Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0128
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Vulkanasche und Rechte der Fluggäste
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Wolf Müller-Rostin
Millionen Flugreisende saßen auf europäischen und außereuropäischen Flughäfen teilweise mehrere Tage fest, als wegen der vulkanaschebedingten Sperrung des europäischen Luftraums ihre Maschinen nicht starten konnten. Vielen dieser gestrandeten Flugreisenden kam allerdings eine EU-Verordnung zu Hilfe, die ihnen im Falle der Flugannullierung Ansprüche auf gewisse Betreuungs- und Unterstützungsleistungen gegenüber dem Luftfahrtunternehmen, das den Flug ausführen sollte, einräumt.
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Mobilität + Personenverkehr 23 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 10/ 2010 Wolf Müller-Rostin Vulkanasche und Rechte der Fluggäste Millionen Flugreisende saßen auf europäischen und außereuropäischen Flughäfen teilweise mehrere Tage fest, als wegen der vulkanaschebedingten Sperrung des europäischen Luftraums ihre Maschinen nicht starten konnten. Vielen dieser gestrandeten Flugreisenden kam allerdings eine EU-Verordnung 1 zu Hilfe, die ihnen im Falle der Flugannullierung Ansprüche auf gewisse Betreuungs- und Unterstützungsleistungen gegenüber dem Luftfahrtunternehmen, das den Flug ausführen sollte, einräumt. Der Autor Prof. Dr. Wolf Müller-Rostin, Rechtsanwalt, Bonn, airlawconsult@aol.com A nwendbar ist diese Verordnung zunächst auf sämtliche Flüge, die von einem in einem Mitgliedsstaat der EU gelegenen Flughafen starten, unabhängig davon, ob diese Flüge von einem in der EU registrierten so genannten Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft oder von einem Unternehmen aus einem Drittland durchgeführt werden. Sie ist ferner anwendbar auf sämtliche Flüge von Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft aus einem Drittland in die EU hinein. Ansprüche auf Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Zwar können die Flugreisenden wegen der Flugannullierungen auf Grund der Sperrung des Luftraums keine Ansprüche auf finanzielle Ausgleichsleistungen geltend machen, da derartige Leistungen nur dann fällig werden, wenn die Annullierung nicht durch außergewöhnliche Umstände begründet wird. Die Sperrung des Luftraums ist ein nicht durch die Luftfahrtunternehmen beherrschbarer und somit ein außergewöhnlicher Umstand, der eine Ausgleichsleistung entfallen lässt. Doch stehen den Flugreisenden gleichwohl zunächst Ansprüche auf Unterstützungsleistungen, nämlich Ansprüche auf Erstattung des Flugpreises, zu. Falls Flugreisende diesen Anspruch nicht geltend machen, gewährt die Verordnung ihnen immerhin noch Ansprüche auf anderweitige Beförderung (Zug, Bus oder anderer Flugtermin zum frühestmöglichen Zeitpunkt). Zudem haben die Flugreisenden Ansprüche auf sogenannte Betreuungsleistungen. Hierunter versteht die Verordnung die Gewährung von der Tageszeit angemessener Verpflegung, von Kommunikationsmöglichkeiten und insbesondere eine Hotelunterbringung, gegebenenfalls auch für mehrere Nächte. Diese Betreuungs- und Unterstützungsleistungen sind zu gewähren selbst in Fällen höherer Gewalt. Ziel der Verordnung ist der Schutz des Flugreisenden vor willkürlichen, also insbesondere aus wirtschaftlichen Gründen erfolgenden Annullierungen von Flügen oder vor sonstigen Flugunregelmäßigkeiten, die dem Risikobereich der Luftfahrtgesellschaften zuzurechnen sind. Die Frage ist jedoch, ob mit der Gewährung von Ansprüchen auch bei höherer Gewalt der Verordnungsgeber in Brüssel nicht den Verbraucherschutzgedanken überspannt und seine Verpflichtung zur Schaffung einer ausgewogenen Regelung aus den Augen verloren hat. Der europäische Verordnungsgeber unterliegt dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Der Europäische Gerichtshof und der Bundesgerichtshof haben in etlichen Entscheidungen jüngeren Datums betont, dass die Verordnung (EG) 261/ 2004 die haftungsrechtlichen Vorschriften des Montrealer Übereinkommens ergänzt. Diese Ergänzungen stehen indes in Widerspruch zur Präambel des Montrealer Übereinkommens, die als Zielsetzung des Übereinkommens die Zusammenführung und Harmonisierung des internationalen Luftprivatrechts betont. Die Schaffung einer Verordnung mit zusätzlichen Verpflichtungen der Luftfahrtunternehmen und nur regionalem Anwendungsbereich steht einer angestrebten Harmonisierung diametral entgegen. Ein gerechter Interessenausgleich zwischen den Interessen der Verbraucher und denen der Luftfahrtunternehmen - weitere Zielsetzung der internationalen Übereinkommen - wird mit derart einseitig ausgerichteten Verordnungswerken geradezu unterlaufen. Jeder Gesetzgeber ist dem Verhältnismäßigkeitsprinzip unterworfen, auch der europäische Verordnungsgeber. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist im Primärrecht in Artikel 5 Absatz 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) niedergelegt. Nach gefestigter Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes sollen die Maßnahmen der Gemeinschaft nicht über das für die Erreichung der Ziele erforderliche Maß hinausgehen. Die gewählten Mittel müssen zur Erreichung des angestrebten Zweckes geeignet sein und dürfen nicht das Maß des hierzu Erforderlichen übersteigen. Diesem Grundsatz vermag die Verordnung (EG) 261/ 2004 nicht zu entsprechen. Die Schaffung einer Haftung selbst in Fällen, in denen die Leistungserbringung subjektiv und objektiv unmöglich geworden ist, ist im europäischen Recht einzigartig. Zudem übersteigt die Gewährung von Unterstützungs- und Betreuungsleistungen auch in Fällen höherer Gewalt im Hinblick auf das Ziel, nämlich angemessener Verbraucherschutz, das Maß des Erforderlichen und ist somit unverhältnismäßig. Wenn sich das Luftfahrtunternehmen von seiner Verpflichtung zur Zahlung von Ausgleichsleistungen bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände zumindest teilweise entlasten kann, so muss erst recht eine Entlastung gelten bei Fällen von höherer Gewalt, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Gewährung von Ausgleichsleistungen, sondern auch auf die Gewährung von Unterstützungs- und Betreuungsleistungen. Stattdessen wird mit der Verordnung dem Flugreisenden gleichsam eine Versicherung gegen Risiken des täglichen Lebens geboten. Jeder Reisende, der mit der Bahn, mit dem Schiff, dem Omnibus oder dem Flugzeug reist, unterliegt der Gefahr, dass seine Reise durch Ereignisse höherer Gewalt unterbrochen wird. Wer beispielsweise im Winter verreist, muss damit rechnen, dass ein Schneesturm seine Weiterreise unterbricht oder möglicherweise unmöglich macht. So bedauerlich solche Fälle auch sein mögen, sie gehören zum Lebensrisiko, dem jedermann unterliegt. Die Nähe der Verordnung zum Montrealer Übereinkommen wird in der Verordnung mehrmals hervorgehoben, auch im Hinblick auf die Entlastungsmöglichkeiten des Luftfahrtunternehmens bei außergewöhnlichen Umständen. Doch während das Übereinkommen dem Luftfahrtunternehmen in mit außergewöhnlichen Umständen vergleichbaren Umständen eine vollständige Entlastung gewährt, ist eine solche in der Verordnung nur für einen Teilbereich, nämlich für die Zahlung von Ausgleichsleistungen vorgesehen. Mit welcher nachvollziehbaren Rechtfertigung soll in einem derartigen Fall der Verwirklichung des allgemeinen 24 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 10/ 2010 Lebensrisikos ein Luftfahrtunternehmen zur Gewährung von Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, die oftmals den Flugpreis um ein Vielfaches übersteigen können, verpflichtet sein? Dementsprechend sieht z. B. die Verordnung (EG) 1371/ 2007 über Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (ABl. L 315/ 14 vom 23.10.2007) in Anhang 1, Titel IV Kapitel II, Art. 32 vor, dass das Eisenbahnunternehmen von seiner Haftung u. a. auch für Übernachtungskosten oder Kosten der Gewährung von Kommunikationsmöglichkeiten befreit ist, wenn der Ausfall eines Zuges auf unvermeidbaren, außerhalb des Eisenbahnbetriebs liegenden Umständen beruht. Warum kann Entsprechendes nicht im Luftverkehr gelten? Die Kostenprobleme, die den Luftfahrtgesellschaften durch die Verordnung verursacht werden, können auch nicht durch Anhebung des Flugpreises um einen oder etwa mehrere Euros gelöst werden. Dieser unlängst in einem Aufsatz in der juristischen Fachpresse veröffentlichte Vorschlag übersieht, dass der vom Fluggast insbesondere im Bereich der EU zu zahlende Preis für seine Beförderung ohnedies bereits u. a. durch nationale Steuern, durch Gebühren für Sicherheitsmaßnahmen und durch Kosten für seit dem 11. September 2001 angestiegene Versicherungsprämien und künftig noch durch Kosten für die Einbeziehung des Luftverkehrs in den EU-Emissionshandel erheblich belastet ist - Kosten und Gebühren, die zumindest teilweise bei Luftverkehrsgesellschaften aus Drittländern nicht entstehen oder vom Staat übernommen werden, wodurch der Wettbewerb erheblich verzerrt wird. Anzustrebende Harmonisierung der Passagierrechte aller Verkehrsträger Die durch die Verordnung (EG) 261/ 2004 bewirkte einseitige Belastung eines Verkehrsträgers ist nicht begründbar. Daher ist der Appell an den Verordnungsgeber in Brüssel zu richten, eine Verordnung über die Harmonisierung von Passagierrechten zu schaffen, die für Passagiere aller Verkehrsmittel einheitliche Rechte schafft, wobei aber das Gebot der Verhältnismäßigkeit nicht (wieder) aus den Augen verloren werden darf. 1 Verordnung [EG] 261/ 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung und großer Verspätung; ABl. L 46/ 1 vom 17.2.2004 Summary Volcanic ash and the rights of air travellers For several days, millions of airline passengers were stranded at both European and non-European airports due to the closure of Europe‘s airspace caused by volcanic ash that prevented aircraft from taking off. EU Regulation 261/ 2004 (Official Journal L 46/ 1, 17.2.2004), which covers certain remedies for passengers subject to denied boarding, flight cancellation or long delay, assisted many of the stranded passengers, because it obligates the air carriers to provide care (hotel accommodation, telecommunication) and assistance (reimbursement, re-routing) to passengers even in cases of force majeure. The author raises the question whether a liability even in cases where the transportation is interrupted for reasons completely outside the control of the air carrier can be considered proportionate well balanced between the ínterest of the passengers and that of the carriers. Harmonisation of the obligations of all modes of transportation is urgently needed.
