Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0150
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Schienengüterverkehr in Italien kurz vor dem Kollaps?
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Christian Dahm
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Aus der Europäischen Union 30 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 11/ 2010 In Brüssel sind die großen nationalen Bahngesellschaften bemüht, ja keine Zweifel aufkommen zu lassen, dass sie voll und ganz hinter der Marktöffnung in der EU stehen. Mehr noch: Ehemalige Liberalisierungsbremser wie die französische SNCF wollen die Chancen des Wettbewerbs für sich erkannt haben. Statt nur über Liberalisierung zu reden, entwickeln auf einmal nicht nur die DB, sondern auch andere Nationalbahnen internationale Strategien. Da will offensichtlich auch die italienische Staatsbahn FS nicht zurückstehen. So machen in jüngster Zeit Gerüchte die Runde, dass die Tochtergesellschaft Trenitalia darüber nachdenkt, die vollständige Kontrolle über das Eisenbahnverkehrsunternehmen TX Logistik zu übernehmen. Derzeit hält Trenitalia bereits 51 % der Anteile. Dieser Schritt ist umso bemerkenswerter, da TX trotz der Kapitalmehrheit eines Staatsunternehmens auf dem europäischen Markt wie ein Privatunternehmen auftritt. Ziel und Anspruch ist es, ein europäisches Netz zu entwickeln. Doch während die FS beginnt, über den eigenen Tellerrand zu schauen, geht der Schienengüterverkehr in Italien einer ungewissen Zukunft entgegen. Denn unter privaten Eisenbahn- und Logistikunternehmen steigt der Unmut über immer wieder neue Schikanen der FS, die in Italien offenbar ihr eigenes Süppchen kocht. Aufgrund katastrophaler Zustände haben die drei italienischen Transportverbände Asstra, Assoferr und FerCargo nun die Alarmglocken geläutet. „Die nationale Eisenbahnpolitik wird von der FS bestimmt. Der Transportminister hat keine Ahnung“, lautet das vernichtende Urteil von FerCargo-Präsident Giacomo Di Patrizi. Während in Europa der Schienengüterverkehr wieder anziehe, gehe dieser in Italien unaufhaltsam zurück, stellte Di Patrizi fest. 2009 sei ein Rückgang um 36 % zu verzeichnen gewesen. Für das laufende Jahr würden noch einmal 6 bis 8 % erwartet, so Di Patrizi. „Derzeit gibt es viel zu viele Hindernisse, um in Italien als Eisenbahnoperateur erfolgreich sein zu können“, beklagt Mauro Pessano von Crossrail Italia. So plane die FS ohne vorherige Konsultation massiv Terminals zu schließen: Von über 400 sollen ganze 71 in Betrieb bleiben. Zudem werde der Einzelwagenverkehr immer weiter eingestellt. Die Suppe versalzen könnte der FS jedoch die European Rail Freight Association Erfa, die an die EU-Kommission bereits mehrere Beschwerden gerichtet hat. „Weitere Beschwerden werden folgen“, kündigte Erfa-Generalsekretärin Monika Heiming an. Denn angesichts der desaströsen Bahnpolitik in Italien häufen sich bei der Erfa die Beschwerden der FS-Wettbewerber. Bei der Kommission hat sich der Verband der Privatbahnen daher bereits dafür eingesetzt, dass der Einzelwagenverkehr für alle Wettbewerber geöffnet wird. Die Kommission kann der FS natürlich nicht ihre bahnpolitischen Entscheidungen vorschreiben. Doch zieht sich ein Bahnunternehmen aus einem Segment zurück, wo es de facto über ein Monopol verfügt, muss es den Schienengüterverkehr in Italien kurz vor dem Kollaps? Italienische Staatsbahn Ferrovie dello Stato kocht zum Unmut privater Bahn- und Logistikunternehmen ihr eigenes Süppchen Platz für Wettbewerber frei machen, betont Monika Heiming. In jedem Fall dürfe in diesem Marktsegment keine verbrannte Erde zurückgelassen werden. Deshalb soll die Kommission sicherstellen, dass insbesondere alle FS-Terminals für die Nutzung durch Dritte komplett und diskriminierungsfrei zugänglich gemacht werden. Auch gegen die massive Schließung der Terminals sollen die EU-Wettbewerbshüter vorgehen. In der Kritik steht ebenfalls die geplante Verpflichtung für private Eisenbahnunternehmen, für den Fall einer technischen Zugpanne mindestens über eine Reservelok zu verfügen. Die Verbände sind sich einig, dass der italienische Markt dringend grundlegend liberalisiert werden muss, um einen Kollaps in Italien mangels Alternativen zum staatlichen Monopolisten FS zu verhindern. Ganz oben auf der Liste der Maßnahmen stehen der freie Zugang zur Infrastruktur und zu Gleisanschlüssen sowie die Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers RFI. Zudem sollen die garantierten Serviceleistungen von RFI für Bahnunternehmen neu definiert werden. Des Weiteren wird eine Neudefinition des Dienstleistungsvertrags zwischen dem italienischen Verkehrsministerium und Trenitalia zur Durchführung des Einzelwagenverkehrs gefordert. Für Maria Francesca Ricchiuto, verantwortlich für den Schienenverkehr bei der Asstra, „ist es höchste Zeit, dass die Regierung mit den Wettbewerbern der Trenitalia einen Dialog aufnimmt“. Zugleich setzt Ricchiuto große Hoffnungen in die Zusammenarbeit mit der Erfa, um sich notfalls über Brüssel in Italien Gehör zu verschaffen. Christian Dahm, EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Logistik- Zeitung in Brüssel Die italienische Staatsbahn Ferrovie dello Stato macht ihren Wettbewerbern das Leben schwer. Foto: Trenitalia
