eJournals Internationales Verkehrswesen 62/10

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0136
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Klimaneutraler Luftverkehr in 2030 - Illusion oder realistisches Ziel?

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Michael Stumpf
Markus Engemann
Welches Entwicklungsszenario für den Luftverkehr 2030 ist wahrscheinlich? Wie entwickeln sich der Ölmarkt, das Angebot von Ersatztreibstoffen und die Flugzeugtechnologien? Welche Strategien verfolgen die Operateure des Luftverkehrs, insbesondere die Airlines? Dies waren die zentralen Fragen des 17. DVWG-Luftverkehrsforums, das am 1. Juli in Frankfurt/Main stattfand.
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Veranstaltungen 38 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 10/ 2010 Markus Engemann / Michael Stumpf Klimaneutraler Luftverkehr in 2030 - Illusion oder realistisches Ziel? 17. DVWG Luftverkehrsforum Welches Entwicklungsszenario für den Luftverkehr 2030 ist wahrscheinlich? Wie entwickeln sich der Ölmarkt, das Angebot von Ersatztreibstoffen und die Flugzeugtechnologien? Welche Strategien verfolgen die Operateure des Luftverkehrs, insbesondere die Airlines? Dies waren die zentralen Fragen des 17. DVWG- Luftverkehrsforums, das am 1. Juli in Frankfurt/ Main stattfand. Die Autoren Michael Stumpf, Geschäftsführer ECAD GmbH, michael.stumpf@ecadaviation.de; Markus Engemann, Koordination Projekt- und Tagungsmanagement, DVWG Hauptgeschäftsstelle, markus.engemann@dvwg.de G emessen am gesamten Schadstoffeintrag in die Atmosphäre ist der Beitrag des Luftverkehrs gering. So beträgt der Anteil an der globalen anthropogenen CO 2 -Emission etwa 2 %. Aufgrund der stetig wachsenden Transportleistung nimmt der Einfluss des Luftverkehrs jedoch zu. Alle Beteiligten sind sich deshalb einig, dass das Wachstum von den Emissionen entkoppelt werden muss, ein Prozess, der bereits bei einigen Airlines im Gange ist. Nur so kann dauerhaft eine nachhaltige Entwicklung des Luftverkehrs sichergestellt werden, die sowohl ökonomischen als auch ökologischen Zielen gerecht wird. Im Rahmen des 17. DVWG Luftverkehrsforums lud die Deutsche Verkehrswissenschaftliche Gesellschaft (DVWG e.V.) in Kooperation mit dem European Center for Aviation Development (ECAD) und der Gründungsinitiative Frankfurt HOLM e.V. (House of Logistics and Mobility) zu einem fachlichen Dialog zwischen Forschung und Praxis ein. Fragen nach der regionalen Verteilung zukünftigen Wachstums, den Handlungsoptionen der Luftfahrtindustrie und -unternehmen oder die Frage der Verträglichkeit des anhaltenden Wachstums im Luftverkehr mit den Klimaschutzzielen wurden von Experten und Fachleuten diskutiert. Die Ursachen für das starke Luftverkehrswachstum liegen in erster Linie im weltweiten Wirtschaftswachstum (BIP) begründet. Krisen des Luftverkehrs, die sich typischerweise in einer Abkühlung des Wachstums für den Zeitraum von ein bis zwei Jahren darstellen, können eindeutig mit wirtschaftlichen Abschwüngen korreliert werden. Analysen der letzten Krise bestätigen diese Erkenntnisse aus früheren Luftverkehrskrisen. Dr. Alexander Zock vom Mitveranstalter ECAD betonte, dass regional unterschiedliche wirtschaftliche Erholungspfade im Luftverkehr zu strukturellen Verschiebungen in den Marktstrukturen führen können, wie dies in der aktuellen Krise am Beispiel des Mittleren Ostens oder Chinas erkennbar ist. Dies bedeutet, dass bei Eingriffen regulativer Art im Luftverkehr diese dynamischen Strukturen detailliert betrachtet werden müssen (siehe z. B. Emissionshandel, Emissionsabgaben). Für die Zukunft ist in diesem Zusammenhang nach aktuellen Prognosen von Airbus mit einem starken Wachstum von ca. 3 - 5 % bis 2028 zu rechnen. Diese Prognosen sind allerdings mit einer hohen Unsicherheit verbunden, da sie weder künftige wirtschaftliche Abschwünge explizit adressieren noch auf andere mehr strategische Fragen wie z. B. die Substituierbarkeit des Luftverkehrs eingehen. Die Luftverkehrsbranche ist sich ihrer Verantwortung bewusst und bemüht sich mit vielen Maßnahmen, die Vision eines CO 2 -neutralen Wachstums zu verwirklichen. Kern der Bemühungen der Airlines ist die „Vier-Säulenstrategie“ des weltweiten Airlineverbandes IATA mit folgenden Zielsetzungen: ̇ Investition in neue Technologien bei Flugzeugen und in alternative Kraftstoffe ̇ Effizienzsteigerung im Flugbetrieb (Auslastung, Gewichtsreduktion, operative Maßnahmen) ̇ Verbesserung der Infrastruktur (land- und luftseitig) ̇ Einsatz effektiver ökonomischer Instrumente. Mit diesem Programm versucht die Branche in Form einer Selbstverpflichtung bis 2020 die Effizienz des Kraftstoffverbrauchs zur Transportleistung jährlich um 1,5 % zu erhöhen, die CO 2 -Emissionen ab 2020 einzufrieren und bis 2050 auf den Wert von 2005 zurückzuführen. Haupthebel für Effizienzsteigerungen auf der Produktionsseite der Luftverkehrsakteure sind effizientere Flugzeuge wie der A 380, die B 787 oder der A 350, mit denen Effizienzsteigerungen in der Größenordnung von bis zu 30 % möglich scheinen. Durch die neuen Technologien könnten so bis zum Jahr 2020 gegenüber dem heutigen Niveau 728 Mio. t CO 2 eingespart werden, was in etwa der angestrebten jährlichen Effizienzsteigerung um 1,5 % entspricht. Die theoretischen Potenziale der Antriebstechnologie zur Verbesserung des spezifischen Verbrauchs auf Flugzeugebene liegen hauptsächlich in den noch nicht ausgeschöpften Reserven des Vortriebswirkungsgrades und des thermischen Wirkungsgrades des Antriebs sowie in Maßnahmen zur weiteren Gewichtsreduktion begründet. Dr. Helmut Richter (Rolls Royce) führte in diesem Zusammenhang aus, dass der Grad der realen Ausschöpfung dieser Reserven bestimmt wird durch die Verfügbarmachung neuer Technologien im Rahmen eines wirtschaftlich tragfähigen und wettbewerbsintensiven Innovationsprozesses mit hohen Investitionen und Risiken sowie langen Lebenszyklen. Seiner Ansicht nach steigen durch die bereits erreichten erheblichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte die erforderlichen Investitionen für weitere Fortschritte kontinuierlich. „Eine realistische Einschätzung der zukünftigen Klimarelevanz des Luftverkehrs erscheint als hochkomplexes dynamisches Problem, auf welches es keine einfachen Antworten gibt.“ Alexander Zock, European Center for Aviation Development ECAD GmbH Veranstaltungen 39 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 10/ 2010 Eine Analyse der Produktlebenszyklen von Flugzeugen unterstreicht, dass derartige Technologieschübe erst mit einigen Jahren Verzögerung im Markt wirksam werden, wobei der hochvolatile Ölpreis der letzten Jahre eine Schlüsselfunktion hinsichtlich einer Beschleunigung oder Verlangsamung dieses Prozesse besitzt. Die typische mittlere Lebensdauer eines Flugzeugmusters liegt bei ca. 30 Jahren. Dr. Andreas Kuhlmann (Bauhaus Luftfahrt e.V.) stellte daher in Frage, ob die neuen Flugzeugmodelle, auch die richtigen Antworten auf die ökologischen Herausforderungen geben. Skeptisch sind die Experten aus der Luftfahrt wie z. B. Dr. Karlheinz Haag (Lufthansa) auch deshalb, weil für die Erreichung dieser ambitionierten Zielvorgaben 12 000 Flugzeuge bis zum Jahr 2020 ersetzt werden müssten, was einem Investitionsvolumen von 1300 Mrd. US-$ entspricht. Darüber hinaus ist die Realisierung von Effizienzpotenzialen auch stark von der Art des operativen Einsatzes eines Flugzeugs abhängig. Der verstärkte Einsatz moderner energieeffizienterer Flugzeuge im „Ultra-long-haul“-Bereich kann in diesem Zusammenhang z. B. die erwarteten Effizienzgewinne fast komplett neutralisieren. Potenziale zur Emissionsminderung im Luftverkehr liegen demzufolge auch im operativen Bereich der Airlines bzw. der Flugsicherung. Wenn eine zeitsparende und energieeffiziente Flugroute durch notwendig gewordene Warteschleifen oder Umwege am Zielflughafen nivelliert wird, sind dies ungenutzte Möglichkeiten, die nicht in der Luft sondern am Boden geregelt werden müssen. Die SWISS hat in diesem Zusammenhang ermittelt, dass die 2003 geänderten restriktiveren Anflugverfahren am Flughafen Zürich den Ausstoß soviel zusätzliches CO 2 und NO X verursachen, wie mit der Ablösung der MD11 durch den A 340 bei der SWISS eingespart wurde. Seit Jahren ist die Luftfahrtbranche in Europa daher bemüht, die Rahmenbedingungen für einen einheitlichen europäischen Luftraum („Single European Sky“) zu schaffen, die eine Treibstoffeinsparung von bis zu 10 % mit sich bringen könnten. Dies würde sich nicht nur sofort, sondern auch auf die technisch veralteten Flugzeuge auswirken, doch nationale politische Interessen standen bisher einer europäischen Einigung entgegen. Frank Wetzel (Umweltbundesamt) verwies darauf, dass ein klimaneutraler Luftverkehr nur mit Hilfe alternativer (d. h. nicht-fossiler) Energieträger erreicht werden kann. Dass diese den hohen Anforderungen der Luftfahrt an Energie- und Leistungsdichte genügen und auf regenerativen Energien basieren müssen, macht die Erreichung der Klimaneutralität für den Luftverkehr besonders schwierig. Das DLR-Institut für Verbrennungstechnik in Stuttgart erforscht seit mehreren Jahren neue synthetische Treibstoffe für den Luftverkehr. Synthetische Treibstoffe auf Basis von Kohle, Erdgas oder Biomasse könnten hier die Lösung sein, so Dr. Marina Braun- Unkhoff (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt) und Dr. Andreas Kuhlmann (Bauhaus Luftfahrt e.V.). Die Vision ist, nicht nur Kerosin auf Erdölbasis zu verringern, sondern langfristig durch verbesserte regenerative Treibstoffe abzulösen. Als grundsätzliche Optionen für alternative Kraftstoffe bieten sich im Wesentlichen Kraftstoffe aus unkonventionellem Öl (Ölsande, Ölschiefer und Schweröl), fossile synthetische Kraftstoffe (CTL - Coal to Liquid, GTL - Gas to Liquid), Kraftstoffe aus Biomasse, sowie flüssige Gase an. Die ersten beiden Gruppen erscheinen dabei als geeignet, zumal sie relativ lang verfügbar sein werden. Allerdings sind sie in ihrer Nachhaltigkeit im besten Fall vergleichbar mit konventionellem Öl (z. B. GTL) - in der Regel sind sie in diesem Aspekt erheblich schlechter. Flüssiggase sind nicht beimischungsfähig, erfordern die größten Umstellungen in den Bereichen Infrastruktur, Triebwerk und Flugzeugzelle und sind daher keine zeitnah praktikable Lösung. Problematisch bleibt bei dieser Zielsetzung, dass regenerative Antriebe, die zwar CO 2 -neutral sind, aber weiterhin auf der Verbrennung von Kraftstoffen in Triebwerken beruhen, das Problem der Nicht-CO 2 - Effekte nicht lösen. Auf diese erheblichen Klimawirkungen z. B. durch Kondensstreifen wies insbesondere Prof. Robert Sausen (DLR) hin. Die NOx-Emissionen des Luftverkehrs führen zu einer zusätzlichen Bildung von Ozon, wobei jedes in der höheren Atmosphäre emittierte NOx-Molekül die Bildung von etwa fünfmal so vielen Ozonmolekülen anregt wie ein NOx-Molekül aus dem Straßenverkehr. Die Ozonmoleküle werden primär im Tropopausenbereich gebildet, wo sie besonders klimawirksam sind und länger leben als am Erdboden. Das durch den Luftverkehr zusätzlich gebildete Ozon führt daher zu einer Erwärmung. Gleichzeitig mit der Bildung des Ozons wird bei den dabei ablaufenden chemischen Prozessen auch Methan abgebaut, das wiederum einen kühlenden Effekt hat. In der Summe führen die NOx-Effekte des Luftverkehrs jedoch zu einer Klimaerwärmung. Kondensstreifen entstehen meistens aus den Wasserdampfemissionen des Luftverkehrs. Bei hinreichend kalter und feuchter Atmosphäre können die Kondensstreifen länger leben und sich sogar zu Kondensstreifen-Zirren entwickeln. Die Partikelemissionen des Luftverkehrs verändern die mikrophysikalischen und optischen Eigenschaften von natürlichen Wolken. Insgesamt wirken die luftverkehrsinduzierten Wolken erwärmend. In seinen Ausführungen zu einem intermodalen Nachhaltigkeitsvergleich gegenüber dem System Bahn, hob Prof. Frank Fichert (FH Worms) die aus volkswirtschaftlicher Perspektive notwendigen diskriminierungsfreien Rahmenbedingungen für den intermodalen Wettbewerb der Verkehrsträger als Voraussetzung für einen nachhaltigen Verkehrsmarkt hervor. Dabei geht es insbesondere um die allgemeinen steuerlichen Regelungen sowie die vollständige Deckung der Kosten für die Produktionsfaktoren, die Infrastruktur und die externen Umwelteffekte. Die politischen Ansätze für eine „Ticket Tax“ zur Kompensation der Umsatzsteuerbefreiung des Luftverkehrs wurden auf dem Forum kontrovers diskutiert, denn das niederländische Beispiel zeigt die Gefahr von unerwünschten Ausweichreaktionen bei nationalen Alleingängen. Eine realistische Einschätzung der zukünftigen Klimarelevanz des Luftverkehrs erscheint aufgrund der dargestellten Sachverhalte als komplexes dynamisches Problem, für das es keine einfachen Lösungen gibt. Die Airlines - aufgrund ihrer Nähe zum Endverbraucher - müssen im Besonderen und die Luftverkehrsbranche im Allgemeinen um gemeinsame globale Lösungen kämpfen. In seinem Referat zu den Perspektiven des Luftfrachtverkehrs wies Dr. Marco Linz (European Business School) aus, dass die steigende Nachfrage nach Green and Sustainable Air Cargo auch Vorteile in der Kundenbindung bietet. Die Einbeziehung der Luftfahrt in einen weltweiten Emissionshandel sehen die Experten nicht als grundsätzliches Problem an, sofern die weltweit geltenden Regelungen nicht europäische Airlines oder Flughäfen benachteiligen. Lösungen und Stellschrauben finden sich in den kleinsten Details, wie z. B. der Gewichtsreduzierung, die in ihren multiplikatorischen Effekten deutliche ökologische Wirkungen auslösen. Die Diskussion auf dem Forum hat gezeigt, dass die Vision eines klimaneutralen Luftverkehrs keine Vision bleiben muss, wenn es der gesamten Luftverkehrsbranche gelingt, weltweit nachhaltig daran zu arbeiten. Um dieser Vision gerecht zu werden, ist es jedoch notwendig, den eingeschlagenen Weg mit mehr Tempo zu beschreiten. Die Vorträge des 17. DVWG Luftverkehrsforums sind im Online-Shop der DVWG unter www.dvwg.de bestellbar. „Der Single European Sky hat das Potenzial für Emissionsminderungen von 10 %, das zudem - verglichen mit anderen Maßnahmen in dieser Größenordnung wie Flottenerneuerung - auch noch schnell umgesetzt werden könnte. Leider hat der SES auf den politischen Agenden eine viel zu geringe Bedeutung.“ Christoph Füllemann, Environmental Delegate, Swiss International Airlines