Stammkunden im ÖPNV zu gewinnen, Einnahmen zu erhöhen und Kosten zu senken (Strategie „Natürlicher Mobilitätspartner“) b)Verzicht auf ausgewählte Tätigkeitsfelder und Angebote des ÖPNV-Unternehmens oder Wandel der Dienstleistung insgesamt bei Addition neuer Dienstleistungen oder gar handwerklicher oder industrieller Produktion, was in der Folge dem Unternehmen einen gänzlich neuen Charakter geben wird - wobei der ÖPNV noch eine Rolle spielen kann, aber nicht muss (Strategie „Inhaltsunabhängige Unternehmenssicherung“). Beispiele der Optimierungsstrategie sind an verschiedenen Stellen umfangreich beschrieben worden und werden sicher derzeit den gewöhnlichen Weg darstellen. Die inhaltsunabhängige Unternehmensstrategie ist aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht eines Eigentümers sicher denkbar. Sie wird den an einer guten ÖPNV-Leistung des Unternehmens Interessierten jedoch eher als „Worst-case-Lösung“ erscheinen (alternativ zur Abwicklung oder dem Verkauf eines Unternehmens). Im Folgenden soll deshalb eine erste Annäherung an die Strategie des natürlichen Mobilitätspartners versucht werden. Leitbild „Natürlicher Mobilitätspartner“ Wie lässt sich ein solches Leitbild in der heutigen Zeit charakterisieren, wenn dieses geeignet sein soll, den ÖPNV-Unternehmen eine primäre Rolle bei der Bewältigung eines Großteils der Wege zu geben? Hierzu sind bisher keine konzeptionellen Darstellungen bekannt. Die Ausführungen an dieser Stelle können auch nicht mehr sein, als ein erster Aufriss, der Gedanken anstößt. Die Bewertung des ÖPNV und seiner Nutzbarkeit entsteht bei jedem Fahrgast beziehungsweise potenziellen Fahrgast im Kopf aus einer Mischung von Erfahrung mit dem ÖPNV und seinem Image (allgemein oder in konkreten örtlichen Situationen). Bei Bürgern, die den ÖPNV nicht oder nur sehr sporadisch nutzen, hat das Image der ÖPNV-Unternehmen einen recht hohen Anteil am Bewertungsprozess. Das Kölner Institut Rheingold hatte seinerzeit im Auftrag des VDV verschiedentlich psychologische Tiefenuntersuchungen durchgeführt, die an der Frage aufgehängt waren: „Wie fühlt sich der Nichtnutzer des ÖPNV bei der gedanklichen Annahme, er würde den ÖPNV nutzen oder nutzen wollen? “ Die Ergebnisse zeigten eine nicht leicht greifbare und in konkretes Handeln umsetzbare Gefühlslage. Bei den Gelegenheitskunden des ÖPNV spielen die Erfahrungen mit dem öffentlichen Verkehr und den durch sie konkret genutzten Unternehmensleistungen verständlicher Weise eine größere Rolle, wenngleich auch das Image ihres Verkehrsunternehmens nicht aus der Bewertung zu negieren ist. Für Stammkunden (meist Besitzer einer Monats- oder Jahreskarte) kann der ÖPNV bereits als eine erste Adresse bei der Bewältigung ihrer Mobilitätsanforderungen verstanden werden. Nun gilt es, den Kreis der Stammkunden des ÖPNV dauerhaft signifikant zu erhöhen und somit zu einer wesentlich verbesserten Ertragslage zu gelangen. Dies kann nur gelingen, wenn mehr Gelegenheitskunden zu Stammkunden werden und Neukunden aus dem ÖPNV-Potenzial zu gewinnen sind. Hierbei spielen eigene Erfahrungen und auch Weiterempfehlungen durch Kunden eine große Rolle. Das Produkt ÖPNV muss also überzeugen und Produktinformationen der Verkehrsunternehmen müssen aufklärend wirken, um ein falsches Image vor allem bei unerfahrenen Nichtnutzern zu korrigieren. Im Ergebnis sollte ein erfolgreich umgesetztes Leitbild „Natürlicher Mobilitätspartner“ dadurch charakterisiert sein, dass eine möglichst große Anzahl Bürger den ÖPNV grundsätzlich für geeignet hält, ihre Fortbewegung (mit) zu realisieren. Hierbei spielen unterschiedliche Kombinationen der Verkehrsmittel Rad, Pkw, Krad und auch des Zufußgehens im Vor- und Nachlauf des ÖPNV ihre kundenspezifische Rolle genauso wie die reine ÖPNV- Nutzung mit nur sehr kurzen Fußwegen. Der ÖPNV muss also mehr als Instrument im vernetzten Verkehrssystem verstanden werden denn als konkurrierendes Verkehrsmittel. Die Konkurrenzsituation sollte eher zwischen ÖPNV-freier Mobilität und Abb. 2: Der ÖPNV muss die Menschen dort erreichen, wo ihre Aktivitäten stattfinden - auch wenn die Verkehrsnetze hierbei verändert werden müssen. Abb. 3: Durch eine stärkere Verknüpfung mit anderen Verkehrmitteln kann der ÖPNV mehr Fahrgäste gewinnen. Mobilität + Personenverkehr 41 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 6/ 2010 der Unternehmensstrategie auf das Notwendige und Weiterbringende zu denken. Die alte Weisheit „keep it simple“ ist dabei nicht die schlechteste, denn nicht bei jeder Innovation stehen Investitionskosten und Nutzen in einem gesunden Gleichgewicht. „Simple“ beißt sich hierbei nicht mit „modern“, ganz im Gegenteil. Kennzeichnend für eine ÖPNV-Dienstleistung unter dem Leitbild „Natürlicher Mobilitätspartner“ könnte sein: Die Dienstleistung wird insgesamt wieder stimmig gemacht, indem alle Teilbereiche der Unternehmensleistung optimiert und eventuell modifiziert werden. Bei der Komplexität des Systems ÖPNV ist dies kein unbedeutendes ÖPNV-(mit)nutzender Mobilität gesehen werden. Als entscheidendes Merkmal kann hierbei definiert werden, dass sich der Bürger bei der Planung seiner Aktivitäten zuerst fragt, ob der ÖPNV geeignet ist (in welcher Kombination auch immer), seine Wege zu bewältigen. Wird dies im Entscheidungsprozess für einzelne Wege oder Wegeketten bejaht, sollte die Nutzung naheliegend sein. Wird es verneint, wird in diesen konkreten Fällen eine ÖPNVfreie Mobilität die Folge sein. Anders formuliert: Ein natürlicher Mobilitätspartner ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass der Bürger im ÖPNV grundsätzlich keine Alternative sieht und zunächst andere Verkehrsmittel(kombinationen) bewertet - und am Ende gelegentlich doch in öffentliche Verkehrsmittel einsteigt. Das Leitbild vom natürlichen Mobilitätspartner umfasst im Kern also eine zumindest aufgeschlossene, wenn nicht sogar überzeugte Wertschätzung des ÖPNV bei den Bürgern als eine sinnvoll nutzbare Mobilitätsform. Nun stellt sich die Frage, wie groß der Kreis der Menschen sein muss, für die der ÖPNV diese Rolle einnimmt, um insgesamt dieses Image zu besitzen. Dies wird sich nicht an einer konkreten Größe festmachen lassen. Vielmehr sind persönliche und räumliche Differenzierungen notwendig. Persönlich nach: ̇ Altersgruppen, Berufstätigkeit, Lebensphasen und Mobilitätsgruppen (wie Elternteil - Kind) ̇ typischen Tagesablaufmustern ̇ Mobilitätsmustern, Wegeketten und Wegehäufigkeiten ̇ Reisezeitgestaltungsmustern (etwa Anspruch auf störungsfreie Individualität oder gruppentaugliche Präferenzen). Räumlich nach: ̇ Wohnstandort, Standort von Arbeit, Ausbildung, Schule oder Hochschule und deren Relationen zueinander ̇ Standorten und Ausprägungen von Freizeitaktivitäten, Versorgungs- und Erledigungsaktivitäten in Relation zu den Standorten der vorangehenden und nachfolgenden Aufenthalte ̇ nach Raumkategorie des Wohnstandorts und des alltäglichen Lebensumfelds (ländlicher Raum, Verdichtungsraum, Ballungsraum/ Ober-, Mittel-, Unterzentrum, ländlicher Zentralort/ Stadtzentrum, Stadtrand, Vorort). Neues Leitbild und aktuelle Unternehmensstrategien Was unterscheidet das Leitbild „Natürlicher Mobilitätspartner“ vom vielerorts angestrebten und realisierten „guten ÖPNV“? Zunächst einmal ist das heutige Bestreben der meisten ÖPNV-Unternehmen geprägt davon, ihre Entwicklung in einem vor allem finanziell schwierigen Umfeld zu gestalten, Angebotskürzungen möglichst zu vermeiden und zugleich über das Marketing neue Kunden und Stammkunden zu gewinnen. Sie sind dabei auf dem Weg, eine signifikant verbesserte Wertschätzung bei den Bürgern zu erreichen. Die gegebenen schwierigen Umstände sind die einzigen, unter denen sie arbeiten können. In vielen Fällen suchen die Unternehmen aber auch nach einem Durchbruch, der ihnen ganz andere Kundenkreise aus dem ÖPNV-Potenzial zuführen kann. Die individuelle Formulierung eines Leitbilds „Natürlicher Mobilitätspartner“ kann den Unternehmen gegebenenfalls helfen, ihr Zielgerüst zu justieren und auch das örtliche Gemeinwesen aktiv einzubinden, die Entwicklungsprozesse vor Ort (Nahverkehrsplanung, Wirtschaftsförderung, Bauleitplanung, kommunale Investitionsförderung, …) weitreichender zu beeinflussen. Hierbei ist aber auch an eine Konzentration Passenger information systems Stockfeldstraße 1 76437 Rastatt GERMANY Phone: +49 (0) 7222 / 1001- 0 Fax: +49 (0) 7222 / 1001-134 www.lawo.info Abb. 4: Ein Bus auf Abwegen? Die AG Ems hat unter anderem mit der Borkumer Kleinbahn ihr Unternehmensprofil bereits in der Vergangenheit gewandelt. Touristische Verkehre und ÖP- NV-Sicherung gehen hier Hand in Hand. Alle Fotos: Stephan Anemüller Mobilität + Personenverkehr 42 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 6/ 2010 Tarife, Fahrpläne) erst kennen lernen. Erfahrungen mit dieser Gruppe können gut für die Ansprache heimischer Nichtkunden ohne ÖPNV-Erfahrung genutzt werden. Touristen wie etwa in Köln, Düsseldorf und Berlin sind somit gute Probanden, um die gesamte Dienstleistung zielorientiert weiter zu entwickeln. Literatur [1] Anemüller, S. : Den demographischen Wandel als Chance für den ÖPNV nutzen. Strategien für die Positionierung von Verkehrsunternehmen. In: Der Nahverkehr, Heft 7-8/ 2008, S. 20; Alba Fachverlag, Düsseldorf, 2008 [2] Weiß, M.; Sieburg-Gräff, U. : Kostendeckungsgrad 2008 leicht gestiegen. In: VDV-Jahresbericht 2009, S. 35 ff; Eigenverlag des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Köln, 2010 [3] VDV et al.: Finanzierungsbedarf des ÖPNV bis 2025. Studie im Auftrag des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), des Deutschen Städtetags und von 13 Bundesländern. Eigenverlag des VDV, Köln, 2009 [4] Holz-Rau, C.; Scheiner, J., et. al. : Entwicklung des Verkehrshandelns seit 1930. Vergleich dreier Generationen. In: Internationales Verkehrswesen (62) Heft 4/ 2010, S. 10 ff; Verlag DVV Media Group GmbH, Hamburg, 2010 [5] Ackermann, T. : Marktforschung als Grundlage für das Marketing - Kundenzufriedenheit, Kundenwünsche und Innovationen. In: Bus & Bahn, Heft 5-2010; Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, Köln, 2010 Aussicht Es gilt, diesen Ansatz im Detail zu konstruieren und das Wesen der derzeit noch nicht gewonnenen Nichtnutzer genauer zu beschreiben. Insbesondere sind die Prozessfelder zu identifizieren, auf denen die Leistungen des ÖPNV verändert, ergänzt oder auch reduziert werden müssen. Hierzu liegen einige Untersuchungen vor, die wichtige Aufschlüsse geben können. Die einzelnen Unternehmen müssen ein solches generalisiertes Leitbild jedoch in eigene konkrete Unternehmensstrategien einbringen. Hierbei wird es zahlreiche individuelle Unterschiede geben. Für die Konkretisierung und eventuell anschließende Implementierung kann die Fahrgastgruppe der Touristen empfohlen werden. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie während ihrer Urlaubsreisen (Geschäftsreisende einmal außen vor gelassen) offen für Neues sind und auch öffentliche Verkehrsmittel ausprobieren, solange sie ihnen einfach angeboten werden. Zugleich verhalten sich Menschen im Urlaub wie Nichtnutzer des ÖPNV am Heimatort, sie müssen die Nutzungsmöglichkeiten (Haltestellenlagen, Linienwege, Unterfangen. Es entspricht weitgehend dem Ansatz einer Optimierungsstrategie. Im Mittelpunkt kann hierbei das Motiv „schnell, sicher und attraktiv“ stehen. Im Ergebnis kommt etwa der Minimierung von Türdefekten an den Fahrzeugen ein höherer Wert zu als der Grad Celsius-genauen Einstellung der (dann doch nur theoretisch erreichbaren) Fahrzeuginnentemperatur. Auch wird zielgenauen Störfallinformationen mehr Wert eingeräumt als zusätzlichen, ÖPNV-fernen Informationsdiensten in „social communities“. Genauso wird der handhabbaren und Vertrauen schaffenden Übersichtlichkeit des Tarifsystems der Vorzug vor bis ins kleinste Detail ausgefeilten „Ticketbuffets“ eingeräumt. Die Dienstleistung wird an die Ansprüche der derzeitigen Fahrgäste und vor allem an die Ansprüche der noch zu gewinnenden neuen Kunden angepasst, indem Teilleistungen wie zum Beispiel dynamische Fahrgastinformationen, elektronisches Ticketing, nutzeroptimierte Fahrkartenautomaten, selbsterklärende Wegeführung an Verknüpfungspunkten, barrierefreie Zugänge, Vernetzungselemente mit anderen Verkehrsmitteln (neben P&R auch B&R, Mietfahrräder, Car- Sharing und mehr) hinzugefügt werden. Hierin liegen zentrale Erfolgsfaktoren für einen beabsichtigten Durchbruch bei der Gewinnung neuer Fahrgastkreise aus dem ÖPNV-Potenzial. Ein Grundgedanke in diesem gesamten Vorhaben kann es sein, die Anforderungsvielfalt der existierenden und der zu gewinnenden Fahrgäste in einem möglichst einfachen System vereinen zu wollen. Anregungen hierzu kann der Convenience-Gedanke aus dem Dienstleistungsmarketing des Einzelhandels beisteuern. Ganz sicher ist der Faktor „Bequemlichkeit des Pkw“ ein wesentlicher Maßstab. Das Leitbild „Natürlicher Mobilitätspartner“ widerspricht den soliden aktuellen Unternehmensstrategien aber nicht. Vielmehr kann ein solches Leitbild dazu dienen, diese Strategien sinnvoll zu erweitern und zugleich auf das Gesamtziel zu konzentrieren. Kurz erläutert In diesem Begriff stecken vor allem zwei Worte, die charakteristisch sind: „natürlich“ und „Partner“. Partner(schaft) hat etwas mit Vertrauen zu tun. Eine gute ÖPNV-Dienstleistung ist möglichst störungsarm. Der Fahrgast kann also etwa darauf vertrauen, im Normalfall pünktlich an sein Ziel zu gelangen - genauso wie er dies in der Regel bei der Nutzung seines Pkw gewohnt ist (Außeneinwirkungen nicht berücksichtigt). „Natürlich“ meint hier nicht den Aspekt des Klima- und Umweltschutzes und somit auch nicht das von Vernunft geleitete Handeln, Busse und Bahnen aus Umweltvorsorge zu nutzen. Vielmehr spricht „natürlich“ hier die pragmatische-rationale Überzeugung an, möglichst Busse und Bahnen nutzen zu wollen, weil diese den handfesten Interessen des Verkehrsteilnehmers nachkommen. Diese Überzeugung kann sich dann einstellen, wenn die praktische Erfahrung die Attraktivität des ÖPNV belegt - und zugleich die Einschränkungen des MIV genauso bewusst sind. Hierbei spielt also Ratio eine entscheidende Rolle, die durch verantwortungsvolles Handeln gestärkt werden kann. „Natürlicher Mobilitätspartner“ Ticketingsysteme Telematiklösungen www.almex.de by Höft & Wessel