eJournals Internationales Verkehrswesen 62/7-8

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0104
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2010
627-8

Alltagsproblem Stau

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2010
Jürgen Berlitz
Wolfgang Kugele
Stau ist ein Alltagsproblem für Millionen von Autofahrern in Deutschland. In den letzten Jahren ist ein immenser Investitionsrückstand bei den Bundesfernstraßen aufgelaufen. Rund 40 % der Bundesstraßen sowie eine große Zahl der rechten Fahrstreifen auf den Autobahnen sind in einem schlechten Zustand, viele der 38 400 Brücken des Bundes müssen dringend saniert werden. Beim Autobahnausbau konnte bis Ende 2009 nur etwa ein Viertel der im Bedarfsplan enthaltenen Maßnahmen realisiert werden.
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Infrastruktur + Verkehrspolitik 48 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 7+8/ 2010 Jürgen Berlitz / Wolfgang Kugele Alltagsproblem Stau Handlungsoptionen zur Verbesserung der Bundesfernstraßeninfrastruktur Stau ist ein Alltagsproblem für Millionen von Autofahrern in Deutschland. In den letzten Jahren ist ein immenser Investitionsrückstand bei den Bundesfernstraßen aufgelaufen. Rund 40 % der Bundesstraßen sowie eine große Zahl der rechten Fahrstreifen auf den Autobahnen sind in einem schlechten Zustand, viele der 38 400 Brücken des Bundes müssen dringend saniert werden. Beim Autobahnausbau konnte bis Ende 2009 nur etwa ein Viertel der im Bedarfsplan enthaltenen Maßnahmen realisiert werden. [1] Die Autoren Ass. jur./ Betriebswirt Wolfgang Kugele, Dipl.-Ing. Jürgen Berlitz, Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e.V., München, juergen.berlitz@adac.de 1 Stausituation auf deutschen Autobahnen In den Jahren 2008 und 2009 wurden knapp 130 000 bzw. 140 000 Stauereignisse pro Jahr auf Autobahnen gemeldet. Dies belegt die Auswertung der ADAC-Staudatenbank. Pro Tag staute sich der Verkehr auf Autobahnen im Durchschnitt auf etwa 1000 km Länge. Die gemeldeten Staulängen summierten sich zu einer Gesamtlänge von etwa 375 000 bzw. 350 000 km. Dies entspricht einem Stau, der knapp zehnmal um den Erdball reicht. Der Monat mit den meisten gemeldeten Verkehrsbehinderungen war jeweils der Oktober mit ca. 14 000 Staus und einer Gesamtstaulänge von rd. 40 000 km. Im Vergleich dazu war der stauärmste Monat der Januar mit rund 7500 Staus mit einer Gesamtlänge von etwa 22 000 km. Als staureichster Tag hat sich der Freitag herausgestellt mit im Schnitt 490 Staus, die insgesamt etwa 1500 km lang sind, als stauärmster der Sonntag mit durchschnittlich etwa 140 Staumeldungen und einer Gesamtstaulänge von 450 km. Die Top 3 bei den Staukilometern waren die Bundesländer Nordrhein-Westfalen (36 %), Bayern (17 %) und Baden-Württemberg (12 %). Nimmt man Hessen und Niedersachsen hinzu, stammen gut 80 % aller Staukilometer aus diesen fünf Flächenländern, weitere rund 5 % aus Berlin. Auf die fünf neuen Bundesländer entfielen lediglich 5 % der Staus. Bezogen auf das vorhandene Autobahnnetz werden pro km Autobahn die meisten Staus in Berlin gemeldet, in Mecklenburg-Vorpommern die wenigsten. Anhand der ADAC-Staudatenbank wurden 20 stauauffällige Autobahnabschnitte ermittelt. Von diesen Abschnitten mit einer Gesamtlänge von knapp 1500 km (etwa 12 % des deutschen Autobahnnetzes) stammen etwa die Hälfte aller gemeldeten Staus bzw. Staukilometer. 2 Erheblicher Ausbaubedarf Es ist offensichtlich, dass die Fernstraßeninfrastruktur aufgrund der zahlreichen Kapazitätsengpässe ihren Anforderungen nicht mehr gerecht wird. So klafft bereits heute bei der Umsetzung des derzeitigen Bedarfsplans (Zeitraum 2001− 2015) eine deutliche Lücke. Beim Autobahn-Ausbau - also im Bereich der wichtigen Engpassbeseitigung - wurde bis Ende 2009 nur rund ein Viertel der vordringlich eingestuften Maßnahmen umgesetzt. Nach allen seriösen mittelbis langfristigen Prognosen wird die Verkehrsnachfrage im deutschen Autobahnnetz auch künftig weiter stark zunehmen. Bis zum Jahr 2025 ist für den motorisierten Individualverkehr ein Zuwachs von 16 %, im Straßengüterverkehr eine Zunahme von 71 % prognostiziert (Bezugsjahr 2004). 2 Ein zügiger Ausbau der überlasteten Autobahnen ist daher erforderlich, um mit der steigenden Nachfrage Schritt zu halten. Die Auswertung der ADAC-Staudatenbank untermauert diese Notwendigkeit. Der ADAC hat seine anlässlich der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplans (BVWP 2003) formulierten Ausbauforderungen im Rahmen einer Studie von Intraplan 3 für den Prognosehorizont 2015 überprüft und priorisiert. Dazu wurde die Wirkung der geforderten Ausbaumaßnahmen im Sinne einer Reduzierung von Verkehrsengpässen im anzunehmenden Autobahnnetz des Jahres 2015 untersucht. Maßgebendes Kriterium für die Prioritätensetzung war die Frage, welche Qualitätsstufe auf dem betroffenen Autobahnabschnitt angesichts des zu erwartenden Belastungsniveaus im Jahr 2015 ohne Ausbau erzielt würde. Je schlechter die zu erwartende Verkehrsqualität auf einem Autobahnabschnitt ist, desto dringlicher ist die Ausbaumaßnahme und umso höher damit die Priorität des Projekts. Ergebnis der Studie war, dass zusätzlich zu den voraussichtlich bis 2015 realisierten Ausbaumaßnahmen über 1000 Autobahnkilometer dringend zeitnah ausgebaut werden müssen, um die für 2015 prognostizierten Verkehrsmengen abwickeln zu können. Darüber hinaus sind weitere etwa 650 km hoch belastete Autobahn auszubauen. Neben dem Ausbau vorhandener Autobahnen besteht die Notwendigkeit einer Erweiterung des Autobahnnetzes mit zum Teil hoher Priorität. Zur Ertüchtigung überlasteter Autobahnen, kann der Einsatz von Verkehrsbeeinflussungsanlagen mit temporärer Seitenstreifenfreigabe einen wirkungsvollen Beitrag zur vergleichweise kurzfristigen Kapazitätserhöhung leisten. Um Staus infolge von Baustellen und Unfällen zu reduzieren, sind das Baustellensowie das Störfallmanagement im Hinblick auf die verkehrlichen Aspekte zu verbessern. 3 Prioritätensetzung bei Maßnahmen im Bundesfernstraßennetz Ein maßgebendes Qualitätskriterium für die Straßeninfrastruktur ist die Verkehrsqualität. Diese kann gemäß dem Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS) ermittelt werden. Im Vordergrund steht dabei die Leistungsfähigkeit bzw. Zuverlässigkeit. Die Eingangsdaten zur Ermittlung dieser Qualitätskenngröße sind vorhanden, werden bislang aber nicht systematisch zur verkehrlichen Bewertung und zur Festlegung von Prioritäten herangezogen. Engpässe stellen jedoch eine Entwertung der übrigen Infrastrukturteile dar. Zur Prioritätenreihung sowie für die bedarfsgerechte Finanzierung von Maßnahmen im Bundesfernstraßennetz muss deshalb künftig die Verkehrsqualität bzw. die Wirkung der Projekte im Sinne einer Reduzierung von Verkehrsengpässen als ein wesentliches Beurteilungskriterium herangezogen werden. 4 Problem der Finanzierung nach „Kassenlage“ Eine Hauptursache für die zunehmenden Defizite bei der Straßeninfrastruktur ist die zu geringe und unstetige Finanzierung. Auch wenn durch die Bedarfsplanung eine Festlegung von Projekten erfolgt, ist damit aber weder die Finanzierung noch der Realisierungszeitraum dieser Vorhaben gesichert. Gemäß § 2 FStrAbG erfolgt der Ausbau „nach Maßgabe der (jährlich schwankenden) zur Verfügung stehenden Mittel“. Auch die Einführung der Lkw-Maut führte, trotz gestiegener Einnahmen, bislang zu keiner signifikanten Steigerung der investiven Mittel, da die Mauteinnahmen regelmäßig bei der Straße nur Haushalts- Infrastruktur + Verkehrspolitik 49 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 7+8/ 2010 Tab. 1: Ausgesuchte Wegekostendeckungsgrade 1 des Straßenverkehrs 2007 (Grenzkostenallokation nach Ergebnissen des AASHO-Road-Tests) - in Prozent - Straßen insgesamt Bundesautobahnen Bundesstraßen Bundesfernstraßen insgesamt Inländische Kraftfahrzeuge 163 316 208 267 Personenkraftwagen 2 208 421 280 347 Nutzfahrzeuge des Güterverkehrs 3 99 233 91 184 Ausländische Kraftfahrzeuge 58 157 46 129 Personenkraftwagen 2 89 195 138 172 Nutzfahrzeuge des Güterverkehrs 3 54 154 25 124 Kraftfahrzeuge insgesamt 149 282 192 244 1 Bei einer Kapitalverzinsung von 2,5 % p. a. 2 Im Solo- und Zugbetrieb; einschließlich Wohnmobile. 3 Im Solo- und Zugbetrieb; die Zuordnung zu Gewichtsklassen folgt dem zulässigen Gesamtgewicht der Fahrzeugkombination. Quelle: Berechnungen des DIW Berlin. Abb. 1: Forderungen des ADAC zum Ausbau bestehender Autobahnen im Jahr 2015 mittel ersetzten. Diese „Kannibalisierung“ setzt sich auch in der aktuellen Finanzplanung fort. Wichtige Ausbaumaßnahmen und Lückenschlüsse zur Engpassbeseitigung werden so noch lange auf sich warten lassen. Auch beim Erhalt besteht ein enormer Investitionsstau. Eine ausreichende Qualität der Bundesfernstraßen kann nur mit einer verstärkt substanzorientierten Erhaltung gesichert werden. Diese wird allerdings durch jährlich neu festzulegende Etatansätze erschwert. Nach neueren Schätzungen sind wohl 3 bis 3,5 Mrd. EUR pro Jahr für den Erhalt der Bundesfernstraßen erforderlich. 5 Verstetigung der Investitionsmittel für die Bundesfernstraßen Eine Neuordnung der Fernstraßenfinanzierung ist aus Sicht des ADAC unumgänglich, um die benötigten Mittel für die Straße langfristig und auskömmlich zu sichern. Dabei legen es die Ergebnisse der zweiten Föderalismuskommission nahe, dass eine Neukonzeption, die an der gegenwärtigen Verfassungsrechtslage - insbesondere an Art. 90 Abs. 2 GG - etwas ändern würde, zurzeit nicht gewollt ist. Eine solche Neukonzeption muss sich vielmehr an der gültigen Verteilung der Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten gem. der Art. 85 ff. ebenso orientieren wie an den haushalts- und finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 104a ff. Das ADAC-Modell „Auto finanziert Straße“ 4 sieht eine mehrjährig verlässliche Bereitstellung von Mitteln aus den spezifischen Abgaben des Kraftverkehrs für die Finanzierung der Bundesfernstraßen vor. Der Vorschlag stellt auf eine verlässliche überjährige Zweckbindung von Haushaltsmitteln auf Basis der bestehenden Steuern (v. a. der Mineralölsteuer) und Gebühren (Lkw-Maut) ab. Ziel ist eine über die jährliche Verabschiedung des Bundeshaushalts hinausgehende Selbstbindung des Haushaltsgesetzgebers. Entgegen einer teilweise vertretenen Ansicht steht dabei einer bedarfsgerechten Verwendung der Autofahrerabgaben nicht die Erhebung als Steuer entgegen, sondern der fehlende haushaltspolitische Wille zur zweckgebundenen und bedarfsgerechten Bereitstellung dieser Mittel. Die Straßennutzer in Deutschland bezahlen jährlich bereits ein Vielfaches an spezifischen Abgaben (Mineralölsteuer, Kfz-Steuer, anteilige Mehrwertsteuer auf die Mineralölsteuer und Lkw-Autobahngebühr) an den deutschen Fiskus. Der inländische Pkw-Verkehr deckt seine Kosten auf allen Straßen zu über 200 % und auf den Autobahnen sogar zu 420 %. 5 Das Modell „Auto finanziert Straße“ wird von vier Leitgedanken getragen: ̇ Aus der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft wird eine Bundesfernstraßenfinanzierungsgesellschaft entwickelt. ̇ Die Netto-Einnahmen aus der Lkw-Maut fließen vollständig in Investitionen in die Fernstraßen. Infrastruktur + Verkehrspolitik 50 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 7+8/ 2010 ̇ Die Bundesfernstraßengesellschaft erhält aus dem Bundeshaushalt einen zweckgebundenen Teil des Mineralölsteueraufkommens zugewiesen, so dass mit Lkw-Maut mindestens 7 Mrd. EUR p. a. zur Verfügung stehen. ̇ Die Mittel werden im Rahmen einer vertraglichen Vereinbarung zwischen Bund und Ländern über mehrere Haushaltsjahre verstetigt. Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung - kurz LuFV genannt - im Eisenbahnwesen beweist eindrucksvoll, dass es möglich ist, auch im bestehenden Haushaltssystem einen festen Betrag mehrjährig für Infrastrukturinvestitionen zu sichern. Dieses Instrument sollte auch für die Bundesfernstraßenfinanzierung genutzt werden. 6 Fazit Die Auswertung der ADAC-Staudatenbank untermauert die ADAC-Forderungen zum Ausbau des bestehenden Autobahnnetzes und zur Neuordnung der Bundesfernstraßenfinanzierung. Verkehrsengpässe stellen eine Entwertung der übrigen Infrastrukturteile dar. Bei der Priorisierung der Maßnahmen muss daher künftig die Verkehrsqualität maßgeblich berücksichtigt werden und stärker im Vordergrund stehen. Eine Hauptursache für die zunehmenden Engpässe im Autobahnnetz ist dabei die zu geringe und unstetige Finanzierung durch den Bund. Die Unterfinanzierung führt zudem zu wachsendem Substanzverzehr im Autobahnnetz. Die Finanzierungsmittel für Investitionen in die Bundesfernstraßeninfrastruktur müssen daher deutlich auf 7 Mrd. EUR pro Jahr aufgestockt werden. Mehrjahresverträge - wie Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen - können zur Überwindung von Defiziten in der Bundesfernstraßenplanung und -finanzierung herangezogen werden, indem sie eine langfristige Finanzierungs- und Planungsperspektive eröffnen. 1 Vgl. BMVBS (Hrsg.), Verkehrsinvestitionsbericht 2009 2 Intraplan/ BVU, Prognose der deutschlandweiten Verkehrsverflechtung 2025, BMVBS (Hrsg.), 2007 3 Vgl. Intraplan Consult GmbH, Priorisierung der ADAC-Forderungen zum Ausbau des BAB-Netzes, in: ADAC-Studien zur Mobilität (Hrsg.), 2008 4 Vgl. ADAC e.V. (Hrsg.), Das ADAC-Modell „Auto finanziert Straße“, München 2005 5 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Wegekosten und Wegekostendeckung des Straßen- und Schienenverkehrs in Deutschland im Jahre 2007 Abb. 2: Modell „Auto finanziert Straße“ Es ist begrüßenswert, wenn ein Unternehmen seine Produkte nicht nur nach Leistungsfähigkeit und Komfort, sondern auch nach umweltrelevanten Gesichtspunkten beurteilt und anbietet. Die Möglichkeiten der modernen Messtechnik und Datenverarbeitung für die Reduzierung der Umweltbelastung in so komplexer und vielfach vernetzter Form zu nutzen, ist alle Aufmerksamkeit wert. Wer jedoch unter dem anspruchsvollen Titel „Nachhaltigkeit ganzheitlich betrachtet“, schreibt, muss sich auch gefallen lassen, dass der Leser die Darlegungen unter ganzheitlichen Gesichtspunkten liest. Und so wundert man sich, dass Geräuschbelästigungen der Umgebung durch die Schienenfahrzeuge überhaupt nicht erwähnt werden. Die gesundheitlichen Schädigungen der Menschen durch ständige Lärmbelastung sind ausreichend untersucht und bekannt. Wenn der Hauptproduzent von Doppelstockfahrzeugen in Deutschland solche mit erschreckend lauten Scheibenbremsen in Verkehr bringt, so ist das rücksichtslos, weil die angesprochenen Doppelstockwagen im S-Bahn- und Regionalverkehr mit dichter Zugfolge die große Zahl der Anwohner tags und nachts belästigen. Wie der Kfz-Bereich deutlich macht, sind geräuschlose Scheibenbremsen der Stand der Technik. Hier wäre ein sehr wichtiges Problem forschungsmäßig und konstruktiv zu bearbeiten. Dr.-Ing. Michael Ehinger, Dresden Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. Ganzheitlich gelesen Leserzuschrift zum Beitrag „Nachhaltigkeit ganzheitlich betrachtet“ in: IV 4/ 2010, S. 44-45 Leserforum