Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0112
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Fahrzeug-Fahrweg-Interaktion
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Bernd Luber
Martin Rosenberger
Michael Schmeja
Die enormen Anforderungen an das komplexe System Bahn erfordern innovative Konzepte, um zukünftige Entwicklungen wirtschaftlich realisieren zu können. Dabei spielt die realitätsnahe, computerunterstützte Modellierung eine entscheidende Rolle. Im Bereich „Rail Systems“ am VIRTUAL VEHICLE Forschungszentrum werden diese Konzepte nun verwirklicht.
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Technologien + Informationssysteme 17 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 Bernd Luber / Martin Rosenberger / Michael Schmeja Fahrzeug-Fahrweg-Interaktion Ihre Bedeutung für das System Eisenbahn Die enormen Anforderungen an das komplexe System Bahn erfordern innovative Konzepte, um zukünftige Entwicklungen wirtschaftlich realisieren zu können. Dabei spielt die realitätsnahe, computerunterstützte Modellierung eine entscheidende Rolle. Im Bereich „Rail Systems“ am VIRTUAL VEHICLE Forschungszentrum werden diese Konzepte nun verwirklicht. Die Autoren DI Bernd Luber, Dr. Martin Rosenberger, Dr. Michael Schmeja, „VIR- TUAL VEHICLE − Kompetenzzentrum Das virtuelle Fahrzeug Forschungs- GmbH, Inffeldgasse 21/ A, A-8010 Graz, Michael.Schmeja@v2c2.at E ntscheidend für die Optimierung des Systems Bahn ist die ganzheitliche, systematische Betrachtung des Systems mit den Teilsystemen Fahrzeug und Fahrweg sowie deren Zusammenwirken, insbesondere die Interaktion von Rad und Schiene. Dabei spannt sich der Anwendungsbereich der Berechnungsmethoden am VIRTUAL VEHICLE von der frühen Phase der Produktentwicklung bis hin zur Instandhaltung. Erst die Vernetzung der spezifischen Simulationslandschaft im Bereich Rail Systems ermöglicht realitätsnahe Aussagen zum Gesamtsystem Bahn. Mit der Rad-Schiene-Interaktion und ihren Themen „Berührgeometrie“, „Kraftschluss“, „Verschleiß“ und „Schädigung“ wird zudem eine klare Kernkompetenz ausgewiesen. Von entscheidender Bedeutung für das Zusammenwirken von Fahrzeug und Fahrweg sind aber auch die strukturdynamischen Eigenschaften der Radsätze sowie die dynamischen Eigenschaften des Fahrwegs und, damit verbunden, Fragestellungen der Gleislage bzw. des Gleiszustandes. Rad-Schiene-Kontakt Im Kraftschluss zwischen Rad und Schiene treten Effekte auf, die nicht nur für Fahrdynamik oder Schädigungsphänomene von Fahrzeug und Fahrweg, sondern auch für Antriebs- und Bremsregelungen relevant sind. Im Bereich „Rail Systems“ werden am VIRTUAL VEHICLE Forschungszentrum Modelle entwickelt, um relevante Einflüsse zu erfassen und zuverlässig abzubilden. Schädigungen im Rad-Schiene Kontakt sind sowohl für Fahrzeughersteller als auch für die Infrastrukturbetreiber ein wirtschaftlich relevanter Aspekt. Die Mechanismen, die für die Entstehung vieler Schädigungsformen an Rad und Schiene verantwortlich gemacht werden, sind größtenteils noch unzureichend erforscht. Die daraus resultierenden Kosten bieten ein hohes Einsparungspotenzial bei Wartung und Betrieb des Systems Eisenbahn. Neben verlängerten Wartungsintervallen durch Reduktion von Verschleiß und Rollkontaktermüdung (RCF) an Rad und Schiene liefert das bessere Verständnis der Vorgänge im Rad-Schiene-Kontakt auch die Grundlage, um die Fahrsicherheit, den Fahrkomfort und die Energieeffizienz des Eisenbahnsystems zu erhöhen. Die Schädigungsmechanismen Um die grundlegenden Mechanismen zu verstehen, die zu den Schädigungsformen Verschleiß (z. B. Profilverschleiß, Abb. 1: Die Beschreibung des komplexen Systems Bahn ist heute ohne realitätsnahe, computerunterstützte Modellierung nicht mehr denkbar. Quelle: Siemens (Foto), VIRTUAL VEHICLE (MKS Simulation, Grafik) Technologien + Informationssysteme 18 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 Abb. 2: Schädigungen im Rad-Schiene-Kontakt und die daraus resultierenden Phänomene haben großen Einfluss auf Fahrsicherheit, Fahrkomfort und Energieeffizienz des Eisenbahnsystems. Quelle: VIRTUAL VEHICLE Abb. 3: Die physikalische Modellbildung der auftretenden Effekte im Kontakt zwischen Rad und Schiene ist von entscheidender Bedeutung für Fragestellungen der Fahrzeugdynamik, der Antriebs- und Bremsregelung sowie die Erklärung von Verschleiß- und Rollkontaktermüdungsphänomenen. Quelle: VIRTUAL VEHICLE VIRTUAL VEHICLE im Überblick Der Schwerpunkt der Forschungsaktivitäten am VIRTUAL VEHICLE Research and Test Center (ViF) mit seinen 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Standort Graz liegt auf der virtuellen Produktentstehung. Die Entwicklung neuer Technologien, Methoden und Werkzeuge für einzelne CAE-Disziplinen sowie für die CAE-Integration steht im Mittelpunkt. Die multidisziplinäre Auslegung bei der Produktentwicklung sowie die gekoppelte Simulation bilden zentrale Forschungsthemen. Das ViF schafft eine effiziente Brücke zwischen universitärer Forschung und industrieller Vorentwicklung, die durch die Kombination von angewandter Forschung und hoher Forschungsförderung aus dem COMET Programm gesichert wird. Die am ViF gebündelten Kompetenzen bilden mit der Abdeckung von CAE- Einzelthemen sowie der CAE-Integration eine einzigartige Forschungsplattform in der CAE-Welt. Organisiert wird die Forschung über die fünf Forschungsbereiche A) System Design & Optimisation, B) Thermodynamics, C) NVH & Friction, D) Vehicle Safety & Dynamics und E) Vehicle E/ E & Software. Weitere Informationen unter: www.v2c2.at Forschung im Bereich Rail Systems Schienenriffel, Radunrundheiten) und RCF (z. B. Head Checks, Fischgrätenmuster) führen, ist einerseits ein tiefes Verständnis der im Kontakt ablaufenden Reibungsprozesse und andererseits die Kenntnis der Auswirkungen der Strukturdynamik von Fahrzeug und Fahrweg notwendig. Die durch den Kraftschluss zwischen Rad und Schiene auftretenden Effekte sind aber auch für Antriebs- und Bremsregelungen von Bedeutung und werden von heute verwendeten Modellen nur unzureichend erfasst. Temperatureinflüsse, Rauigkeiten, Konditionierung von Rad und Schiene sowie Zwischenschichten, fest und flüssig, beeinflussen die Kraftschlusscharakteristik maßgeblich. Modell-Entwicklung Die Gruppe Vehicle Dynamics − Rail Applications des VIRTUAL VEHICLE entwickelt ein Kontaktmodell, das die genannten Einflussgrößen erfasst und die Reibung auf Basis einer physikalischen Modellbildung beschreibt. Die Temperatur wird in der Kontaktzone punktgenau aufgelöst, Oberflächenstruktur und Rauheit werden über ein elastisch-plastisches, statistisches Oberflächenmodell berücksichtigt. In Kombination mit einem elastischen Bettungsmodell hat das Modell prädiktiven Charakter und kann die in der Praxis auftretenden Effekte abbilden und vorhersagen. Die Basisversion des nun am VIRTU- AL VEHICLE entwickelten Kontaktmodells ermöglicht erstmals die qualitative Abbildung der meisten aus der Literatur bekannten und bisher nicht vollständig oder gar nicht berücksichtigten Effekte. Die Strukturdynamik Zur Untersuchung des Einflusses der Strukturdynamik der Radsätze auf die Effekte und Phänomene im Rad-Schiene- Kontakt wurden FE-Modelle aus Abaqus genutzt. Die hohe Anzahl der Freiheitsgrade der FE-Modelle wurde durch die Component-Mode-Synthesis reduziert, so dass damit die elastische Radsatzstruktur in das Mehrkörpersystem Simulationsprogramm SIMPACK eingebunden werden konnte. Eine Erweiterung der Freiheitsgrade um wichtige Verformungsmodi - aus der Einspannung der Radsätze im Fahrwerk bzw. durch den Rad-Schiene-Kontakt selbst - wurde anschließend durch Frequency-Response-Modes (FRM) bewerkstelligt. Forschungsergebnisse Die Untersuchungen am VIRTUAL VE- HICLE konnten zeigen, dass der Einfluss der Strukturdynamik der Radsätze aber auch des Oberbaus, insbesondere bei Schädigungsmechanismen, die zu unrunden Rädern und Riffelbildung auf der Schiene führen, von Bedeutung ist. Durch die physikalisch richtige Abbildung der im Rad-Schiene-Kontakt auftretenden Effekte wird es durch modernste Berechnungsmethoden möglich, die größtenteils messtechnisch nicht erfassbaren komplexen Vorgänge im Rad-Schiene-Kontakt sichtbar zu machen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, um das Gesamtsystem Eisenbahn entscheidend weiterzuentwickeln. Qualität der Gleislage Neben der Bestimmung oder Vorhersage der Kräfte, die zwischen Fahrzeug und Fahrweg im Rad-Schiene-Kontakt übertragen werden, nimmt die Bewertung der Gleislage für die Fahrzeugzulassung, vor allem aber für die Instandhaltung der Infrastruktur, einen enormen Stellenwert ein. Die Bewertung der Gleislage aus Sicht einer internationalen Fahrzeugzulassung Technologien + Informationssysteme 19 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 ist ein wesentlicher Grundbaustein, um innerhalb der EU einen offenen Markt für Verkehrsleistungen und Ausrüstungen im Eisenbahnbereich zu schaffen. Für eine zuverlässige Auslegung von Schienenfahrzeugen in Bezug auf Fahrsicherheit, Fahrwegbeanspruchung, Fahrkomfort und Akustik ist es notwendig, die Betriebsbedingungen des Fahrwegs zu identifizieren und entsprechend zu klassifizieren. Aufgrund des wachsenden Kostendrucks, dem die Infrastrukurbetreiber ausgesetzt sind, ist eine strikte Ausrichtung der Instandhaltung nach den Life-Cycle- Costs des Fahrwegs erforderlich. Dafür ist vor allem die Gleislagebeurteilung ein entscheidender Parameter. Für eine effiziente Fahrweginstandhaltung ist es von großer Bedeutung, jene Abschnitte auf Basis einer soliden Grundlage zu identifizieren, für die Maßnahmen ergriffen werden müssen. Die Bewertung der geometrischen Gleislageabweichungen wird derzeit in zwei Europäischen Normen (EN 14363, EN 13848-5) geregelt. Hierbei ist zu hinterfragen, ob diese Methoden den Zusammenhang zwischen den Bewertungsgrößen des Fahrwegs und den Reaktionen eines Schienenfahrzeugs auf demselben Fahrbahnabschnitt in ausreichendem Maß berücksichtigen. Z us ammenhang von Fahrweg und Fahrzeugreaktion Diese Fragestellung wurde am VIRTUAL VEHICLE für die beiden genannten Normen im Rahmen eines umfassenden Forschungsprojektes untersucht. Es konnte eindeutig gezeigt werden, dass diese Anforderung mit den aktuellen in der Norm definierten Bewertungsmethoden nicht erfüllt wird. Eine wesentliche Begründung liegt darin, dass als Bewertungsgrößen Maximalwerte und Standardabweichungen der Gleislageabweichungen herangezogen werden. Eine Stelle im Gleis mit einem hohen Maximalwert bedeutet allerdings nicht automatisch eine hohe Fahrzeugreaktion bei der Überfahrt (Abbildung 4) , denn es ist auch die Form des Fehlers von ausschlaggebender Bedeutung. Das kann soweit führen, dass z. B. bei zwei Stellen mit gleichem Maximalwert an einer Stelle eine doppelt so hohe Fahrzeugreaktion hervorgerufen werden kann wie an der anderen (Abbildung 5) . Entwickelte Bewertungsmethode Die am VIRTUAL VEHICLE in Zusammenarbeit mit mehreren Industriepartnern entwickelte Bewertungsmethode besitzt den entscheidenden Vorteil, dass das Verhalten des dynamischen Systems Fahrzeug-Fahrweg für die Bewertung der Gleislagequalität berücksichtigt wird. Die Bewertungsgrößen dieser Methode zeigen eine signifikant hohe und deutlich bessere Korrelation mit den zu erwartenden Fahrzeugreaktionen. Die Methode erfüllt auch weitere Anforderungen von Fahrzeugherstellern und Bahnbetreibern wie kurze Berechnungszeiten sowie eine einfache und standardisierte Implementierungsmöglichkeit in die Prozesse der Anwender. Dies wird durch einfach umsetzbare Algorithmen erreicht. Anwendung Das Potenzial der entwickelten Bewertungsmethode liegt nicht nur im Bereich der internationalen Fahrzeugzulassung, die verbesserte Methode bietet auch eine Basis für neuartige Instandhaltungsstrategien. Stellen mit einer zu erwartenden hohen Wechselwirkung zwischen Fahrzeug und Fahrweg können frühzeitig erkannt werden. Diese verbesserten Fahrweginformationen ermöglichen eine gezielte Instandhaltung und daraus resultieren wiederum entscheidende technische und wirtschaftliche Vorteile für die Infrastrukturbetreiber. Acknowledgment Die Autoren danken dem „COMET K2 Forschungsförderungs-Programm“ des Österreichischen Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT), des Österreichischen Bundesministeriums für Wirtschaft, Familie und Jugend (BMWFJ), der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft mbH (FFG), des Landes Steiermark sowie der Steirischen Wirtschaftsförderung (SFG) für die finanzielle Unterstützung. Ebenfalls danken wir den unterstützenden Firmen und Projektpartnern sowie der Technischen Universität Graz. Summary Vehicle and Route Interaction and its significance for the railway system Any complex railway system is faced with enormous challenges, which need innovative ideas to allow future developments to be carried out in a cost effective way. In this context, reality-based computer models play a decisive role. The „Rail Systems“ sector of the „VIRTUAL VEHICLE“ Research Centre helps to bring innovative ideas and concepts to fruition. Abb. 5: Qualität der Gleislage: Ein Maximalwert von ca. 8 mm kann eine Fahrzeugreaktionskraft von 20 kN oder 40 kN hervorrufen. Quelle: VIRTUAL VEHICLE Abb. 4: Qualität der Gleislage: Die Fahrzeugreaktion mit dem eingezeichneten Maximalwert (oben) und die dazugehörige Gleislage mit dem eingezeichneten Maximalwert (unten) - beide an völlig verschiedenen Orten. Quelle: VIRTUAL VEHICLE
