Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0111
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Mythos Eisenbahn
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Ralf Haase
Die Geschichte der deutschen Eisenbahnen ist historisch gesehen ein Erfolgsmodell des modernen Verkehrs – regional, national und international. Regional, weil der frühe Bahnbau die Industrierevolution im politisch zersplitterten Deutschland stimulierte und die Reisewünsche der Menschen beflügelte. National, weil die Eisenbahnen im Verbund mit dem deutschen Zollverein schrittweise eine nationale Volkswirtschaft im deutschen Bund entstehen ließ. International, weil die Verknüpfung der entstehenden nationalen Netze zu ständig wachsender Mobilität von Gütern und Personen in Europa führte, Handel und Dienstleistungen förderte und den Wohlstand der Menschen vermehrte.
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Mobilität + Personenverkehr 10 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 Abb. 2: Zeichnung der von George Stephenson 1829 gebauten „Rocket“ Ralf Haase Mythos Eisenbahn Vor 175 Jahren begann in Deutschland das Bahnzeitalter Die Geschichte der deutschen Eisenbahnen ist historisch gesehen ein Erfolgsmodell des modernen Verkehrs - regional, national und international. Regional, weil der frühe Bahnbau die Industrierevolution im politisch zersplitterten Deutschland stimulierte und die Reisewünsche der Menschen beflügelte. National, weil die Eisenbahnen im Verbund mit dem deutschen Zollverein schrittweise eine nationale Volkswirtschaft im deutschen Bund entstehen ließ. International, weil die Verknüpfung der entstehenden nationalen Netze zu ständig wachsender Mobilität von Gütern und Personen in Europa führte, Handel und Dienstleistungen förderte und den Wohlstand der Menschen vermehrte. Der Autor Dr. oec. habil. Ralf Haase, Friedrich- List-Forum Dresden e. V. O hne den Bau und Betrieb von Eisenbahnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre die einsetzende industrielle Revolution in Deutschland in den Kinderschuhen steckengeblieben und die politische Einheit des Landes weiter verzögert worden. In der zweiten Jahrhunderthälfte, der Glanzzeit der Bahnen, zeigten sie aber auch ihr Janusgesicht, indem sie den militärischen Ambitionen der Herrschenden untergeordnet wurden. Die Eisenbahnen von heute bilden einen Verkehrszweig, der sowohl vom intramodalen als auch vom intermodalen Wettbewerb geprägt ist und in dem leistungsfähige Mobilitäts- und Logistikdienstleister tätig sind. Trotz ständig wachsender Ansprüche an Infrastruktur, Qualität und Kundenorientierung bilden die Eisenbahnen das Rückgrat unseres europäisch ausgerichteten Gesamtverkehrssystems. Was vor 175 Jahren mit der ersten deutschen Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth begann, mündet in unserer Zeit in ein nachhaltiges Mobilitätskonzept für Wirtschaft und Gesellschaft (Abbildung 1) . Der interessierte Leser wird sich daran erinnern, dass in den IV-Ausgaben 6/ 2009 und 12/ 2009 unter Bezug auf inhaltlich parallele Jubiläen der Versuch unternommen wurde, wesentliche Anfänge des deutschen Eisenbahnwesens zu beleuchten und dabei die Rolle großer historischer Persönlichkeiten in Erinnerung zu rufen [1]. Tradition und Innovation stellen in der menschlichen Geschichte stets zwei Seiten der gleichen Medaille dar, von denen der gesellschaftliche Fortschritt lebt. Doch wenn wir heute z. B. in ganz selbstverständlicher Weise in die S- oder Regionalbahn steigen, um zur Arbeit zu gelangen, oder mit dem ICE verreisen, dann wissen wir kaum noch, wie alles begonnen hat. Industrielle Revolution der produktiven Kräfte Die Nutzung der Dampfkraft für Zwecke der Ortsveränderung hatte ihren Ursprung in England, dem Mutterland der industriellen Revolution. Dank dieser neuen Antriebsenergie für stationäre und mobile Anwendungen verschaffte sich das britische Weltreich als sogenannte Werkstatt der Welt über viele Jahrzehnte einen entscheidenden technologischen Vorsprung und damit eine dominante wirtschaftliche Stellung. Werkzeugmaschine, Energieersatz der Wasserkraft durch Dampfkraft und eben der Bau und Einsatz der dampfgetriebenen Lokomotive stellten die entscheidenden Eckpfeiler für die fortschreitende Industrialisierung in einer wachsenden Zahl von Ländern dar. Von James Watts 1769 patentierter erster Dampfmaschine brauchte es aber noch reichlich 60 Jahre, ehe im berühmten Lokomotivrennen von Rainhill im Jahre 1829 die erste wirklich leistungsfähige Dampflokomotive, die „Rocket“ (Abbildung 2) von George Stephenson, ihre Feuertaufe bestand und ab dem Jahre 1830 auf der öffentlich genutzten Strecke Liverpool - Manchester über 49,2 km ihren Dienst verrichten konnte. Auf diesem Weg standen Murdocks Entwurf eines Dampfwagens von 1786 und Richard Trevithiks erste brauchbare Lokomotive von 1804 Pate. Auf der ersten Eisenbahn der Welt zwischen Stockton und Darlington, eröffnet 1825, fuhr die erste von George Stephenson gebaute Lok unter dem bezeichnenden Namen „Locomotion“. Der Bann war gebrochen. Ein neues technisches Zeitalter nahm seinen Beginn, in dem Wirtschaft und Verkehr in eine neue Dimension vorstoßen sollten. Abb. 1: Zug der Ludwigs-Eisenbahn auf der Fahrt zwischen Nürnberg und Fürth; nach einem Gemälde von E. Schilling und B. Goldschmitt aus dem Jahre 1935 Mobilität + Personenverkehr 11 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 Abb. 3: Georg Zacharias Platner Abb. 4: Johannes Scharrer Im wirtschaftlich zurückgebliebenen und politisch zersplitterten Deutschland schlugen die Nachrichten von der Insel wie eine Bombe ein. Die Listsche Metapher von der Dampfeisenbahn als „Herkules in der Wiege“ nahm plötzlich reale Gestalt an, obwohl es auch schon seit 1820 im Rheinland und in Sachsen Eisenbahnpläne nach der Rad-Schiene-Technologie gab. Diese basierten allerdings alle auf der Planung von Pferdebahnen, da noch keine technisch adäquate Antriebsquelle zur Verfügung stand. Vorläufer all dieser Versuche waren die von Menschen oder Pferden gezogenen Gruben- und Hüttenbahnen. Der deutsche Prototyp von 1835: die fränkische Ludwigs-Eisenbahn Nach den euphorischen Berichten und Nachrichten von jenseits des Ärmelkanals herrschte überall in Deutschland Aufbruchstimmung, man wollte es den Engländern gleich tun. Mit Recht sahen viele weitsichtige Menschen in der Dampfbahn ein entscheidendes Bindeglied zur Überwindung der Zollgrenzen und zum wirtschaftlichen Aufschwung. Oberbergrat Joseph Ritter von Baader in Bayern, der mit dem noch in den USA weilenden Friedrich List in einem engen Briefwechsel stand (Lists Mitteilungen aus Nordamerika), hatte bereits 1812 in einer Denkschrift die „Einführung der eisernen Kunststraßen im Königreich Bayern“ angeregt und im Jahre 1814 den Bau einer Schienen-Pferdebahn zwischen Nürnberg und Fürth ins Gespräch gebracht. Die Idee einer Schienenverbindung wurde auch von Nürnberger Bürgern, wie dem Redakteur der „Allgemeinen Handelszeitung“ Erhard Friedrich Leuchs, mehrfach aufgegriffen, weil die zwischen beiden Städten verlaufende Chaussee über einen bedeutenden Personen- und Warenverkehr verfügte. Als die Kunde von der 1825 erfolgreichen Inbetriebnahme der englischen Strecke zwischen Stockton und Darlington mittels einer Dampflokomotive die Stadt Nürnberg erreichte, erkannte man in der Bürgerschaft die Herausforderung, die oft zitierte Wiege deutschen Gewerbe- und Erfindergeistes nicht ins Hintertreffen geraten zu lassen. Der Stolz der Franken mit Nürnberg als „Freier Reichsstadt“ hatte mit Napoleons Rheinbundakte von 1806 einen deutlichen Dämpfer erhalten, indem es dem bayrischen Territorium einverleibt worden war. Nach einem ersten Treffen am 12. Januar 1833 zwischen dem Kaufmann Georg Zacharias Platner (1781 - 1862) (Abbildung 3) , dem Fürther Bürgermeister Bäumen, dem Nürnberger Marktvorsteher Merkel und dem Leiter der Polytechnischen Schule zu Nürnberg Johannes Scharrer (1785 - 1844) (Abbildung 4) erschien am 14. Mai 1833 der von Scharrer verfasste Aufruf zur Gründung einer Eisenbahngesellschaft und am 18. November gleichen Jahres traf man sich zur ersten Aktionärsversammlung der privatfinanzierten „Ludwigs-Eisenbahn- Gesellschaft“ in Nürnberg. Scharrer war sich mit List einig, als er mit Recht formulierte: „Eisenbahnen, in Verbindung mit Dampfmaschinen, gehören unstreitig zu den wichtigsten und einflussreichsten Erfindungen unserer Zeit, sie sind das schnellste, wohlfeilste und sicherste Transportmittel für Personen und Waren.“[2]. Auf der Versammlung der Aktienzeichner wurden Platner als Direktor und Scharrer als sein Stellvertreter gewählt. Die Konzessionsurkunde König Ludwigs von Bayern datierte vom 19. Februar 1834 und sicherte der Bahngesellschaft ein „Betriebsprivileg“ für 30 Jahre zu. Der soeben von einer Studienreise nach England und Nordamerika zurückgekehrte königliche Bezirksingenieur Paul Camille von Denis (1795 - 1872) erstellte im Auftrag des Vorstandes innerhalb weniger Monate eine Bauplanung, so dass am 1. Mai 1835 mit dem Bahnbau für die 6,2 km lange Strecke begonnen werden konnte. Denis baute wenige Jahre später auch Eisenbahnstrecken in anderen deutschen Ländern. Als am 7. Dezember 1835 die Strecke zwischen den benachbarten Städten in Betrieb ging, bedeutete dies: Deutschland besaß als fünftes Land in der Welt eine dampfgetriebene Eisenbahn. Über die feierliche Eröffnung sind viele Berichte geschrieben, Lobeshymnen angestimmt und zum Teil verfälschende Bilder gemalt worden. Der Erfolg verdeckte vieles, kaum jemand weiß heute noch, dass das Projekt lange auf der Kippe stand. Man hatte sich in Nürnberg das ehrgeizige Ziel gesetzt, im August 1835, dem Geburtsmonat des Königs, die Strecke einweihen zu können. Der einfache und flach verlaufende Baugrund war durch einen aufgeschütteten Damm schnell planiert. Doch die bayerische Bürokratie bremste trotz der erteilten Konzession die Initiativen Platners auf vielfältige Weise und viele technische Fragen blieben aufgrund mangelnder Erfahrungen unklar. Platner und List hatten sich übrigens im Sommer 1834 in Leipzig getroffen, um über die Realisierung des Projekts ihre Gedanken auszutauschen und auch einen Weg zu finden, wie die Strecke Nürnberg - Fürth mit der in Planung befindlichen Leipzig-Dresdner Eisenbahn zu verbinden war. Doch woher sollten die gewalzten eisernen Schienen kommen? Wer konnte in so kurzer Zeit die Lokomotive(n) liefern? Die Wagen jedenfalls hatte man bei ortsansässigen Stellmachern, welche viel Geschick im Bau von Postkutschkästen bewiesen hatten, in Auftrag geben können. Und so begann Platners Odyssee, bis er auf einer beschwerlichen Reise nach Belgien die eisernen Schienen bei der Firma Remy in Rasselstein bei Neuwied statt der ursprünglich von List vorgeschlagenen hölzernen bestellen konnte. Für den 1. Mai 1835 hatte Platner in Brüssel ein Treffen mit George Stephenson vereinbaren können, der wegen der für den 5. Mai vorgesehenen Einweihung der ersten belgischen Eisenbahn zwischen Brüssel und Mechelen über 27,8 km im Lande weilte. Seine Fabrik in Newcastle hatte die drei Eröffnungsmaschinen mit den Namen „Blitz“, „Elefant“ und „Stephenson“ sowie alles technische Zubehör geliefert und stellte auch die „Dampfwagenführer“. Platner stand aufgrund der mangelnden Unterstützung seines Projekts unter Entscheidungs- und damit Kaufzwang, wenn die Nürnberger Bahn nicht gefährdet werden sollte. Auf dieser Reise sollte eigentlich Johannes Scharrer den „spiritus rector“ Georg Platner begleiten, doch dieser scheute sich vor den Strapazen der Reise. Und so stand nach dem Treffen fest: Die erste in Deutschland fahrende Lokomotive unter dem Namen „Der Adler“ - Gewicht ca. 6 t, Leistung 40 PS - (Abbildung 5) kam aus Stephensons Fabrik und besaß die von ihm vorgegebene Spurweite von 4 Fuß 8 ½ Zoll. Es waren also jene 1435 mm, wie sie noch heute als deutsche Normalspur gebaut wird. Eine bemerkenswerte Erwähnung am Rande: Die Nürnberger gaben der Lokomotive als Ausdruck ungebrochenen Bürgersinns bewusst einen Halle 18, Stand 131 Die Medien für Fach- und Wirtschaftsinformationen rund um Eisenbahn, ÖPNV & Technik Internationale Fachmesse für Verkehrstechnik 21.-24.09.2010 www.eurailpress.de www.railwaygazette.com E urailpress und Railway Gazette - Die offiziellen Medienpartner der InnoTrans. Besuchen Sie uns auf der InnoTrans 2010 - direkt am Eingang Nord! Wir freuen uns auf Sie! Mobilität + Personenverkehr 14 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 Abb. 5: Der Nachbau des „Adler“ aus dem Jahre 1999 symbolhaften, auf die freie Zukunft des Landes gerichteten Namen. Doch die Schwierigkeiten waren damit noch immer nicht zu Ende. Des Königs Geburtstag war längst vorbei, als endlich die in Einzelteile zerlegte Lok über den Rotterdamer Hafen den Rhein hinauf bis Köln verschifft wurde. Es mag wie ein schlechtes Omen gewirkt haben, dass das angekündigte Erscheinen des Kometen Halley die am Ufer versammelte Volksmenge in Aufruhr versetzte: Diese Maschine des Teufels bringt uns nur Unglück, werft sie in den Rhein. Doch das Schlimmste konnte abgewendet und die Kisten nunmehr mittels acht Transportfuhrwerken auf dem Landweg weiter nach Nürnberg gebracht werden. Zuvor bremste allerdings die unter preußischer Ägide stehende Kölner Stadtverwaltung mit einer langwierigen und teuren Verzollungsaktion den Weitertransport. Endlich, am 25. Oktober, konnte in Nürnberg mit der Montage des „Adler“ unter Mithilfe des englischen Lokomotivführers William Wilson begonnen und der Tag für die Eröffnungsfahrt auf den 7. Dezember 1835 festgelegt werden. Platners Weitsicht und Beharrlichkeit zahlte sich aus Für Georg Platner muss dieser 7. Dezember ein Tag des Triumphes gewesen sein, denn aus unterschiedlichen Gründen fehlte ihm oft die versprochene Unterstützung und nur dank der Tatsache, dass er immer wieder auch auf eigene Finanzmittel zurückgriff, konnte dieses Jahrhundertwerk gelingen. Die Gedenktafel nahm sich bescheiden aus: Deutschlands erste Eisenbahn mit Dampfkraft - 7. Dezember 1835. An der Einweihung der Bahnstrecke nahmen trotz der Namensvergabe weder der König noch ein hoher Vertreter der bayerischen Staatsregierung teil, für sie war diese politisch ohne Bedeutung. Von einer Benennung der Bahn nach Bayerns Monarch hatte man sich in Nürnberg dessen besondere Unterstützung versprochen, doch Ludwig hielt sein für den Güterverkehr entworfenes Kanalsystem für effektiver. Der an den schönen Künsten interessierte Landesfürst stellte Wirtschafts- und Technikförderung eher als notwendiges Übel dar. Auch in der Episode von der Eröffnungsfahrt ohne den Namensgeber wird klar, wie wenig Nationalstolz im Spiel war und wie gering die Initiativen des fortschrittlichen Bürgertums durch den Feudaladel gewürdigt wurden. Georg Platner konnte dieses historische Ereignis ganz für sich verbuchen, er hatte sich nicht entmutigen lassen und den Beweis angetreten, was mit Schöpferkraft und Beharrlichkeit im Deutschland des politischen Vormärz möglich war. Schon bei der Bahneröffnung in Belgien sah Platner „den Anbruch einer durch diese wundervolle Erfindung herbeigeführten, großen Epoche in der Kulturgeschichte der Menschheit“ [3]. Im Vestibül des Deutsche Bahn-Museums in Nürnberg stehen die Büsten von Friedrich List und Johannes Scharrer, jene von Georg Platner sucht man vergeblich. Ob der als technisch versierter Geist und Vorstand der 1823 gegründeten Städtischen Polytechnischen Schule Nürnberg (später Polytechnikum) tätige Johannes Scharrer noch mehr für das Eisenbahnprojekt hätte tun können, bleibt aufgrund seines Gesundheitszustands mit einem Fragezeichen versehen. Wie aus verschiedenen Dokumenten bekannt ist, respektierten sich Platner und Scharrer, der Ersteren auch später als Direktor der Ludwigsbahn ablöste. Hervorzuheben ist jedoch, dass Nürnberg mit seiner Polytechnischen Anstalt über eine der ersten technischen Bildungsstätten im deutschsprachigen Raum verfügte und viel für die technische Bildung im Industriezeitalter beitragen konnte. So hielt im Jahre 1936 ein Professor Kuppler an der polytechnischen Schule Vorlesungen über Eisenbahnwesen, noch vor Prof. Johann Andreas Schubert an der Technischen Bildungsanstalt in Dresden. Schon während der Planungen für die Strecke Nürnberg - Fürth hatte man die Idee, sie nach allen Richtungen der Windrose weiterzubauen. In den Kontakten mit der bayerischen Regierung wurde dieses Ansinnen ausreichend diskutiert, doch schon in der Konzession wurde mit keinem Wort darauf Bezug genommen. Und so blieb die Ludwigsbahn weitgehend eine isolierte Lösung, welche bis 1862 ihre Leistungen stetig ausbauen konnte, nachdem auch ein zweites Gleis zur Verfügung stand. Parallel zur Trasse entstand eine Straßenbahn, die im Jahr 1898 elektrifiziert wurde und der Dampfeisenbahn allmählich die Fahrgäste entzog. Der Gütertransport war wegen der geringen Entfernung und den damit verbundenen Umschlagsleistungen ohnehin marginal gewesen. Zum Jahresende 1921 stellte schließlich die Ludwigsbahn ihren Betrieb ein. Was für die Nachwelt bleibt, ist das Verdienst der Gründerväter, in Deutschland mit dieser Referenzstrecke ein Zeichen für die Zukunft der Eisenbahnen gesetzt zu haben. Dies zu würdigen, gebietet der Respekt vor unserer Geschichte. Ein deutsches Eisenbahnnetz entsteht In den schon erwähnten Aufsätzen zur ersten deutschen Ferneisenbahn Leipzig - Dresden und zum Wirken Friedrich Lists wurden wichtige Zusammenhänge und Hintergründe des frühen Eisenbahnbaus aus politischer und wirtschaftlicher Sicht behandelt. Im Spiegel der späteren Ergebnisse ist festzuhalten, dass dank des initiativreichen Wirkens von Friedrich List mit der erfolgreichen Inbetriebnahme einer dampfgetriebenen Fernbahn (als Pferdebahn war am 1. August 1832 die Strecke Budweis - Linz über 130 km in Betrieb genommen worden) unter schwierigen topografischen Bedingungen der Nachweis für den enormen gesellschaftlichen Nutzen einer Eisenbahn auf deutschem Boden erbracht wurde. Ohne die Leistung der Nürnberger in irgendeiner Weise zu schmälern, kam es aber erst mit der Strecke Leipzig - Dresden zur Initialzündung im deutschen Bahnbau. Dazu haben zweifelsfrei zwei Fakten nicht unerheblich beigetragen: Sowohl Regierungsbeamte und Vertreter von „Eisenbahncomités“ als auch Ingenieure aus anderen deutschen Bundesstaaten besuchten in großer Zahl sehr zur Verwunderung der bayerischen Regierung die fränkische Strecke, um daraus Anregungen und technische Fingerzeige für eigene Planungen zu erhalten. Lists überall in Deutschland verbreitete Netzkarte von 1833 einschließlich der erarbeiteten Argumentation führten den politisch Verantwortlichen und Verkehrsfachleuten eindringlich vor Augen, dass mit der Eisenbahn als qualitativ neuem Verkehrszweig Wirtschaftszentren miteinander verbunden und eine tatsächliche Erschließung der Flä- Mobilität + Personenverkehr 15 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 nem Erzrivalen Österreich bei Königgrätz in Böhmen unter Einsatz der Eisenbahnen die entscheidende militärische Niederlage beifügte, war der großdeutsche Weg der Reichseinigung verbaut und Preußen nach dem militärischen Sieg über Frankreich 1871 zur Führungsmacht im zweiten deutschen Kaiserreich geworden. Auf dem Wege dahin hatten die Eisenbahnen einen wichtigen Beitrag geleistet: zur wirtschaftlichen Erstarkung, zur verkehrlichen Vernetzung, zur militärischen Unterstützung und damit letztlich zur politischen Einigung. Der Blick auf die Streckenkarte der deutschen Eisenbahnen im Jahre 1870 (Abbildung 6) verrät, über welch dichtes Schienennetz Deutschland zu diesem Zeitpunkt verfügte. Sie waren zum verkehrlichen Rückgrat der deutschen Wirtschaft und zum Hauptträger des Personenverkehrs geworden. Aus dieser Übersicht ist erkennbar, dass der deutsche Bahnbau im Frühstadium (Staatsverträge mit Preußen, Bayern und Österreich) bzw. die einzelnen regionalen Privatgesellschaften das benötigte Kapital nicht vollständig aufbringen konnten. Preußen verfolgte mit diesem Rechtsakt im Sinne der Verkehrsgesetzgebung klare politische Ziele: die schrittweise Erlangung der politischen Oberhoheit in Deutschland nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im Jahre 1806. Mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses von 1814/ 15 schuf sich Preußen dafür eine vorzügliche Ausgangsposition. Die Ausbreitung der industriellen Revolution beginnend in Sachsen und Preußen (besonders den preußischen Rheinprovinzen) trug entscheidend dazu bei, dass Wirtschaft und Verkehr besonders in den großen deutschen Bundesstaaten eine qualitativ neue Dimension erlangten und die Eisenbahnen dazu einen wichtigen Beitrag in einem zusammenwachsenden Netz leisteten. Als Preußen im Jahre 1866 seiche im Sinne des Massenverkehrs möglich wurde. Mit heutigen Worten gesagt: Die Mobilitätsentwicklung von Gütern und Personen vollzog einen Quantensprung, Wirtschaft und Gesellschaft bekamen nationale Züge. Bis auf die Strecke von Braunschweig nach Wolfenbüttel wurden alle Linien als Privatbahnen errichtet, weil der Staat die hohen wirtschaftlichen Risiken fürchtete bzw. zunächst seine eigene politische Rolle und bald auch militärische Nutzungsmöglichkeit der Bahnen noch nicht erkannte. Treiber in diesem Prozess waren vor allem die Städte, welche Gefahr liefen, von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt zu werden. Zur Verwirklichung der Idee von einem deutschen Eisenbahnwesen leistete auch die entstehende deutsche Verkehrsindustrie einen bemerkenswerten Beitrag. Waren die ersten Lokomotiven sämtlich aus England importiert worden, zeigte bereits der Entwurf und Bau der für die Fernbahn Leipzig - Dresden vorgesehenen ersten deutschen Lok „Saxonia“ durch Prof. Johann Andreas Schubert 1838 in dessen Uebigauer Maschinenfabrik, dass auch deutsche Ingenieure inzwischen ihr Handwerk verstanden. Bei der sächsischen Lokomotive handelte es sich durchaus nicht um einen Nachbau oder gar ein reines Plagiat, sondern um eine technische Weiterentwicklung der englischen Typen. Im Rahmen dieses Artikels kann nur kurz darauf verwiesen werden, dass sich in Deutschland vor allem vier Lokomotivpioniere hervorgetan haben: August Borsig (1804 - 1854) in Berlin, Karl Anton Henschel (1780 - 1861) in Kassel, Joseph Anton Ritter von Maffei (1790 - 1870) in München und Richard Hartmann (1809 - 1878) in Chemnitz. Ihre auf hohem technischen Niveau stehenden und ständig weiterentwickelten Dampflokomotiven (im Jahre 1860 produzierten sie z. B. zusammen mehr als 430 Maschinen) fanden auf dem deutschen und europäischen Markt einen reißenden Absatz und lösten mehr und mehr die Zugfahrzeuge aus England und den USA ab. Obwohl sich in den meisten deutschen Ländern der Staat nicht als Eigentümer der neuen Bahnen engagieren wollte, sicherte er sich entweder über die Konzessionierung oder eine eigene Gesetzgebung den Einfluss auf den Bau und Betrieb der Eisenbahnen. Bald gab es erste Eisenbahngesetze, wie das preußische von 1838, als der Staat vor allem aus politischen und militärischen Gründen die privaten Gesellschaften auf Distanz halten wollte. Konzessionierung, Streckenführung, Enteignung von Grund und Boden, Steuererhebung, unentgeltliche Postbeförderung und das Recht, später die Privatbahn zu verstaatlichen, waren ausdrücklich vorgemerkt. In anderen deutschen Staaten, wie z. B. in Sachsen, sah man finanzielle Zwänge, weil gerade wenige Jahre zuvor das Netz der Staatsstraßen komplett erneuert worden war. Aber auch hier griff der Staat rasch ein, als es sich um grenzüberschreitende Projekte handelte 7. Dezember 1835: Nürnberg - Fürth 29. Oktober 1838: Berlin - Potsdam 1. Dezember 1838: Braunschweig - Wolfenbüttel 20. Dezember 1838: Düsseldorf - Erkrath 7. April 1839: Leipzig - Dresden (Gesamtstrecke) 19. Mai 1840: Frankfurt (Main) - Wiesbaden 18. August 1840: Magdeburg - Halle - Leipzig (Gesamtstrecke) 4. Oktober 1840: München - Augsburg (Gesamtstrecke) 12. September 1840: Mannheim - Heidelberg 1. September 1841: Köln - Aachen (Gesamtstrecke) Tab. 1: Inbetriebnahme der ersten deutschen Eisenbahnstrecken Abb. 6: Netzkarte der deutschen Eisenbahnen von 1870 Mobilität + Personenverkehr 16 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 Abb. 7: Technologiesprung: Der Triebkopf des Flaggschiffes der DB AG, des ICE 3, im trauten Verbund mit seinem Urahn „Der Adler“ im DB-Museum Nürnberg Eisenbahnsystems im Prozess der nationalen Wiedervereinigung nach 1990 (Abbildung 7) . Mit der Zusammenführung der Staatsbetriebe Deutsche Bundesbahn der BRD und Deutsche Reichsbahn der DDR aus dem Sondervermögen des Bundes gemäß Staatsvertrag im Jahre 1994 wurde die Bahnstrukturreform in Gang gesetzt. Mit ihr entstanden die Grundlagen für die Umstellung des Unternehmens auf privatwirtschaftliche Strukturen und damit auf einen verschärften Wettbewerb am Verkehrsmarkt, national und international. Seither befindet sich die Deutsche Bahn AG mit ihrem eigenen Anspruch in einem Entwicklungsprozess zum weltweiten Mobilitäts- und Logistikdienstleister. Dabei muss sie sich den Herausforderungen von Globalisierung, Liberalisierung, Klimawandel und Energiekrise sowie demographischem Wandel mit aller Konsequenz stellen. Gelingt es ihr diesen Megatrends gerecht zu werden - und vieles deutet darauf hin - dann vollzieht sie in den kommenden fünf bis zehn Jahren eine wirkliche Renaissance zum Wohle der Gesellschaft. Und damit wäre auch dem Mythos Eisenbahn in unserer Zeit historische Gerechtigkeit widerfahren. Literatur: [1] Haase, Ralf; Das deutsche Eisenbahnsystem ist in Leipzig auf die Welt gekommen; Internationales Verkehrswesen, Heft 6/ 2009, S. 210 - 214 und Friedrich List - Wegbereiter eines europäischen Verkehrssystems; Internationales Verkehrswesen, Heft 12/ 2009, S. 480 - 485 [2] Einladungsschrift vom 14. Mai 1833; DB-Museum Nürnberg [3] Walz, W. : Deutschlands Eisenbahn; Motorbuch Verlag Stuttgart 1991, S. 40 [4] Reuleaux, F. : Der Weltverkehr und seine Mittel, Band 1 und 2; Verlag Otto Spamer, Leipzig und Berlin 1889 [5] Weigelt, H. : Epochen der Eisenbahngeschichte, Hestra- Verlag Darmstadt 1985 scher Staaten eine inhaltliche Anreicherung um die Reichsbahnzeit nach 1945 in der DDR. Aus Sicht des Autors sollte heute eine sechste Epoche hinzugefügt werden: die Wiedergeburt eines gesamtdeutschen der industriellen Revolution eine äußerst dynamische Funktion besaß und auch im europäischen Vergleich eine Dominanz verkörperte. Erst mit der Industrialisierung Europas und der Entstehung der modernen Weltwirtschaft relativierten sich die Wachstumsanteile verständlicherweise. Die Renaissance der Bahn Die Historie der deutschen Eisenbahnen von 1835 bis in die jüngste Vergangenheit lässt sich im Rahmen dieses Beitrages nicht darstellen. Vielmehr sollte dem Jubiläumsanlass Rechnung getragen werden, den Schleier der Geschichte anzuheben und die schweren Anfänge des revolutionären Verkehrsmittels Eisenbahn in Deutschland im Kontext mit den gesellschaftlichen Entwicklungen transparent zu machen. Dies versteht sich auch unter Bezug auf die schon abgedruckten Beiträge des Autors, deren Nachlesen vieles verständlicher macht. Man kann Dr. Horst Weigelt ohne Einschränkung folgen, wenn er bis zum Jahre 1985 von fünf Epochen der deutschen Eisenbahngeschichte [5] spricht: Anfänge, Ausbreitung der Eisenbahn, Länderbahnzeit, Reichsbahnzeit bis 1945 und Bundesbahnzeit seit 1945. Letztere verlangt jedoch aufgrund der Existenz zweier deut- Tab. 2: Vergleich der Streckenlängen der Eisenbahnen Deutschlands, Europas und weltweit zwischen 1835 und 1870 [4] Jahr Deutschland (in km) Europa (in km) %-Anteil Welt (in km) %-Anteil 1835 6 532 1.1 2419 1,8 1840 581 2925 19,8 8591 6,8 1850 6044 23 504 25,7 38 022 15,9 1860 11 660 51 862 22,5 106 886 10,9 1870 19 575 104 914 18,7 211 859 9,2 Summary The Railway Mythos - the age of the railways began 175 years ago The commissioning of the first rail link between Nuremberg and Fürth on 7 December 1835, over a distance of some 6 km, launched the railway age in Germany. As a form of propulsion for vehicles, the use of steam power signified an encouragement for Germany‘s industrial revolution at a time when the economy had fallen behind and the nation was in a state of political disunity, while also offering support for an emerging national economy. After the first long haul rail service between Leipzig and Dresden had provided proof of its inherent usefulness and convenience, 1839 became the starting point for the construction of a railway system across Germany, and the creation of an all-German rail network that, in the wake of the foundation of the Reich in 1871, enjoyed its greatest extension by comparison with the rest of Europe. For the fact that the first rail link between Nuremberg and Fürth never achieved any form of economic significance, the far-sightedness and commitment of such notable personalities as Georg Zacharias Platner and Johannes Scharrer continue to demand the respect of our generation. The Deutsche Bahn AG upholds this legacy, and readily faces the requirement of remaining the pillar of Germany‘s entire transport system against the background of the completely changed social conditions of the 21 st century. Simultaneously, it seeks to enhance its worldwide activities as a provider of efficient mobility and logistics-related services.
