Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0148
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Vom Tabu zur Entscheidung
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2010
Hendrik Ammoser
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Maut und Nutzerfinanzierung ist mit einigen politischen Risiken verbunden. Entscheider auf politischer Ebene sind häufig nicht einmal in der Lage, das Potenzial dieses Instruments eingehend zu untersuchen und seine Chancen und Risiken ausgewogen zu bewerten, ohne dass solche Aktivitäten missgedeutet werden könnten. Die nähere Betrachtung der Maut in einem kommunalpolitischen Kontext soll helfen, den Wert und Nutzen zu verdeutlichen und ein neues Verständnis für die Nutzerfinanzierung zu schaffen.
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Infrastruktur + Verkehrspolitik 23 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 11/ 2010 Hendrik Ammoser Vom Tabu zur Entscheidung Perspektiven der Mauterhebung in Deutschlands Metropolen und Ballungsräumen Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Maut und Nutzerfinanzierung ist mit einigen politischen Risiken verbunden. Entscheider auf politischer Ebene sind häufig nicht einmal in der Lage, das Potenzial dieses Instruments eingehend zu untersuchen und seine Chancen und Risiken ausgewogen zu bewerten, ohne dass solche Aktivitäten missgedeutet werden könnten. Die nähere Betrachtung der Maut in einem kommunalpolitischen Kontext soll helfen, den Wert und Nutzen zu verdeutlichen und ein neues Verständnis für die Nutzerfinanzierung zu schaffen. Der Autor Dipl.-Ing. Hendrik Ammoser, Verkehrsingenieur, Sachverständiger und Berater für Verkehrstelematik und Intelligente Mobilität bei der TÜV Rheinland in Köln; hendrik.ammoser@de.tuv.com Zwischen Investitionsbedarf und Mittelknappheit Hinsichtlich der Erhaltung und Erweiterung von Infrastrukturen ist die Lage in vielen Metropolen und Ballungsräumen ähnlich: Der verfügbare Raum ist beschränkt und das bisher Mögliche im finanziellen Rahmen wurde bereits getan. Wenn eine Metropole ihre Attraktivität steigern will, muss sehr viel an den bestehenden Infrastrukturen gearbeitet werden - und zwar sowohl hinsichtlich deren Erhaltung als auch in Bezug auf den möglicherweise notwendigen Aus- und Neubau von Verkehrsinfrastruktur. Eine solche Verbesserung ist mit massiven Investitionen in die Infrastruktur verbunden, wenngleich dafür die erforderlichen öffentlichen Mittel zumindest in absehbarer Zeit fehlen. Diese Ausgaben sind jedoch gleichzeitig erforderliche Investitionen in die Zukunft. Demgegenüber verschärft sich die Finanzsituation aller Kommunen: Steigende Verantwortung, steigende Ausgaben und sinkende Einnahmen und Budgets - hier insbesondere im Verkehrsbereich - sind die widersprüchlichen Rahmenbedingungen, in denen Entscheider der Kommunalpolitik agieren müssen. Alternative Wege müssen gefunden werden, um diese Investitionen zu finanzieren. Neben der klassischen öffentlichen Haushaltsfinanzierung gibt es weitere Möglichkeiten, wie z. B. öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) oder die Nutzerfinanzierung. Welches dieser Instrumente in einer bestimmten Situation zweckmäßig ist, hängt insbesondere von der politischen Gesamtstrategie ab. Mauterhebung ist immer eine Option, aber nie allein auf der Agenda In der öffentlichen Debatte und auch in Fachdiskussionen wird das Thema Mauterhebung schnell in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt. Diese Sichtweise reduziert den Sachverhalt jedoch in unzulässiger Weise: Ein Mautsystem ist lediglich eines von vielen Instrumenten in einem umfassenden Maßnahmenpaket. Welchen Zwecken ein Mautsystem innerhalb eines solchen Maßnahmenpaketes dienen soll, insbesondere wofür die erhobene Maut eingesetzt werden soll, ist Gegenstand von übergeordneten politischen Entscheidungen. Urbane Mautsysteme sollten immer als Bestandteil einer umfassenden Gesamtstrategie und des damit verbundenen Finanzierungs- und Investitionsprogramms verstanden werden. Mautfinanzierte urbane Verkehrssysteme dienen der Erreichung definierter finanz-, umwelt-, verkehrs- und strukturpolitischer Ziele und kommen auch nur dann zum Zuge, wenn die Zielerreichung bei Einsatz des Instruments „urbane Maut“ mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Gleichzeitig muss ein mautfinanziertes Verkehrssystem politisch kommunizierbar sein und nachweislich positive Wirkungen auf den urbanen Lebens- und Geschäftsraum haben. Konkret heißt dies, dass die Maut gemeinsam mit weiteren Maßnahmen möglichst sichtbare und spürbare positive Effekte für Wohnen und Leben, Handel, Gewerbe und Umwelt sowie für Verkehrsqualität und Verkehrseffizienz (Reisezeit, Straßenzustand, Verkehrssicherheit) zu leisten hat. Das umfasst die Verbesserung öffentlicher Verkehrssysteme, die Erhaltung und Erweiterung der städtischen Straßennetze oder die Steuerung des Verkehrs mittels Parkraummanagement, Verkehrsleitsystem und urbanem Mobilitätsmanagement. Möglicherweise schafft man es, die gewünschten Ziele mit den oben aufgelisteten Instrumenten zu verwirklichen, aber ohne das Instrument „Maut“. Die Finanzierung kann wie bisher indirekt durch Abgaben aus dem öffentlichen Haushalt stammen. Bei der ergebnisoffenen Ermittlung einer optimalen Strategie sollte dies nicht ausgeschlossen sein. Aber dies bedeutet eben auch, dass das Instruments der Mauterhebung bei jeder globalen Planung und Strategiefindung öffentlich wahrnehmbar erwogen werden sollte, ohne den Einsatz dieses Instruments zu erzwingen. Diesen unverkrampften Umgang mit dem bisherigen Tabu scheinen Öffentlichkeit und kommunale Entscheidungsträger noch lernen zu müssen, um Lösungsvorschläge sachlich zu beurteilen und akzeptable Entscheidungen zu treffen. Akzeptanz schaffen, Durchsetzbarkeit beachten, politische Risiken minimieren Bei der Gestaltung von urbanen Mautsystemen als Bestandteil eines umfassenden Mobilitätsprogramms sollten Instrumente der demokratischen Mitbestimmung frühzeitig berücksichtigt werden. Wie das Beispiel der Stadt Stockholm zeigt, kann ein Entscheid über die dauerhafte Einführung eines Mautsystems die endgültige Legitimation der Maßnahme bewirken, gleichwohl man sich der Risiken dieses Weges bewusst sein sollte. An diesen politischen Anforderungen muss jede Maßnahme im Paket gemessen werden - auch das zugehörige Mautsystem. Um im Bild zu bleiben: Dann ist das Eisen zwar immer noch heiß, aber der Umgang damit wird berechenbarer. Entsprechend muss auch das Mautsystem konzipiert werden: Es muss einfach handhabbar, bürgernah und akzeptabel sein (auch wenn man es nicht allen recht machen kann) - also mehrheitsfähig. Gerade weil hier die größten Auseinandersetzungen zu erwarten sind, muss diesbezüglich besonderes Augenmaß gewahrt werden. Erfahrungen aus anderen Ländern mit Straßenbenutzungssystemen zeigen zudem, dass es ratsam ist, eine Abstimmung erst dann durchzuführen, wenn das Mautsystem im Rahmen eines Pilotversuchs getestet und dieses Vorhaben abgeschlossen und ausgewertet wurde. Doch unabhängig von der Entscheidung für oder gegen eine Abstimmung: Ein Pilotbetrieb sollte aus praktischen Gründen eingeplant werden, um das Mautsystem ohne Imageschaden testen und kalibrieren zu können, Vorurteile bei den Mautpflichtigen abzubauen und den bis dahin zweifellos entstehenden politischen Druck zu kanalisieren oder abzubauen. Das Pilotprojekt muss nach streng wissenschaftlichen Prinzipien transparent, neutral, objektiv und ergebnisoffen durchgeführt werden. So kann Vertrauen unter allen Beteiligten geschaffen werden. Insbesondere kann es akzeptanz- und vertrauensfördernd sein, wenn die Einwände und Bedenken der Gegner und Geschädigten im Rahmen der Versuche objektiv Infrastruktur + Verkehrspolitik 24 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 11/ 2010 untersucht werden. Übertreibungen und Vorurteile können an Fakten gemessen werden und sind somit nicht mehr politisch instrumentalisierbar. Vergleichsdaten des heutigen Zustandes müssen gesammelt werden, ebenso wie Daten des Pilotbetriebs. Ein solches Vorgehen verhindert unkontrollierte Entwicklungen und minimiert politische Risiken. Kommunen entscheiden als Mauterheber vor Ort Mauterheber sind im Kontext der „großen“ nationalen und internationalen Mautsysteme diejenigen Akteure, die das Recht haben, für die Benutzung eines Objekts (Straße, Brücke, Tunnel, Fähre) eine Maut zu erheben. Mauterheber sind im Regelfall die Eigentümer dieser Infrastrukturen oder haben sie (vor-)finanziert. Ihnen obliegt eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn einerseits besteht das selbstbezogene Interesse, den Aufwand für das Objekt zu reduzieren und die Einnahmen zu maximieren. Andererseits wirkt die Maut über das eigene System hinaus. Schließlich sollte sich der Mauterheber darüber im Klaren sein, welche Ziele mit der Erhebung der Maut verfolgt werden sollen - und ob die Maut dafür wirklich das geeignete Instrument wäre. Bezogen auf die Kommunalpolitik in Deutschland bedeutet dies, dass die kommunalen Gebietskörperschaften ein neues Selbstverständnis als Mauterheber entwickeln und öffentlich sichtbar machen sollten. Sie haben das Recht, struktur-, verkehrs-, finanz- und umweltpolitische Ziele zu definieren und können frühzeitig feststellen, ob die Mautfinanzierung ein geeignetes Instrument ist, um diese Ziele zu erreichen. Dabei sind in der Vorbereitungsphase verschiedene Aspekte zu beleuchten und mit der politischen Zielstellung abzuwägen, um die Frage zu beantworten, welche alternativen Instrumente für die lokalen Bedürfnisse besonders gut geeignet sind. Dies umfasst im heutigen Entwicklungsstadium u. a. ̇ Anpassung der Beziehungen zwischen Bund, Ländern, Kommunen hinsichtlich Abgabenerhebung und -verteilung sowie Zuordnung der Baulastträgerschaft ̇ Aufgaben und Zweck des Mautsystems innerhalb der Gesamtstrategie sowie innerhalb des Investitionsprogramms ̇ Bilanzierung von Chancen und Risiken sowie Aufwand und Nutzen der Nutzerfinanzierung urbaner Mobilität im konkreten Falle ̇ Kommunikation und Prozesssteuerung („offensiv und transparent“) auf dem Weg zu öffentlicher Akzeptanz und politischer Durchsetzbarkeit der Nutzerfinanzierung ̇ Schaffung/ Anpassung rechtlicher und verwaltungstechnischer Rahmenbedingungen ̇ Definition der eigenen Rolle im Planungs- und Beschaffungsprozess von Systemen der Nutzerfinanzierung ̇ Vorgehensweisen sowie organisatorische und technische Voraussetzungen für die Einführung von kommunalen Systemen der Nutzerfinanzierung (Projektentwicklung) ̇ Berücksichtigung von Harmonisierung und Standardisierung in Europa. Kommunen können mit dem Selbstverständnis eines Mauterhebers offensiv dem Thema Nutzerfinanzierung entgegentreten. Verschiedene Varianten einer Mobilitätsstrategie können entwickelt, alle Optionen berücksichtigt und die im jeweiligen Falle optimale Lösung gemeinsam mit der Öffentlichkeit gefunden werden - ob mautfinanziert oder steuerfinanziert. Konzepte der Nutzerfinanzierung werden dann nicht prinzipiell ausgeschlossen, weil man sie nicht kennt oder weil man nicht mutig genug ist, das Instrument öffentlich sichtbar zu untersuchen und einem politischen Entscheidungsprozess zuzuführen. Kommunen nutzen die Vorteile des gemeinsamen Vorgehens Die räumliche Ausdehnung und Interaktion der Verkehrssysteme in Deutschlands Metropolen und Ballungsräumen lassen ein gemeinsames Vorgehen in Bezug auf die Verkehrsfinanzierung ratsam erscheinen. Somit kann ein einheitliches Mautgebiet auf Basis gemeinsamer Standards und Schnittstellen geschaffen werden. Berücksichtigt man zudem, dass die Mauterhebung insbesondere in Verkehrsnetzen mit hohem Verkehrsaufkommen zweckmäßig ist, kann die Betrachtung der Metropolen und Ballungsräume in Deutschland (siehe Abbildung ) auch ein Lösungsansatz für eine allgemeine Kfz-Maut in Deutschland sein [2]. Es ist daher naheliegend, dass die Metropolen und Ballungsräume in Deutschland das Thema Mauterhebung nicht isoliert betrachten, sondern in ihrem neuen Selbstverständnis als Mauterheber bereits frühzeitig in einen Dialog treten, insbesondere bezüglich folgender Themen: ̇ Kommunalstruktur in Deutschland und ihr Einfluss auf eine gemeinsame kommunale Verkehrsfinanzpolitik der Metropolen und ländlichen Räume ̇ Spielräume und Spielregeln: Nutzerfinanzierung im Kontext des kommunalen Wettbewerbs in Deutschland sowie Definition gemeinsamer Standards und Schnittstellen ̇ Gemeinsames Vorgehen - individueller Nutzen und Kostensenkung, insbesondere durch die gemeinsame Erprobung und Beschaffung von Mautsystemen. Wenn diese überregionalen Aspekte bereits frühzeitig berücksichtigt werden, können sich völlig neue Entwicklungsperspektiven ergeben. Insbesondere hinsichtlich Beschaffung und Betrieb von Mautsystemen - und der damit verbundenen Kosten - können Synergieeffekte genutzt werden. Es steckt für die Kommunen großes Potenzial in diesem Thema: Sollten sich alle deutschen Metropolen und Ballungsräume einig sein, kann eine gemeinsam eingeführte urbane Maut gleichbedeutend mit einer allgemeinen Maut in Deutschland sein. Völlig neue Perspektiven in der politischen Auseinandersetzung mit den Ländern und dem Bund in Bezug auf Kompetenz- und Budgetverteilung könnten sich eröffnen. Es zeigt aber auch die große Verantwortung, bei diesem Thema die richtigen Entscheidungen zu treffen. Weiterlesen [1] Ammoser, H.: City-Maut in Deutschland? In: Straßenverkehrstechnik 4/ 2008 [2] Ammoser, H.: Mobilitätsmanagement mittels Regio- Maut. In: Straßenverkehrstechnik 4/ 2010 Metropolen und Ballungsräume in Deutschland sowie ihre Einzugsgebiete
