Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0163
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2010
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Eurovignetten-Richtlinie: Langwierige Geburt
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Gerd Aberle
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Kurz + Kritisch 6 Kurz + Kritisch: Prof. Gerd Aberle zu Themen der Verkehrsbranche Kaum zu glauben… I n der mittlerweile unsäglichen Veranstaltung Stuttgart 21 tritt der sogenannte Schlichter Geißler am Tag nach seiner Arbeitsaufnahme vor die versammelten Medien und spricht vom notwendigen Ende der „Basta-Politik“ bei diesem Projekt. Und dies nach über 15jähriger Diskussions- und Planungszeit, nach Prüfung von 11 500 Einwendungen, nach einer Vielzahl von Anhörungen, zustimmenden Parlamentsbeschlüssen vom Gemeinderat Stuttgart, vom Landtag Baden-Württemberg und vom Deutschen Bundestag sowie Entscheidungen vom Verwaltungsgericht Stuttgart bis hin zum Verwaltungsgerichtshof Mannheim! Stuttgart 21 als „Basta-Entscheidung“? Hier ist offene Parteinahme des sogenannten Schlichters, der bekennendes Mitglied der aggressiv auftretenden Attac- Bewegung ist, nicht übersehbar. Und dass der Ministerpräsident von Baden-Württemberg unmittelbar nach dieser Wortwahl des Schlichters ebenfalls von einer Abkehr von der Basta-Politik sprach, ist in dieser aufgeheizten Atmosphäre nicht nachvollziehbar und als politischer Beschwichtigungsversuch völlig kontraproduktiv. Man kann Vieles am Projekt S 21 kritisch sehen: die Kommunikationsdefizite der vergangenen Jahre, die Kostenrisiken, die städtebaulichen Negativwirkungen einer bis zu 15 Jahre andauernden Bauzeit und manches mehr. Aber eines war Stuttgart 21 nicht: eine „Basta-Entscheidung“. Einen „Schlichter“ gibt es in diesem Konflikt nicht. Es handelt sich um einen Mediationsprozess, der aber aufgrund der Vorgeschichte nur ohne Problemlösung ausgehen kann. Und dass der Mediator Geißler am Tag nach seiner Ernennung bereits in einer ZDF-Talkshow seine Basta-Position erneut zum Besten gab, ist nicht nur ungewöhnlich bei einem sensiblen Mediationsverfahren, sondern hat auch seiner Glaubwürdigkeit und dem unbedingten Neutralitätserfordernis erheblich geschadet. Eurovignetten-Richtlinie: Langwierige Geburt N ach mehrjähriger kritischer Diskussion hat der EU-Ministerrat die Novellierung der Richtlinie am 16. Oktober 2010 gebilligt. Die Verständigung mit dem EU-Parlament steht noch aus. Bei der Novellierung geht es insbesondere um die ergänzende Einbeziehung externer Kosten für die Bemessung der Lkw-Maut, um ihre tageszeitlichen Spreizungsmöglichkeiten und um die Zweckbindung der Mauteinnahmen. Als externe Kosten sollen nunmehr Umwelt- und Lärmkosten neben den Infrastrukturkosten verrechnet werden. Die kritisch diskutierten Staukosten werden nicht direkt einbezogen, sondern sollen über die Spreizung berücksichtigt werden können. Wie strittig bei den Staukosten auch die wissenschaftliche Diskussion verläuft, zeigen die zahlreichen Pro- und Contra-Beiträge in dieser Zeitschrift im Jahre 2009. Bis 2013 bzw. 2017 sind für Lkw der Euroklassen V und VI (letztere übrigens am Markt noch nicht verfügbar und verbrauchs- und CO 2 -problematisch) befristete Ausnahmen vorgesehen. Die Spreizungsmöglichkeit der tageszeitlichen Maut soll 175 % betragen (derzeit 50 %); die belgische Präsidentschaft hatte 500 % vorgeschlagen. Die Möglichkeit der Einbeziehung aller Lkw ab 3,5 t Gesamtgewicht in die Bemautung wird in Deutschland nach Mitteilung des Bundesverkehrsministeriums (vorläufig? ) nicht genutzt werden. Auch an eine tageszeitliche Spreizung der Mautsätze ist vorerst nicht gedacht; Ähnliches gilt für die Einbeziehung der externen Kosten. Interessant und kritisch hinterfragbar ist, dass es keine Pflicht zur Einführung einer nutzungsabhängigen Lkw-Maut in den EU-Staaten und damit zur Umsetzung der Vignetten- Richtlinie gibt. Dass die konkrete Verrechnung der externen Umwelteffekte und Lärmkosten noch beträchtliche Erfassungs- und Bewertungsdiskussionen auslösen wird, ist zu erwarten. Denn hier geht es um fühlbare Mautsteigerungen, die das betroffene Gewerbe kaum voll an die Verlader weiterreichen können wird. Aktuell ist dann auch die externe Kostenverrechnung im Eisenbahnverkehr, wo vor allem die Lärmeffekte hohe Bedeutung besitzen. Auch wenn kurz- und mittelfristig Deutschland die Maut nicht anheben wird, bleibt die verkehrspolitische Aktualität der novellierten Vignetten-Richtlinie. Die Mauteinnahmen sollen auch künftig nicht zweckgebunden für den Verkehrssektor werden. Viele Staaten waren mit guten Gründen dafür, andere, so auch Deutschland, dagegen, um mit den Einnahmen auch andere haushaltspolitische Löcher stopfen zu können. So sind Mauterhöhungen potenziell immer auch eine Haushaltsfinanzierungsquelle. Ob durch tageszeitliche Spreizungen der Mautsätze fühlbar Stauungen reduziert werden können, ist sehr zweifelhaft. Die Wirtschaft verlangt konkrete und prozessablaufbedingte Be- und Entladetermine. Hier wäre eine gespreizte Maut für Pkw wesentlich effektiver. Aber an die Pkw-Maut wagen sich die jeweils regierenden Politiker (noch) nicht heran. Aber auch hier gilt: Kommt Zeit, kommt Maut.
