eJournals Internationales Verkehrswesen 62/9

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0115
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Die Bahnen zwischen Sein und Schein

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Christian Dahm
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Aus der Europäischen Union 27 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 Auf dem Weg zum gemeinsamen EU- Binnenmarkt ist eines der obersten Gebote die Liberalisierung. Es hat zwar etwas gedauert, doch nun ist sie auch bei allen Bahnen in aller Munde. Leider bleibt es aber häufig bei Lippenbekenntnissen, wenn es darum geht, die Marktöffnung in die Tat umzusetzen. EU-Verkehrskommissar Siim Kallas musste schnell erkennen, dass vor allem die (ehemaligen) Staatsbahnen keine Heiligen sind - allen Beteuerungen zum Trotz. Zwischen Sein und Schein bestehen große Unterschiede. „Scheinheilig! “, brachte Kallas das Handeln der großen Akteure treffend auf den Punkt. Aufgrund der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und der in der Praxis häufig ineffizienten Marktöffnung ist der europäische Eisenbahnmarkt durch Asymmetrien gekennzeichnet: In einigen Ländern ist der Markt geöffnet, in anderen de facto nicht. Die Gegensätze spiegeln sich auch im Verband Europäischer Bahnen CER wider. Die unterschiedlichen Interessen und Strategien der CER-Mitglieder haben die Lobbying-Arbeit von CER-Exekutivdirektor Johannes Ludewig zu einer äußerst heiklen und schwierigen Aufgabe werden lassen. Bei den Diskussionen über das EU-Bahnfrachtnetz war die französische SNCF bereits nicht sehr glücklich mit der Arbeit der CER. Nun machen - hinter vorgehaltener Hand - hohe EU-Beamte die DB sowie Ludewig persönlich dafür verantwortlich, dass die Überarbeitung des ersten Eisenbahnpaketes (Recast) verschoben wurde. Kein Wunder, dass die SNCF das Lobbying des Ex-DB- Chefs mit Argusaugen beobachtet. Die eigentliche Frage ist jedoch, warum sich die DB hinter den Kulissen so ins Zeug legt, um den Recast hinauszuzögern. Dass die DB dies tut, ist in Brüssel ein offenes Geheimnis, auch wenn die DB natürlich offiziell jegliche Intervention bestreitet. Einer der Gründe, warum die Deutsche Bahn nicht tatenlos zusehen kann, ist ihre Holdingstruktur. Die Infrastruktur ist eine wesentliche Einnahmequelle für das Gesamtunternehmen, insbesondere über die Netzbewirtschaftung, die Festlegung der Trassenpreise und die Einnahmen aus der Energielieferung. Beim Energiebezug sind die Wettbewerber dazu noch im Nachteil, weil sie mit ihren Abnahmemengen nicht die Bedingungen erfüllen, die für das Erreichen der maximalen Rabattstufe erforderlich sind. Deshalb ist grundsätzlich jede Initiative, die das derzeitige Holdingmodell in Gefahr bringt, ein rotes Tuch für die DB. Es ist davon auszugehen, dass die Kommission im Recast versuchen wird, die Trennung von Infrastruktur und Verkehr festzuschreiben - direkt oder indirekt. Letzteres beispielsweise durch eine Stärkung der Kompetenzen der nationalen Regulierungsbehörden. Verbesserungsbedarf sieht Die Bahnen zwischen Sein und Schein Die DB entwickelt sich vom Paulus zum Saulus der EU-Bahnliberalisierung die Kommission in Deutschland bei der Ausstattung der Behörde mit weitergehenden Rechten zur Auskunftseinholung. Somit ist jeder Monat, den diese Struktur aufrechterhalten werden kann, für die DB als Ganzes ein Gewinn. Denn es kann schon von Privilegien gesprochen werden, wenn ein Unternehmen seine Produktionsbedingungen weitgehend frei festlegen kann. Dass die DB Interesse an einer Verzögerung des Recast hat, liegt auch an der bestehenden Wettbewerbsasymmetrie in der EU. Diese würde durch eine Verschärfung der Regeln für die Marktöffnung noch verstärkt, da bislang nur rund die Hälfte aller EU-Länder diese wirklich umgesetzt hat. Dort, wo die Märkte offen sind, würde es dann noch leichter für die Wettbewerber. Die DB argumentiert, dass das entscheidende Element für den Recast fehlt: der nationale Personenverkehr. Indem beides aneinander gekoppelt werden soll, spielt die DB wissentlich auf Zeit. Denn wie allgemein bekannt, wird die geplante Liberalisierung der nationalen Personenverkehrsmärkte nicht über Nacht kommen. Konkrete Vorschläge muss die Kommission spätestens 2012 vorlegen. Und bis diese verabschiedet und umgesetzt sein werden, vergehen weitere Jahre. Das Argument der DB ist somit so wenig überzeugend wie frühere Forderungen der CER, erst die Auswirkungen des ersten Eisenbahnpakets abzuwarten, bevor dieses überarbeitet werden könne. Nach dem forschen Einsatz der DB gegen das EU-Bahnfrachtnetz und dem versteckten Lobbying gegen den Recast hat das Image der DB als einer der Vorreiter der Bahnliberalisierung in Kreisen der EU- Kommission in den letzten Monaten sehr gelitten. Die DB steht unter Verdacht, sich vom Paulus zum Saulus der EU-Bahnliberalisierung zu entwickeln. Christian Dahm, EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Logistik- Zeitung in Brüssel SNCF Die französische SNCF will vom Verhinderer zum Vorreiter der Bahnliberalisierung in der EU werden. Das kündigte der ständige Vertreter der SNCF bei der EU, Jean-Michel Dancoisne, an. Dieser 2006 eingeleitete Strategiewechsel werde durch den derzeitigen SNCF-Chef Guillaume Pepy mit Nachruck weitergeführt. Für ausländische Beobachter müsse künftig klar sein, dass in Frankreich Staat und Staatsbahn nicht mehr in einen Topf geworfen werden können. „Die SNCF hat eine eigene Unternehmensstrategie“, unterstreicht Dancoisne. Wichtig sei für die SNCF beispielsweise, dass die Überarbeitung des ersten Eisenbahnpakets (Recast) kompatibel sei mit der geplanten Liberalisierung des nationalen Personenverkehrs und kein Recast des Recast notwendig werde. Unerlässlich ist es für Dancoisne, dass die Gemeinschaft der Europäischen Bahnen CER die Interessen der einzelnen Mitglieder neutral vertritt. Der Bahnsektor werde sich aber darauf einstellen müssen, dass es zu einer Umformung der Lobbylandschaft kommt, sowohl national als auch international. „Mittelfristig ist nicht auszuschließen, dass verschiedene unabhängige Einheiten von Bahnen wie internationale Tochterunternehmen Mitglied in unterschiedlichen Lobbyorganisationen wie CER oder Erfa sein werden“, so Dancoisne. Wie das Beispiel von CER und EIM zeige, säßen bereits heute die Bahnen und die Infrastrukturbetreiber nicht immer im selben Verband. Vorrangig sei, dass die Stimme der Bahnen sich mehr Gehör verschaffe. Vorreiter der EU-Bahnliberalisierung?