Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0120
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Deutschland muss „Schengen auf der Schiene“ endlich umsetzen
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Ronald Pörner
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Standpunkt 38 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 9/ 2010 Prof. Dr. Ronald Pörner Hauptgeschäftsführer Verband der Bahnindustrie in Deutschland (VDB) e.V., Berlin Deutschland muss „Schengen auf der Schiene“ endlich umsetzen Ein europäisches Eisenbahnkonzept zur möglichst einfachen Abwicklung des Schienenverkehrs über grenzüberschreitende Korridore gibt es seit rund sieben Jahren. Um dieses Ziel zu verwirklichen, müssen unter dem Begriff der sogenannten „Interoperabilität“ unter anderem die europäischen Leit- und Sicherungssysteme harmonisiert werden. Die dafür nötige technische Lösung ist die Einführung des einheitlichen europäischen Signalsystems ETCS (European Train Control System). Es überwindet die bestehenden technischen Hürden der Signaltechnik an den nationalen Grenzen. Erst dann kann ein ungehinderter grenzüberschreitender Bahnverkehr, ein „Schengen auf der Schiene“, erreicht werden. Der Schienenverkehr wird dadurch im Vergleich zum Straßenverkehr gestärkt und endlich wettbewerbsfähiger. Darüber hinaus bestehen mit der Einführung von ETCS gute Möglichkeiten, Kapazitätssteigerungen um bis zu 25% zu erzielen. Die Schweiz ist hierfür ein gutes Beispiel. Wenn man an neuralgischen Knotenpunkten weitere signaltechnische Anpassungen vornimmt, ist sogar eine noch höhere Kapazitätssteigerung möglich. Zudem können durch höhere Geschwindigkeiten und das Vermeiden von unnötigen Brems- und Beschleunigungsvorgängen erhebliche Fahrtzeitgewinne und Energieeinsparungen realisiert werden, die den Kunden unmittelbar zugutekommen. Im Jahr 2005 wurde das Konzept eines zusammenhängenden Netzes von sechs europäischen Schienenkorridoren entwickelt, von denen vier Korridore durch Deutschland führen. Die wichtigste dieser Trassen ist der Korridor A, dessen Ausbau zu einer europäischen Rollbahn für den Nord-Süd- Verkehr zwischen Rotterdam und Genua führen soll. Er würde bis zu 50% des gesamten Nord-Süd- Verkehrs auf der Schiene aufnehmen. In Deutschland führt er von Emmerich bis Basel auf einer Länge von 670 km. Gemäß der verbindlichen europäischen Planung muss der Korridor A bis 2015 komplett mit ETCS ausgerüstet sein, die übrigen Korridore bis 2020. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland im Herbst 2007 ein verbindliches Ausrüstungskonzept für diese vier Korridore mit den genannten Fertigstellungsterminen nach Brüssel gemeldet hat, gibt es bis heute weder eine ausreichende Finanzierung noch ein mit der Deutschen Bahn abgestimmtes technisches Konzept. Es wird deswegen sehr schwierig werden, beispielsweise die mit den Anrainerstaaten des Korridors A (NL, CH und IT) verbindlich getroffenen Vereinbarungen zur Durchgängigkeit des Korridors zu erfüllen. Diese Anrainerstaaten kommen ihren Ausrüstungs- und Finanzierungsverpflichtungen nach. Deutschland hinkt im Gegensatz dazu aus den oben genannten Gründen hinterher. Der auf einer Sitzung der europäischen Verkehrsminister im Juni 2010 erneut bestätigte Inbetriebnahmetermin im Jahr 2015 lässt sich also nur noch mit deutlich stärkeren Anstrengungen als bisher halten. Dies ist umso bedeutender, da Deutschland das wichtigste Eisenbahnland in der Mitte Europas ist. Es sollte die Rolle des Vorreiters für einen durchgängigen europäischen Bahnverkehr übernehmen und die technischen und betrieblichen Hürden zügig beseitigen. Als ein wesentliches Argument gegen einen sofortigen Beginn der Ausrüstung mit ETCS wird immer wieder angeführt, dass ein voll interoperabler technischer Standard fehlen würde. Dieses Argument läuft ins Leere: Erstens wurde durch die Europäische Kommission bereits im April 2008 ein voll interoperabler Standard verabschiedet. Zweitens kann dieser bereits heute mit einer Vielzahl neuer Funktionen ausgeschrieben werden, da die technischen Spezifikationen bereits gut bekannt und Gegenstand eines Test- und Validierungsprozesses sind. Verträge müssten nur die Tatsache berücksichtigen, dass gegebenenfalls geringe Anpassungen bis 2012 notwendig sein könnten. Eine weitere Barriere stellen die Investitionskosten dar; allerdings wird hier mit sehr unterschiedlichen Zahlen und Annahmen argumentiert. Die offensichtlich vom BMVBS (entgegen früherer Bekundungen) nun bevorzugte Idee, beispielsweise den Korridor A komplett mit ETCS Level 2 auszurüsten, verursacht etwa doppelt so hohe Kosten als das von der Deutschen Bahn mit dem VDB detailliert ausgearbeitete Konzept einer Mischausrüstung mit ETCS Level 1 Limited Supervision und ETCS Level 2. Dies ist nicht nur für die Unternehmen der Bahnindustrie eine sehr kritische Entwicklung, da diese im Vertrauen auf die ursprünglichen Festlegungen durch das BMVBS bereits seit drei Jahren erhebliche Mittel in die Realisierung der angeführten Mischausrüstung investiert haben, sondern auch für den insgesamt sehr angespannten Staatshaushalt. Um eine fristgerechte Ausrüstung zumindest des Korridors A bis 2015 sicherstellen zu können, sollte schnellstens ein spezieller „ETCS-Sondertitel“ im BMVBS in Höhe von mindestens 150 Mio. Euro jährlich eingerichtet werden. Darüber hinaus muss dringend ein technisch-betrieblicher „Fahrplan 2020“ zur Ausrüstung der Korridore mit ETCS zwischen dem BMVBS, dem Eisenbahn-Bundesamt, der Deutschen Bahn und der Bahnindustrie erarbeitet werden. Dieser sollte dann eine hohe Verbindlichkeit für alle Beteiligten haben.
