Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0152
111
2010
6211
Mit Vollgas in Richtung Kunde
111
2010
Romed Kelp
Sven Wandres
Nach dramatischen Einbrüchen bei Absatz und Auftragseingang im Zusammenhang mit dem Konjunkturloch zeigen sich nun Anzeichen der Erholung in der Nutzfahrzeugindustrie. Wollen die Hersteller aber vom bevorstehenden Aufschwung nachhaltig profitieren, müssen sie individuelle Lösungen anbieten, die auf die Bedürfnisse der einzelnen Kundengruppen zugeschnitten sind und regionale Anforderungen berücksichtigen.
iv62110033
Technologien + Informationssysteme 33 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 11/ 2010 Romed Kelp / Sven Wandres Mit Vollgas in Richtung Kunde Nach dramatischen Einbrüchen bei Absatz und Auftragseingang im Zusammenhang mit dem Konjunkturloch zeigen sich nun Anzeichen der Erholung in der Nutzfahrzeugindustrie. Wollen die Hersteller aber vom bevorstehenden Aufschwung nachhaltig profitieren, müssen sie individuelle Lösungen anbieten, die auf die Bedürfnisse der einzelnen Kundengruppen zugeschnitten sind und regionale Anforderungen berücksichtigen. Die Autoren Romed Kelp, Nutzfahrzeugexperte und Partner, Sven Wandres, Automobilexperte und Partner, Oliver Wyman, München; romed.kelp@oliverwyman.com, sven.wandres@oliverwyman.com E ines scheint klar: Insgesamt müssen die OEMs (Original Equipment Manufacturer) der Nutzfahrzeugindustrie in puncto Lösungsangebote deutlich besser werden. Nur so können sie sich differenzieren und ihren jeweiligen Kunden langfristig an sich binden. Dies ergibt die Studie „European Truck Customer 2010“ der Managementberatung Oliver Wyman, des Servicedienstleisters Europe Net und des Kommunikationsspezialisten Ketchum Pleon, die die Kundenbedürfnisse und -zufriedenheit in Gesamteuropa untersucht hat. Mehr als 2300 Kunden in 15 Ländern wurden zwischen Februar und Mai 2010 befragt. Die Ergebnisse präsentierten die drei Unternehmen auf der IAA Nutzfahrzeuge 2010 im September in Hannover. Deutschland Service bieten Bei deutschen Kunden stehen servicerelevante Themen deutlich höher im Kurs als bei allen anderen Kunden in West- und Osteuropa, geht aus der Untersuchung hervor. Hier sind etwa die Werkstattangebote der Hersteller heute von noch größerer Bedeutung als im Jahr 2008. Vor zwei Jahren führte der Kraftstoffverbrauch die Top Ten der wichtigsten Kriterien für die Kaufentscheidung an. Heute rangiert in Deutschland das Thema Fahrzeugzuverlässigkeit auf Platz eins, gefolgt von Garantieleistung/ Kulanz und Servicequalität, die 2008 beide nicht unter den fünf wichtigsten Kundenanforderungen waren. Platz vier nimmt die Verfügbarkeit von Ersatzteilen ein (2008: Rang 5). Dahinter erst folgt aufgrund der gesunkenen Ölpreise der Kraftstoffverbrauch. Verändert hat sich auch der Stellenwert von Kostenaspekten. Vermehrt legen Kunden ihr Augenmerk auf die „total cost of ownership“ (TCO), die sich aus Anschaffungspreis, Restwert und laufenden Kosten zusammensetzen. Der Kunde wünscht demnach ein jederzeit einsatzbereites Fahrzeug zu klar kalkulierbaren Kosten. Bei allen Kriterien aber erfüllen die Hersteller nicht die Erwartungen der Kunden, bringt die Befragung zutage. Eine der größten Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft insbesondere in Deutschland beim Thema Garantieleistung/ Kulanz. Hier haben die Kunden eine hohe Erwartungshaltung, die jedoch aus ihrer Sicht nicht befriedigt wird. Deutliche Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der TCO. Dagegen schneiden die für die Kunden wichtigen Werkstattangebote vergleichsweise gut ab. Tatsächlich hat sich die Zufriedenheit der Kunden mit den OEMs (Original Equipment Manufacturer) in einzelnen Aspekten in den vergangenen Jahren verbessert. Deutlich zeigt sich das beim Servicenetz und bei der Qualität der Servicestandorte. Die Mahnungen der Kunden sind hier erhört worden. In Lösungen denken Produktbezogene Themen erfüllen die Hersteller gut, ob Kabinenkomfort oder Motoren. Allerdings rücken zunehmend andere Kriterien in den Vordergrund, die eine Kaufentscheidung beeinflussen. Für die OEMs stellt sich damit die Herausforderung, sich über individuelle Lösungsangebote zu differenzieren und so den Kunden langfristig an sich zu binden. Ein Beispiel für ein Lösungsangebot zur Erhöhung der Verfügbarkeit sind Mobilitätsdienstleistungspakete. Die Verfügbarkeit der Fahrzeuge wird zunehmend wichtiger, Störungen im Fahrbetrieb sind kostspielig. Um die Zufriedenheit ihrer Kunden zu verbessern, haben die Hersteller nicht nur die Zuverlässigkeit ihrer Fahrzeuge zu erhöhen, In der Bedeutung der Einzelkriterien sind regionale Unterschiede klar zu erkennen. Technologien + Informationssysteme 34 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 11/ 2010 sondern zugleich dafür zu sorgen, dass im Fall einer Panne die Reparatur schnell und gut erfolgt, damit die Ausfallzeit gering bleibt. Dazu gilt es, ein dichtes Servicenetz zu knüpfen - gegebenenfalls via Kooperationen mit anderen Herstellern oder unabhängigen Spezialisten, um kurze Standzeiten und somit eine optimale Fahrzeugverfügbarkeit zu gewährleisten. Auf diese Weise könnten sich die Hersteller auch im Wettbewerb mit freien Anbietern behaupten, der an Intensität jüngst deutlich zugenommen hat. Nach Kundenangaben werden derzeit immerhin rund 40% aller Mobilitätsdienstleistungen von unabhängigen Anbietern bezogen. Ins Bewusstsein vorrücken Bislang aber können die Hersteller mit hochwertigen Zusatzdienstleistungen weder in Deutschland noch in West- oder Osteuropa punkten. Dazu zählen sowohl Mobilitätsgarantien, die den Geschäftsbetrieb der Kunden absichern könnten, als auch Ersatzfahrer, Kurzzeitvermietung, Flottenmanagement oder Versicherungen. Diese Angebote der OEMs werden von den Kunden als Mehrwert bisher nicht ausreichend wahrgenommen. Hier müssen die Hersteller ebenso deutlich an ihrer Kommunikation arbeiten wie bei der übersichtlichen Gestaltung ihrer Preisstrukturen und deren Anpassung an unterschiedliche Kundensegmente. Ein Denken in Lösungen wäre notwendig. Nur wenn alle Einzelbereiche vom Fahrzeugverkauf über Werkstattangebote bis hin zu Zusatzdienstleistungen intelligent und kundenorientiert zusammenspielen, lässt sich der Kundenwert optimieren. Regionale Bedürfnisse berücksichtigen Bei der Ausrichtung des Angebots auf die unterschiedlichen Kundensegmente dürfen die regionalen Besonderheiten in Europa nicht unbeachtet bleiben. Zwar ähneln die für die Kaufentscheidung wichtigsten Kriterien in Deutschland jenen in West- und Osteuropa. In beiden Regionen aber sind auf den vorderen Plätzen der Top Ten mehr fahrzeugrelevante als werkstattbezogene Themen zu finden. In Osteuropa hat vor allem der Kaufpreis mit Platz drei einen hohen Stellenwert, in Deutschland dagegen rangiert er als Einzelkriterium nicht mehr unter den Top Ten. Gerade die osteuropäischen Kundenbedürfnisse besser zu bedienen, wird für die westeuropäischen OEMs zu einem wesentlichen Erfolgsfaktor. Denn während sie sich in einem strukturell mittlerweile weitgehend gesättigten westeuropäischen Markt über die Jahre ihre Positionen gesichert haben, bietet der stark wachsende Markt in Osteuropa Raum zur Expansion. Die Anteile sind noch nicht so fest verteilt wie in Westeuropa, keiner der westeuropäischen Player dominiert bislang den Markt, der Wettbewerb untereinander sowie mit osteuropäischen und asiatischen Herstellern ist in vollem Gang. Und hier können ausgereifte Servicelösungen Vorteile bringen, besonders aber ein tiefes Verständnis der jeweiligen Kundenbedürfnisse helfen, maßgeschneiderte Lösungspakete zu schnüren. Daten zur Studie Die Befragung der Lkw-Käufer fand zu den Themen Image und Markenerfahrung statt. Sie liefert ein umfassendes Bild der Bedürfnisse und Zufriedenheit von Nutzfahrzeugkunden in den Bereichen Produkt, Preis und Kosten, Verkaufsprozess, Werkstattservice sowie Zusatzdienstleistungen. Oliver Wyman führte im Jahr 2006 in Deutschland erstmals die Befragung „Truck Customer“ durch, um die Bedürfnisse von Lkw-Kunden systematisch zu erheben, dann wieder 2008 und nun 2010. In diesem Jahr wird erstmalig ein gesamteuropäisches Meinungsspektrum abgebildet, aus dem sich fünf übergreifende sowie herstellerspezifische Handlungsfelder für europäische Nutzfahrzeughersteller ergeben: 1. überlegenes Kundenverständnis schaffen durch zielgruppenspezifische Erfassung nach Region und Abnehmerbranche 2. wertschöpfungskettenübergreifende und leicht verständliche sowie zielgruppenspezifische Leistungsangebote entwickeln aus Bausteinen der Bereiche Fahrzeug, Service, Dienstleistungen oder Mobilität 3. Preise attraktiv gestalten 4. Kommunikation optimieren 5. Kundenorientierung organisatorisch abbilden. In der Kooperation ist Oliver Wyman für die Studieninhalte und Methodik verantwortlich, Europe Net brachte seinen Kundenzugang ein und Pleon unterstützte die Kommunikation. Erstmals gesamteuropäisches Bild Branchenzahlen 2009 Im Jahr 2009 hat die Nutzfahrzeugbranche ihre bislang schwerste Krise erlebt. Nach zuvor jahrelang boomenden Märkten in West- und Osteuropa sowie in Asien setzte im Herbst 2008 im Lkw-Segment ein in Schnelligkeit und Ausmaß noch nie da gewesener Abschwung ein. In der Folge gingen im vergangenen Jahr die Absatzzahlen in Nordamerika um 36 % und in Südamerika um 16 % zurück. Nur in Asien konnte ein leichtes Wachstum von 6 % erreicht werden. Am dramatischsten stellte sich die Situation in Osteuropa mit einem Rückgang um 65 % dar. Kaum besser erging es Westeuropa mit einem Minus von 43 %. Insgesamt führte dies zu einem weltweiten Absatzrückgang um 18 %. Waren 2008 noch 2,2 Mio. Lkw rund um den Globus verkauft worden, fanden 2009 nur etwa 1,8 Mio. Nutzfahrzeuge einen Käufer. In vielen Fällen wurden lediglich die Auftragsbestände abgearbeitet, jedoch kaum nennenswerte Auftragseingänge verbucht. Ausgehend von diesem sehr niedrigen Niveau verzeichnete die Nutzfahrzeugindustrie im ersten Halbjahr 2010 in Deutschland nach Angaben des Verbands der Automobilindustrie (VDA) gegenüber dem schwachen ersten Halbjahr 2009 zweistellige Steigerungen bei Auftragseingängen, Produktion, Absatz und Export. Doch nach Meinung von Branchenexperten wird es noch einige Zeit dauern, bis das Vorkrisenniveau wieder erreicht wird. Kräftig abgerutscht Gerade haben die Verteilerfahrzeuge Mercedes-Benz Atego und der in Serie gegangene Atego BlueTec Hybrid die Auszeichnung „Truck of the Year 2011“ auf der IAA in Hannover erhalten. Sie zeichnen sich durch Variantenreichtum und hochwertige Ausstattung einerseits und als Wegbereiter für alternative Antriebe andererseits aus. Doch das allein reicht nicht, um Kunden zum Kauf zu bewegen. Gleichzeitig müssen die Serviceleistungen stimmen. Im vergangenen Jahr hat der chinesische Lkw-Hersteller Beiqi Foton mehr Lkw, Transporter und Busse verkauft als die Daimler AG und damit die Stuttgarter von der Weltspitze verdrängt. Vier der fünf größten Hersteller kommen aus Asien. Und in den großen Schwellenländern der Welt steckt mittlerweile auch das größte Absatzpotenzial. Foto: Daimler AG
