eJournals Internationales Verkehrswesen 62/7-8

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0103
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2010
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Neat ist der Schlüssel der Schweizer Verkehrsverlagerungspolitik

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Gregor Saladin
Im Oktober 2010 ist es soweit: im Gotthardmassiv werden sich die Mineure beider Seiten die Hände reichen können. Dann wird der mit 57 km längste Bahntunnel der Welt vollständig durchbrochen sein. In der Weströhre beim Südportal des Gotthard-Basistunnels hat bereits der Einbau der Bahntechnik begonnen, vorerst auf einer 16 km langen Strecke. Ab 2013 finden hier Testfahrten mit Geschwindigkeiten von bis zu 230 km/h statt.
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Infrastruktur + Verkehrspolitik 46 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 7+8/ 2010 Abb. 1: Südportal des Gotthard-Basistunnels bei Bodio Gregor Saladin Neat ist der Schlüssel der Schweizer Verkehrsverlagerungspolitik Im Oktober 2010 ist es soweit: im Gotthardmassiv werden sich die Mineure beider Seiten die Hände reichen können. Dann wird der mit 57 km längste Bahntunnel der Welt vollständig durchbrochen sein. In der Weströhre beim Südportal des Gotthard- Basistunnels hat bereits der Einbau der Bahntechnik begonnen, vorerst auf einer 16 km langen Strecke. Ab 2013 finden hier Testfahrten mit Geschwindigkeiten von bis zu 230 km/ h statt. Der Autor Gregor Saladin, Sektionschef Information und Informatik, Bundesamt für Verkehr BAV, Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, CH-3063 Ittigen; gregor.saladin@bav.admin.ch D as Jahrhundertbauwerk markiert einen Meilenstein in der Mobilität der Menschen in Europa. Mit dem Gotthard-Basistunnel ab 2017 und der neuen Flachbahn durch die Alpen, die voraussichtlich von 2019 an auf der gesamten Achse verkehren wird, werden Menschen und Güter bei der Querung der Alpen weder Steigungen noch Kehrtunnel in Kauf nehmen müssen. Dies bedeutet in erster Linie großen Zeitgewinn und eine Erhöhung der Kapazitäten. Dies wiederum ist die Voraussetzung für eine Verbesserung der Lebensqualität jener Menschen, die entlang des Alpenkorridors heute noch tagtäglich Lärm und Abgasen von Tausenden von Lkw ausgesetzt sind. Die Schweiz finanziert als wichtiges Transitland die Neat-Großprojekte allein, also ohne EU-Hilfe. Insgesamt werden rund 20 Mrd. EUR in die Erneuerung der Bahninfrastruktur fließen, davon 11 Mrd. in die Neat. Um die Finanzierung der Projekte langfristig zu sichern, schuf der Bund mit Zustimmung des Volks einen rechtlich unselbstständigen Fonds mit eigener Rechnung (FinöV). Die Mittel aus Abgaben und Steuern werden über die Finanzrechnung des Bundes verbucht und im gleichen Jahr in den Fonds eingelegt. Diese Mittel stammen aus zwei Dritteln der Erträge der LS- VA, aus der Mineralölsteuer (diese deckt 25 % der Kosten der Neat) und der Mehrwertsteuer (ein Promille). Dieser Fonds hat eine europaweit einmalige Planungs- und Realisierungssicherheit für die Infrastrukturprojekte gebracht, da die Mittel den jährlichen Budgetdiskussionen entzogen waren und sind. Rückblick Am Anfang dieser Erfolgsgeschichte steht der Wille der Politik und der Schweizer Bevölkerung: Zu Beginn der 1990er Jahre wurden dem Volk verschiedene Bahnprojekte zur Abstimmung vorlegt, die alle zum Ziel hatten, die Bahninfrastruktur, die lange Zeit zugunsten der Straßennetze vernachlässigt worden war, zu erneuern und auszubauen. Die explosionsartige Steigerung der Mobilität erforderte dringend neue Lösungen. 1992 haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger einer Vorlage mit dem Titel „Neue Eisenbahn-Alpentransversale“, kurz Neat, zugestimmt. Das Ziel der Neat ist ein massiver Ausbau der Schieneninfrastruktur: Neue Basistunnel am Gotthard, am Ceneri und am Lötschberg mit Ausbauten auf den Zufahrtsstrecken sollen dem Personen- und Güterverkehr kürzere, schnellere und leistungsfähigere Nord-Süd-Verbindungen bieten. Der Basistunnnel durch den Lötschberg konnte bereits 2007 nach einer Bauzeit von rund acht Jahren in Betrieb genommen werden. Die Strecke durch den 34,6 km langen Tunnel, der das Berner Oberland mit dem Wallis verbindet, erspart gegenüber der alten Verbindung bis zu eine Stunde Fahrzeit. Der Erfolg hat mittlerweile die kühnsten Erwartungen übertroffen: Die Nachfrage in der Personenbeförderung hat seit der Eröffnung um 30 % zugenommen. Mit dem 15,4 km langen Ceneri-Basistunnel im Tessin, dem kleinen Bruder des Gotthard-Basistunnels, schließlich wird die alpenquerende Flachbahn auf der Gotthardachse komplettiert. Er wird voraussichtlich im Jahr 2019 in Betrieb genommen werden können. Alpeninitiative Zentrales Anliegen dieser Großprojekte ist, dass sich mit den damit verbundenen Kapazitätssteigerungen ein großer Teil des alpenquerenden Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene verlagern lässt. Das Schweizer Volk hat hier ehrgeizige Ziele gesteckt: In der Alpeninitiative von 1994, die damals zur Überraschung vieler vom Stimmvolk angenommen worden war, wird gefordert, dass sich der Schwerverkehr durch die Alpen halbieren soll - von jährlich 1,4 Mio. Lkw im Jahr 2000 auf 650 000 im Jahr 2009. Folgende Maßnahmen wurden ergriffen, um die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Bahn zu fördern: ̇ LSVA: Die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) wird seit Anfang 2001 von allen Lkw, welche das Schweizer Straßennetz benutzen, als distanz-, gewichts- und emissionsabhängige Abgabe erhoben. Damit wird der Güter- Infrastruktur + Verkehrspolitik 47 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 7+8/ 2010 das Jahr 2019 - zwei Jahre nach Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels. Alpentransitbörse Damit gilt die Neat als die wesentliche technische Voraussetzung für eine erfolgreiche Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. Allerdings müssen weitere Anreize und lenkende Maßnahmen ergriffen werden, um europäische Transporteure zu einem Umstieg auf die Schiene zu bewegen. Die Alpeninitiative brachte das Instrument „Alpentransitbörse“ mit zwei Varianten in die Diskussion ein: die Variante „Cap and Trade“ behandelt die Lkw-Fahrten über die Alpen als mengenmäßig zu beschränkendes Gut; die Beschränkung kann sich dabei entweder auf die Anzahl der Fahrten oder auf die Emissionsmenge beziehen. Eine fixe Anzahl Durchfahrtsrechte wird entweder kostenlos verteilt, zu einem festen Preis verkauft oder versteigert. Die Variante „Slotmanagement“ ist ein freiwilliges System mit handelbaren Reservationsrechten. Es berechtigt zu einer Durchfahrt in einem bestimmten Zeitfenster (slot). Beide Kammern des Schweizer Parlaments befürworten mittlerweile die Schaffung einer Alpentransitbörse. Eine solche soll jedoch in den Augen der Schweiz nur koordiniert mit den anderen Alpenländern und in Absprache mit der EU eingerichtet werden. ̇ Förderung des Kombinierten Verkehrs (durch Investitionsbeiträge etc.) ̇ Stärkung des Wettbewerbs im Rahmen der Bahnreformen. Bald wurde klar, dass das ehrgeizige Verlagerungsziel innerhalb der im Gesetz festgelegten Frist bis 2009 nicht erreicht werden konnte. So haben Bundesrat und Parlament eine neue Frist festgelegt, nämlich Abb. 2: Ausbruchsicherung mittels Bergbautechnik: Stahleinbauversuch in Sedrun transport durch die Schweiz auf der Straße verteuert. Gleichzeitig werden die Einnahmen für den Ausbau des Schienenverkehrs genutzt. Diese Maßnahme zeigte schon bald Wirkung: Der Lkw- Verkehr stieg deutlich weniger stark an als prognostiziert. Zudem investierten die Transporteure vermehrt in emissionsärmere Fahrzeuge. Gotthard-Basistunnel Am 15. Oktober 2010 soll der erste Hauptdurchschlag im Gotthard-Basistunnel erfolgt sein. Von den insgesamt 152 km Tunnel, Schächten und Stollen, die den Ceneri-Basistunnel als südlichen Zubringer einbeziehen, sind 96 %ausgebrochen. Die Eröffnung des 57 km langen, eigentlichen Gotthardtunnels ist für Dezember 2017 geplant, die des 15,4 km langen Ceneritunnels 2020. Wenn Ende 2017 der Gotthard-Basistunnel wie geplant den Betrieb aufnimmt, soll der alpenquerende Schienengüterverkehr deutlich zulegen. Rund 220 bis 260 Güterzüge pro Tag sollen dann durch den neuen Gotthardtunnel rollen. Das würde den Anteil des Kombinierten Verkehrs am gesamten Güterverkehr in der Schweiz von heute 60 auf 75 % anheben. Doch bald wurde deutlich, dass dieses ambitionierte Ziel der Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene innerhalb der zunächst festgelegten Frist bis 2009 nicht erreicht werden konnten. So ist beispielsweise das italienische Schienennetz überhaupt nicht für die neuen Verkehre ausgebaut. Ausbaupläne liegen zwar vor, sind jedoch häufig nicht über die erste Planungsphase hinaus konkretisiert. Die neue Frist wurde daher auf das Jahr 2019 festgelegt - also zwei Jahre nach Inbetriebnahme des Gotthardtunnels. BG Längster Tunnel der Welt