eJournals Internationales Verkehrswesen 62/7-8

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0107
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2010
627-8

Mehr Verkehr auf die Schiene – eine ehrlich gemeinte Forderung?

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2010
Tom Reinhold
iv627-80056
Standpunkt 58 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 7+8/ 2010 Dr. Tom Reinhold, Leiter Konzernstrategie/ Verkehrsmarkt der Deutschen Bahn AG, Berlin Mehr Verkehr auf die Schiene - eine ehrlich gemeinte Forderung? In vielen Vorträgen, Diskussionsrunden und Untersuchungen, die sich verkehrsträgerübergreifend mit der Zukunft der Mobilität beschäftigen und politische Forderungen erheben, finden sich regelmäßig einige Punkte mit breitem Konsens und einige Dissenspunkte, an denen zumeist aneinander vorbei diskutiert wird - je nach Teilnehmerkreis mehr oder weniger höflich und sachorientiert. Verkehrsträgerübergreifend sind sich fast alle in den folgenden Forderungen einig: ̇ Unternehmen benötigen generell Planungssicherheit. Dies bedeutet, dass es vor allem keine kurzfristigen Eingriffe durch den Staat geben sollte (Gesetzesänderungen, Steuern, Regulierung) und ein stabiler Mittelfluss gewährleistet wird. ̇ Es müssen ausreichend Mittel für die Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung gestellt werden. Bei allen Verkehrsträgern wird insgesamt ein Wachstum erwartet, bei jedem Verkehrsträger gibt es lokale oder regionale Engpässe, die beseitigt werden sollen. ̇ Der Substanzwert der Infrastruktur muss durch eine systematische und ausreichende Instandhaltung erhalten werden. ̇ In allen Verkehrsträgern gibt es weiteres Innovationspotenzial; für die Forschung und Erprobung ist eine Anschubfinanzierung erforderlich. ̇ Ein möglichst großer Teil des Verkehrswachstums soll auf die Schiene gelenkt werden. Sieht man sich die tatsächlichen politischen Entscheidungen an, scheinen schon diese Konsenspunkte eher Lippenbekenntnisse zu sein. Denn erschreckend oft ist die Verkehrsbranche von kurzfristigen politischen Aktionen betroffen (bösartig könnte man auch von Aktionismus sprechen), und ausreichende Mittel für volkswirtschaftlich sinnvolle Neu- und Ausbauvorhaben werden schon seit Jahrzehnten nicht zur Verfügung gestellt. Dissensträchtiger sind Entscheidungen, die zu einer relativen Verschiebung zwischen den Verkehrsträgern führen. Da Medien und Interessenverbände primär auf einseitige Belastungen lautstark reagieren, werden politische Statements dazu immer stärker verklausuliert und stets nur zugunsten eines Verkehrsträgers, jedoch nie zu Lasten eines anderen formuliert. Dabei steht oft derselbe Sachverhalt dahinter, denn ein singuläres „Mehr“ für den einen Verkehrsträger ist stets auch eine relative Verschlechterung für die anderen. Es stellt sich deshalb die Frage, in welcher Form eine reale Verschiebung des Modal Split wirklich gewünscht ist oder ob der Status quo nicht eine Art Grundkonsens darstellt, an dem niemand wirklich rütteln möchte, weil man nur von wachsenden, aber nicht von schrumpfenden Marktanteilen sprechen möchte. Bezeichnenderweise besteht in der Bewertung des Status quo ein tiefgreifender Dissens über die Kostendeckungsgrade der verschiedenen Verkehrsträger. Mit der Forderung, alle Verkehrsträger sollten ihre Kosten vollständig decken bzw. externe Kosten sollten internalisiert werden, verbinden die verschiedenen Interessengruppen sehr unterschiedliche Vorstellungen über die damit verbundene Be- oder Entlastung. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass weder Konsens besteht, welche bestehenden Belastungen (Steuern, Abgaben und Gebühren) einzubeziehen sind noch wie hoch die (externen) Kosten sind. Die Diskussion darüber wird sehr schnell akademisch und der Öffentlichkeit kaum vermittelbar. Kritisch sind nun vor allem politische Entscheidungen, die eine Verschiebung zu Lasten eines Verkehrsträgers bedeuten, ohne dies aber ehrlich zu benennen. Und hierbei fällt auf, dass in den vergangenen Jahren insbesondere Maßnahmen eingeleitet wurden, die das System Schiene einseitig oder stärker belasten als die anderen Verkehrsträger, und dies, obwohl sich Politiker besonders häufig die Verlagerung weiterer Verkehre auf die Schiene als Ziel setzen. Nachgerade grotesk wird es, wenn dies unter dem Deckmantel der Ökologie erfolgt. Ein Beispiel dafür ist die vollständige Auktionierung der CO 2 -Emissionsrechte. Der Luftverkehr wird hierbei weitgehend, der Straßenverkehr vollständig ausgenommen, und nur die Herstellung des für den Schienenverkehr erforderlichen Stroms wird dem Zertifikatehandel uneingeschränkt unterworfen. Dies bedeutet für das System Schiene eine einseitige Mehrbelastung um etwa 300 Mio. EUR ab 2013. Ein anderes Beispiel für eine fragwürdige Verkehrspolitik sind die Überlegungen zur Einführung lärmabhängiger Trassenpreise, wenn unter dem Deckmantel des gut gemeinten und politisch nachvollziehbaren Ziels einer Lärmminderung komplizierte Erfassungs- und Abrechnungssysteme installiert werden müssen, die mehr Geld verbrauchen, als eine Umrüstung auf leise Güterwagen kosten würde. Es wäre zu wünschen, dass die Diskussion wieder ehrlicher geführt wird. Aus den Lippenbekenntnissen, bei denen es einen scheinbar breiten Konsens gibt, müssen auch entsprechende politische Handlungen resultieren - also vor allem mehr Planungssicherheit und ein ausreichender, stabiler Mittelfluss. Und wer „mehr Verkehr auf der Schiene“ als politisches Ziel ernst nimmt, sollte sich zumindest dafür einsetzen, dass es keine einseitigen fiskalischen oder regulatorischen Belastungen des Systems Schiene gibt.