eJournals Internationales Verkehrswesen 62/12

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0166
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2010
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80 Jahre Motorisierung in Stadt und Land

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2010
Joachim Scheiner
Die historische Entwicklung der Motorisierung ist von Verkehrshistorikern in politischer, sozialer, ökonomischer und technischer Hinsicht intensiv erforscht worden. Dies gilt jedoch nicht für deren räumliche Differenzierung. Heute ist die Motorisierung in Städten bekanntlich deutlich geringer als in suburbanen und ländlichen Räumen. Dies war jedoch nicht immer so. Der Beitrag untersucht die räumliche Struktur der Motorisierung in Nordrhein-Westfalen und seinen Vorgängerregionen seit 1928.
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Mobilität + Personenverkehr 17 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 12/ 2010 Joachim Scheiner 80 Jahre Motorisierung in Stadt und Land Fallstudie Nordrhein-Westfalen Die historische Entwicklung der Motorisierung ist von Verkehrshistorikern in politischer, sozialer, ökonomischer und technischer Hinsicht intensiv erforscht worden. Dies gilt jedoch nicht für deren räumliche Differenzierung. Heute ist die Motorisierung in Städten bekanntlich deutlich geringer als in suburbanen und ländlichen Räumen. Dies war jedoch nicht immer so. Der Beitrag untersucht die räumliche Struktur der Motorisierung in Nordrhein-Westfalen und seinen Vorgängerregionen seit 1928. Der Autor: PD Dr. Joachim Scheiner, Technische Universität Dortmund, Fakultät Raumplanung, Verkehrswesen und Verkehrsplanung, August-Schmidt-Straße 10, 44221 Dortmund; joachim.scheiner@tudortmund.de D ie Geschichte der Motorisierung ist sowohl für Deutschland als auch international vergleichend umfangreich beschrieben worden (Niemann/ Hermann 1995, Schmucki 1995, Merki 2002). Dabei wurden vor allem politische, soziale, ökonomische und technische Entwicklungen in den Mittelpunkt gestellt. Zur räumlichen Differenzierung dieser Geschichte finden sich allerdings jenseits internationaler Vergleiche kaum empirische Belege. Nur vereinzelt wird von Historikern en passant erwähnt, dass die uns heute bekannte hohe Motorisierung im ländlichen Raum keineswegs von Beginn an ausgemachte Sache war, sondern der Siegeszug des Autos vielmehr in den Städten begann (Merki 2002). Diese Befunde lassen allerdings eine Reihe von Fragen offen: Welches Ausmaß hatte der Vorsprung der Städte? Wann drehte sich das Verhältnis zwischen Stadt und Land in der Motorisierung um? Der Beitrag will die vorliegenden eher anekdotischen Befunde durch eine systematische Analyse langfristiger Zeitreihen der Motorisierung prüfen und ergänzen. Er stützt sich auf Daten für Landkreise und kreisfreie Städte in Nordrhein-Westfalen (NRW) seit 1948 und ergänzend seit 1928 für die Vorgängerregionen Rheinprovinz, Westfalen und Lippe. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über den Stand der Forschung. Danach werden die verwendeten Daten vorgestellt. Es folgen die Ergebnisse und ein Ausblick. 1 Entwicklung der räumlichen Struktur der Motorisierung in Deutschland Der Begriff der Motorisierung wird mit Bezug auf die angesprochenen Fahrzeugtypen unterschiedlich definiert (Schmucki 1995). In seinem breitesten Verständnis meint er die generelle Mechanisierung des Verkehrs, im engsten Sinne ist er auf die Ausbreitung des Personenkraftwagens (Pkw) in der Bevölkerung bezogen. Im Allgemeinen sind Kraftfahrzeuge (Kfz) im Straßenverkehr angesprochen, die Autos (Pkw, Kombi), Krafträder, Busse und Lastkraftwagen einschließen. Dabei spielen heute private Pkw mengenmäßig bei weitem die wichtigste Rolle. Gerade bei historischen Betrachtungen ist es jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass auch Firmen- und Geschäftswagen, die Pkw-Flotten öffentlicher Einrichtungen und Taxis zu den Pkw gehören. Erst ab 1960 wurde die Mehrheit der Pkw als private Fahrzeuge zugelassen (Edelmann 1989, S. 227). Bekanntlich liegt die Motorisierung im suburbanen und ländlichen Raum heute deutlich höher als in den größeren Städten (für NRW vgl. MBV 2007, S. 55). In den Innenbezirken der Großstädte liegen die Anteile autoloser Haushalte noch wesentlich höher als auf gesamtstädtischer Ebene (vgl. Jürgens/ Kasper 2005 für Köln). Analysen von Trends der Verkehrsmittelnutzung legen nahe, dass der Abstand in der Motorisierung zwischen Großstädten - insbesondere den zentral gelegenen, hochverdichteten, urbanen Quartieren - und kleineren Gemeinden im Verlauf der letzten Jahrzehnte gewachsen ist (Scheiner 2006). So ist die Motorisierungsrate sowohl in Berlin als auch in Hamburg und Bremen leicht rückläufig. Dagegen nimmt sie in Deutschland insgesamt weiterhin zu (Statistisches Bundesamt 2007). Es scheint sich also eine Motorisierungsschere zwischen Stadt und Land zu öffnen. Die Gründe für die geringere Motorisierung in Städten liegen zum einen in deren Verkehrssystem und räumlicher Struktur (besserer öffentlicher Nahverkehr, Parkraummangel, bessere kleinräumliche Erreichbarkeit von Aktivitätsgelegenheiten), zum anderen in sozialstrukturellen und -kulturellen Unterschieden zwischen Stadt und Land (Konzentration von Armut, jüngeren Menschen und Single-Haushalten in Städten). Das Motorisierungsgefälle zwischen Stadt und Land hat es so jedoch nicht immer gegeben. Vor allem von Verkehrshistorikern ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass der private Pkw seinen Siegeszug in den Städten begonnen hat. Merki (2002, S. 68) vermerkt für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, dass in Berlin oder Hamburg die Pkw-Motorisierungsrate dreimal so hoch war wie etwa im ländlichen Schlesien oder Posen. Edelmann (1989, S. 92) weist für die Zeit um 1928 auf die niedrige Motorisierung in ländlichen Räumen sowie in den Zentren der Schwerindustrie (Ruhrgebiet, Oberschlesien) hin. So verdienstvoll die verkehrshistorischen Studien sind, beruhen sie in der Regel nur begrenzt auf systematischer empirischer Evidenz. So lässt sich nur vermuten, wann sich die genannten räumlichen Unterschiede anglichen und umdrehten. Hartenstein und Liepelt (1961) ermittelten in ihrer wegweisenden verkehrssoziologischen Studie eine nahezu identische private Pkw- Motorisierung für Stadtregionen und ländliche Regionen von 22 % bzw. 24 % aller Haushalte (ebd., S. 67) auf der Basis von Befragungen. Dabei dürfte die Frageformulierung („Gibt es in Ihrer Familie ein Auto? “) zu Unschärfen geführt haben, denn gerade im ländlichen Raum ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass unter der Familie immer der jeweilige Haushalt verstanden wurde. Gleichzeitig waren im ländlichen Raum zu dieser Zeit die kleinräumliche Orientierung sowie die Ausstattung mit preiswerteren Fahrzeugen überdurchschnittlich ausgeprägt. Dies zeigt sich deutlich an den hohen Anteilen von Krafträdern (ländliche Regionen 14 %; Stadtregionen 9 %) und Fahrrädern (20 % vs. 14 %) beim Berufsweg sowie dem hohen Anteil an Erwerbstätigen, bei denen Wohnung und Arbeitsplatz identisch sind (30 % vs. 12 %) (ebd., S. 26 und 34). Diese wenigen empirischen Befunde verdeutlichen, dass die räumliche Struktur der Motorisierung und der Aktionsräume noch mindestens bis in die 1960er Jahre stark von den heutigen Mustern abwich. 2 Datengrundlage und Methodik Die hier vorgenommenen Analysen basieren auf Motorisierungskennziffern für Pkw inkl. Kombi, Krafträder und Kfz insgesamt je 1000 Einwohner (EW). Aus Mobilität + Personenverkehr 18 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 12/ 2010 dem Statistischen Jahrbuch NRW (IT.NRW 2008) liegen flächendeckende Angaben der Motorisierung auf der Ebene von Kreisen und kreisfreien Städten (früher: Stadtkreise) seit 1948 vor. Die aufbereiteten Daten umfassen 10-Jahres-Schritte bis 2008. Darüber hinaus werden Werte für 1928 und 1938 aus dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich (Statistisches Reichsamt 1938) für die Preußischen Provinzen Westfalen und Rheinprovinz sowie den Freistaat Lippe entnommen, die sich zusammengenommen grob mit dem heutigen Land NRW decken. Diese Werte sind nach Regierungsbezirken gegliedert. Ihnen wurden die Werte für kreisfreie Städte aus dem Statistischen Jahrbuch deutscher Gemeinden (Deutscher Städtetag 1938) zugespielt, so dass sich auch für 1928 und 1938 kreisfreie Städte und sonstige Gebiete unterscheiden lassen. In deskriptiven Analysen werden kreisfreie Städte nach Größenklasse unterschieden (< 100 000, 100 000 - 300 000, > 300 000 EW), Landkreise nach Bevölkerungsdichte als einem wesentlichen Indikator des Verstädterungsgrades (< 200, 200 - 400, > 400 EW/ qkm). Die Kennziffern beziehen sich auf das jeweilige Erhebungsjahr, nicht auf die heutige Struktur. Für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg lassen sich nur die Städte entsprechend gliedern (für 1928 nur Städte ab 100 000 EW), der Rest der damaligen Provinzen wird summarisch dargestellt. Seit 1948 werden räumliche Verteilungen auch kartografisch dargestellt. Die Bedeutung des Wohlstandsniveaus legt es nahe, das Ruhrgebiet gesondert zu betrachten, das aufgrund seiner Größe und der massiven Ballung einer ökonomisch schwachen Industriearbeiterschaft eine Sonderrolle unter den Agglomerationsräumen spielt. 3 Motorisierung in Nordrhein-Westfalen 1928 bis 2008 Ein Blick auf den Gesamtverlauf der Motorisierung zeigt neben der bekannten Motorisierungszunahme zunächst zwei Dinge (Tabelle 1) : zum einen den durch den Krieg verursachten Knick, der die Motorisierung 1948 auf den Stand von 1928 zurückkatapultierte, zum anderen das deutlich gebremste Wachstum seit den 1990er Jahren. Im räumlichen Vergleich - zunächst unter Ausklammerung des Ruhrgebiets - zeigt sich eine deutlich höhere Motorisierung der Städte gegenüber den Landkreisen bis Ende der 1960er Jahre. Vor dem Zweiten Weltkrieg lag die Motorisierung in den Städten etwa doppelt so hoch wie in den Landkreisen, danach nahm der Unterschied langsam ab. In den Städten zeigt sich bis einschließlich 1968 eine mit der Stadtgröße deutlich zunehmende Motorisierung. Nur 1948 ist dieses Bild aufgrund kriegsbedingter Einflüsse etwas verwischt. In diesem Jahr ist auch die Motorisierung der Landkreise in dünn besiedelten Regionen etwas höher als in den dichter besiedelten, mehr urbanisierten Kreisen, die stärkere kriegsbedingte Zerstörungen aufweisen. Von diesen Einflüssen abgesehen dreht sich das Gefälle zwischen den Stadtgrößenklassen erst in den 1970er Jahren um. In den Landkreisen ist selbst 1988 die Motorisierung bei höherer Bevölkerungsdichte noch überdurchschnittlich hoch. Dies dürfte in starkem Maße auch Ausdruck der randwandernden Stadtbevölkerung im Zuge der Suburbanisierung sein. Erst im Jahr 1998 hat der ländliche Raum aufgeholt und liegt 2008 in der Motorisierung an der Spitze. Wiederum kommen hier zum einen Bevölkerungswanderungen zum Ausdruck, die in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr nur den suburbanen, sondern mehr und mehr auch den ländlichen Raum erreicht haben (Exurbanisierung). Zum anderen steht dahinter sicherlich auch die nachholende Motorisierung der angestammten ländlichen Bevölkerung. Das Ruhrgebiet stellt in der Motorisierungsentwicklung ohne Frage einen Sonderfall dar. Vergleichbar ist allenfalls das oberschlesische Industriegebiet mit den Städten Hindenburg und Gleiwitz (heute Zabrze und Gliwice), die in den 1920er und 1930er Jahren ebenfalls eine extrem geringe Motorisierung aufwiesen (Edelmann 1989, S. 92). Im Jahr 1928 lag die Pkw-Motorisierung im Ruhrgebiet um den Faktor 2,5 niedriger als in anderen Städten des damaligen Raumes Rheinprovinz, Westfalen und Lippe. Dies gilt ähnlich auch für den Vergleich mit anderen deutschen Städten und etwas weniger ausgeprägt für Krafträder (Tabelle 2) . Im Jahr 1938 hatte das Ruhrgebiet begonnen, leicht aufzuholen. Dies betrifft insbesondere die Ausstattung mit den für Arbeiterhaushalte erschwinglicheren Krafträdern. Die Pkw-Motorisierung lag nun bei etwa der Hälfte des Niveaus anderer Städte, die Kraftrad-Motorisierung bei 85 % des Niveaus anderer Städte. Mit zunehmender genereller Motorisierung seit den 1950er Jahren holte das Ruhrgebiet weiter auf, erreichte aber erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Niveau anderer Städte. Das Aufholen ist teilweise bedingt durch das bemerkenswert gebremste Wachstum der Motorisierung in den Städten außerhalb des Ruhrgebiets seit 1998. Im Ruhrgebiet, aber noch mehr in den Landkreisen, nahm die Motorisierung in den letzten Jahren deutlich schneller zu. Auffallend ist darüber hinaus, dass die räumliche Ungleichheit in früheren Jahrzehnten deutlich stärker ausgeprägt war als heute. Im Jahr 1938 war die Pkw-Motorisierung im Stadttyp mit der höchsten Motorisierung (kreisfreie Städte > 300 000 EW außerhalb des Ruhrgebiets) vierbis fünfmal so hoch wie im Typ mit der geringsten Motorisierung (kreisfreie Städte < 100 000 EW im Ruhrgebiet), im Jahr 1958 immer noch nahezu doppelt so hoch. Im Jahr 2008 dagegen bewegen sich die in der Tabelle auftretenden räumlichen Tab. 1: Pkw-Motorisierung in den Landkreisen und kreisfreien Städten Nordrhein-Westfalens 1928 bis 2008 Pkw (inkl. Kombi) je 1000 EW * Werte für 2008 wurden aus 2007 fortgeschrieben inkl. vorübergehend stillgelegter Fahrzeuge, die seit 2008 in der amtlichen Statistik nicht mehr ausgewiesen werden. ** Bis 1938: Rheinprovinz, Westfalen und Lippe. 1928 1938 1948 1958 1968 1978 1988 1998 2008* Ruhrgebiet kreisfreie Stadt > 300 000 EW 3,4 13,8 3,6 51 165 305 415 455 509 kreisfreie Stadt 100 - 300 000 EW 3,3 12,8 3,2 48 161 311 421 459 516 kreisfreie Stadt < 100 000 EW - 6,1 2,7 44 155 Ruhrgebiet insgesamt 3,4 13,2 3,3 50 163 307 417 456 512 Andere Gebiete kreisfreie Stadt > 300 000 EW 9,1 28,3 5,4 78 199 321 444 476 509 kreisfreie Stadt 100 - 300 000 EW 7,9 25,4 4,9 74 194 326 449 479 516 kreisfreie Stadt < 100 000 EW - 20,4 5,5 62 183 Städte insgesamt 8,8 25,9 5,3 74 195 324 447 477 511 Kreis > 400 EW/ qkm 3,6 55 186 337 482 520 590 Kreis 200 - 400 EW/ qkm 4,2 13,0 3,5 55 182 338 480 522 589 Kreis < 200 EW/ qkm 3,8 48 166 327 467 523 607 Andere Gebiete insgesamt 5,3 18,3 4,1 60 186 332 469 508 568 NRW insgesamt** 4,8 16,3 3,9 57 180 327 459 498 557 Mobilität + Personenverkehr 19 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 12/ 2010 Unterschiede in einer Größenordnung von weniger als 20 %. Krafträder stellten lange Zeit eine Option für die weniger Begüterten dar, konnten aber die Unterschiede in der Pkw- Ausstattung zwischen Ruhrgebiet und anderen Regionen oder zwischen Stadt und Land nur zeitweilig kompensieren. Zwar zeigen die Daten (Tabelle 2) teilweise erhebliche kompensatorische Ansätze. So ist über den gesamten Beobachtungszeitraum eine deutlich höhere Ausstattung mit Krafträdern im ländlichen Raum gegenüber den Städten zu erkennen. Aber nur in den Jahren 1948 und 1958, nach dem Zusammenbruch im Zweiten Weltkrieg sowie zu Beginn der Massenmotorisierung, reichte dies aus, um die Unterschiede der Pkw-Ausstattung zwischen Stadt und Land auszugleichen. Dennoch ist das Kraftrad erkennbar ein Fahrzeug des ländlichen Raums sowie tendenziell - stellt man die dortige Unterausstattung mit Pkw in Rechnung - ein Fahrzeug des Ruhrgebiets. Seit den 1930er Jahren liegt die Kraftrad- Ausstattung im Ruhrgebiet grob auf dem gleichen Niveau wie in anderen Städten, während die Pkw-Ausstattung noch gravierend geringer war. Beispielsweise betrug im Jahr 1938 das Verhältnis von Krafträdern zu Pkw im Ruhrgebiet 11,4 : 13,2 je 1000 EW, in anderen Städten dagegen 13,4 : 25,9. Unter Ausschluss anderer Fahrzeugklassen war also im Ruhrgebiet fast jedes zweite Kfz ein Kraftrad, in anderen Städten gab es dagegen doppelt so viele Pkw wie Krafträder. Zwanzig Jahre später war dies, bei wesentlich höherer Motorisierung, ähnlich: Im Jahr 1958 war im Ruhrgebiet noch jedes dritte Fahrzeug ein Kraftrad (wiederum nur Pkw und Krafträder berücksichtigt), in anderen Städten nur jedes vierte. Das Kraftrad muss also im Ruhrgebiet sehr viel mehr als „normales“ Fahrzeug wahrgenommen worden sein als andernorts, wo der Straßenraum sehr viel stärker sichtbar durch den Pkw dominiert wurde. Wie stellt sich nun die räumliche Verteilung dar? Diese ist im zeitlichen Verlauf in Form von sieben Karten in Abbildung 1 bis Abbildung 7 dargestellt. Aus Platzgründen konzentriert sich die Darstellung auf Pkw 1 . Im Jahr 1948 sind vor allem zwei Dinge gut zu erkennen. Erstens ragen die Städte als hochmotorisierte „Inseln“ aus ihren Umländern heraus. Dies gilt selbst für mittelgroße Städte, die ihren kreisfreien Status inzwischen verloren haben, etwa Recklinghausen, Siegen, Lüdenscheid oder Iserlohn. Eine Ausnahme bildet wiederum das Ruhrgebiet, wo nicht in allen Städten die Motorisierungsrate höher ist als in den umliegenden Kreisen. Aber selbst hier fallen Dortmund, Essen, Witten, Hagen und andere Städte mit gegenüber den Landkreisen höherer Motorisierung auf. Zweitens ragen einige Landkreise mit besonders hoher Motorisierung heraus, insbesondere in Ostwestfalen um Bielefeld und Herford. Ob hier ein überdurchschnittliches Wohlstandsniveau, eine höhere Zahl gewerblich zugelassener Pkw, kriegsbedingte Ungleichheiten oder andere Ursachen anzunehmen sind, muss an dieser Stelle offen bleiben. Im Jahr 1958, als sich die Folgen des Krieges mit der stürmischen Zunahme der Motorisierung nivelliert hatten, lässt sich die Herausbildung zweier Cluster hoher Motorisierung erkennen. Zum einen ist dies das bereits erwähnte Ostwestfalen, zum anderen wird dies noch übertroffen von der nun in der Motorisierung führenden Rheinschiene mit Bonn, Köln und Düsseldorf einschließlich des Bergischen Landes und Teilen der Eifel. Unterdurchschnittlich ist die Motorisierung dagegen im Sauerland und in großen Teilen des Münsterlandes, insbesondere in den ländlichen Kreisen in größerer Entfernung von der Kernstadt Münster. Auch im Jahr 1968 findet sich dieses Muster. Besonders bemerkenswert ist, dass auch noch zu diesem Zeitpunkt, als die Motorisierung längst zu einem Abb. 1: Pkw- Motorisierungsrate in Nordrhein-Westfalen 1948 Tab. 2: Motorisierung mit Krafträdern in den Landkreisen und kreisfreien Städten Nordrhein-Westfalens 1928 bis 2008 Krafträder (inkl. Kleinkrafträder) je 1000 EW. Siehe auch Anmerkungen unter Tabelle 1. 1928 1938 1948 1958 1968 1978 1988 1998 2008* Ruhrgebiet kreisfreie Stadt > 300 000 EW 2,5 11,5 2,7 22 3,1 4,2 16 33 37 kreisfreie Stadt 100-300 000 EW 2,1 10,7 3,5 26 3,6 4,5 16 35 40 kreisfreie Stadt < 100 000 EW - 12,6 4,5 27 3,8 Ruhrgebiet insgesamt 2,4 11,4 3,3 23 3,3 4,3 16 34 38 Andere Gebiete kreisfreie Stadt > 300 000 EW 4,6 13,1 2,8 22 2,5 5,2 17 32 34 kreisfreie Stadt 100-300 000 EW 5,4 14,1 4,8 26 3,6 5,2 17 34 37 kreisfreie Stadt < 100 000 EW - 13,3 6,3 28 4,7 Städte insgesamt 4,8 13,4 4,3 25 3,2 5,2 17 33 35 Kreis > 400 EW/ qkm 7,6 39 4,8 5,2 20 40 47 Kreis 200-400 EW/ qkm 5,2 20,9 8,0 49 6,0 5,5 20 39 45 Kreis < 200 EW/ qkm 11,2 48 6,8 5,2 18 40 49 Andere Gebiete insgesamt 5,1 19,8 7,8 39 4,8 5,3 19 38 43 NRW insgesamt* 4,5 17,0 6,7 35 4,5 5,1 18 37 42 Mobilität + Personenverkehr 20 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 12/ 2010 Massenphänomen geworden war, viele Städte hochmotorisiert aus ihrem Umland herausragen, etwa Düsseldorf, Krefeld, Aachen, Dortmund, Hamm, Münster und Iserlohn. In anderen Städten hat sich dieses Verhältnis gerade umgedreht. So beträgt die Motorisierung in Köln 203 Pkw/ 1000 EW, im Landkreis Köln sowie im Rheinisch-Bergischen Kreis liegt sie mit jeweils 207 Pkw/ 1000 EW geringfügig höher. Die Karte für 1978 verdeutlicht das Umdrehen des Verhältnisses von Stadt und Umland in den 1970er Jahren. In Köln, Aachen oder Münster liegt die Motorisierung nun niedriger als in den jeweiligen Umlandkreisen. Bielefeld und die damalige Bundeshauptstadt Bonn sind nach wie vor Abb. 2: Pkw-Motorisierungsrate in Nordrhein-Westfalen 1958 Abb. 4: Pkw-Motorisierungsrate in Nordrhein-Westfalen 1978 Abb. 3: Pkw-Motorisierungsrate in Nordrhein-Westfalen 1968 Abb. 5: Pkw-Motorisierungsrate in Nordrhein-Westfalen 1988 hoch motorisiert, allerdings nicht so hoch wie die umliegenden, nun suburban überformten Landkreise. Die Clusterstrukturen der vorherigen Jahrzehnte sind noch immer erkennbar, allerdings weniger deutlich als zuvor. Zu dem nun eher patchworkartigen Muster trägt auch die ungünstigere räumliche Auflösung als Folge der kommunalen Gebietsreform bei. Aber noch immer liegt die Motorisierung im Sauerland und im westlichen Münsterland deutlich unter dem Durchschnitt, und im Falle des Münsterlandes bleibt dies bis heute erkennbar. Dort werden noch immer Reste einer ländlichen Lebensweise deutlich, in der im Vergleich zu den Städten und deren Umländern relativ lokale Aktionsräume, traditionelle Geschlechterverhältnisse und ggf. auch fehlende Mittel für den Zweitwagen zum Ausdruck kommen 2 . Dennoch ist in den Jahren 1988 und 1998 deutlich zu erkennen, dass die letzten ländlich geprägten Räume in der Motorisierung aufholen, während die Städte weiter zurückfallen. Selbst die Landeshauptstadt Düsseldorf befindet sich im Jahr 1998 im zweituntersten Quintil, nachdem sie bis 1968 noch im obersten Quintil war. Eine unterdurchschnittliche Motorisierung findet sich nun in fast allen kreisfreien Städten und weiterhin im westlichen Münsterland. Dies ändert sich im Jahr 2008 nicht mehr wesentlich. Das Sauerland ist nun zu einem der am höchsten motorisierten Gebiete in NRW geworden. So ist beispielsweise Mobilität + Personenverkehr 21 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 12/ 2010 Merki, Christoph M. (2002): Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Wien. Niemann, Harry/ Hermann, Arnim (Hrsg., 1995): Die Entwicklung der Motorisierung im Deutschen Reich und den Nachfolgestaaten. Stuttgart. Scheiner, Joachim (2006): Does Individualisation of Travel Behaviour Exist? Determinants and Determination of Travel Participation and Mode Choice in West Germany, 1976 - 2002. In: Die Erde 137(4), S. 355 - 377. Schmucki, Barbara (1995): Automobilisierung. Neuere Forschungen zur Motorisierung. In: Archiv für Sozialgeschichte 35, S. 582 - 597. Statistisches Bundesamt (Hrsg., 2007): Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden (verschiedene Jahrgänge). Statistisches Reichsamt (Hrsg., 1938): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Berlin (verschiedene Jahrgänge). der Kreis Olpe innerhalb von 30 Jahren (1978 - 2008) vom untersten Quintil der Motorisierung in das oberste Quintil „gewandert“. 4 Ausblick Kaum ein einzelnes Artefakt hat ein ganzes Jahrhundert so dominiert und gleichermaßen zu ökologischen und städtebaulichen Zerstörungen, sozialräumlicher Ausgrenzung und Integration, Freiheit und Emanzipation von regionalen Zwängen beigetragen wie das Auto. Der Beitrag zeichnete auf der Grundlage von Motorisierungskennziffern für nordrhein-westfälische Landkreise und kreisfreie Städte ein räumliches Bild dieser Geschichte. Der von Verkehrshistorikern häufig angedeutete städtische Beginn der Motorisierung wird dabei plastisch deutlich. Gerade bezüglich des Pkw dreht sich dies erst in den 1970er Jahren um zu der heutigen überdurchschnittlichen Motorisierung des suburbanen und ländlichen Raums. Dagegen entwickelt sich das Kraftrad bereits vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem Verkehrsmittel des ländlichen Raums sowie der weniger wohlhabenden Städte. Dies lässt sich vermutlich auf das Zusammenwirken einer Reihe von Faktoren zurückführen. Dazu zählen das Wohlstandsniveau, die Wirtschaftsstruktur einschließlich der Landwirtschaft, der Zustand der Straßen und die Fuhrparks von Firmen und öffentlichen Einrichtungen. Die überragende Bedeutung des Wohlstandes wird vor allem an den gravierenden Motorisierungsunterschieden zwischen Ruhrgebiet und anderen Großstädten deutlich, die sich für Krafträder bereits in den 1950er Jahren, aber für Pkw erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts nivelliert haben. 1 Die Motorisierung mit Kfz insgesamt ist mit der Pkw- Motorisierung stark korreliert. Je nach Jahr beträgt die Abb. 6: Pkw-Motorisierungsrate in Nordrhein-Westfalen 1998 Abb. 7: Pkw-Motorisierungsrate in Nordrhein-Westfalen 2008 3 Korrelation r = 0,57 bis r = 0,98 mit Ausnahme des Jahres 1958, als die Hochphase der Kraftrad-Motorisierung die starke Prägung des Kfz-Bestandes durch Pkw „störte“ (r = 0,41). 2 Beispielsweise beträgt unter Paarhaushalten ohne Kinder im Alter von 30 - 59 Jahren (jüngere/ r Partner/ in) der Anteil der Haushalte mit zwei oder mehr Pkw in ländlichen Kreisen geringer Dichte 42 %. In allen anderen Kreistypen mit Ausnahme der Kernstädte liegt dieser Anteil höher, so etwa in hochverdichteten Kreisen der Agglomerationsräume bei 50 % und in verdichteten Kreisen der Agglomerationsräume bei 53 %. Bei älteren Paaren (beide Personen 60 Jahre oder älter) beträgt der Anteil der mehrfach motorisierten Haushalte 14 % in ländlichen Kreisen geringer Dichte gegenüber 27 % in hochverdichteten Kreisen der Agglomerationsräume und 21 % in verdichteten Kreisen der Agglomerationsräume. Motorisierungsunterschiede zwischen den Geschlechtern sind zum einen dort besonders groß, wo das Auto am wenigsten benötigt wird, nämlich in den Kernstädten, zum anderen wiederum im ländlichen Raum. So ist in Kernstädten der Agglomerationsräume der Anteil der Männer, die jederzeit als Fahrer über einen Pkw verfügen können, mit 69 % um 17 Prozentpunkte höher als der Anteil der Frauen (52 %). In ländlichen Kreisen geringer Dichte ist es auf höherem Niveau ebenso (85 % vs. 68 %), in hochverdichteten Kreisen der Agglomerationsräume beträgt die Differenz nur 10 Prozentpunkte (81 % vs. 71 %) (alles: eigene Analysen der Daten „Mobilität in Deutschland“ 2008 (www.mid2008.de)). 3 Werte für 2008 wurden aus 2007 fortgeschrieben inkl. vorübergehend stillgelegter Fahrzeuge, die seit 2008 in der amtlichen Statistik nicht mehr ausgewiesen werden. Literatur Deutscher Städtetag (Hrsg., 1938): Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden. Berlin (verschiedene Jahrgänge). Edelmann, Heidrun (1989): Vom Luxusgut zum Gebrauchsgegenstand. Die Geschichte der Verbreitung von Personenkraftwagen in Deutschland. Frankfurt/ Main. Hartenstein, Wolfgang/ Liepelt, Klaus (1961): Man auf der Straße. Eine verkehrssoziologische Untersuchung. Frankfurt/ Main. IT.NRW (Information und Technik Nordrhein-Westfalen, Hrsg., 2008): Statistisches Jahrbuch Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf (verschiedene Jahrgänge; Hrsg. anfangs: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik). Jürgens, Claudia/ Kasper, Birgit (2006): Alltagsmobilität, Raum und Lebensstile. In: Beckmann, Klaus J. / Hesse, Markus/ Holz-Rau, Christian/ Hunecke, Marcel (Hrsg.): StadtLeben - Wohnen, Mobilität und Lebensstil. Wiesbaden. S. 125-141. MBV (Ministerium für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, 2007): Mobilität in NRW - Daten und Fakten 2007. Düsseldorf. Summary 80 years of motorisation in urban and rural areas Historical trends in the motorisation rate have been studied intensively by transport historians in their political, social, economic and technical facets. However, this is not true for long-term spatial differences in these trends. Today, the motorisation rate is known to be considerably lower in cities than in suburban and rural areas. This has not been so from the beginning. The paper studies spatial structures in motorisation in North Rhine-Westphalia and its predecessor regions for the period 1928 to 2008. The results show that only from the 1970s the cities were overtaken by rural areas in terms of motorisation. In some cases there are still some rural areas with a relatively low motorisation. What is more, there are considerable differences between the Ruhr area and other, more wealthy cities.