Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2010-0168
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Einblicke in den Radverkehr Südafrikas
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Eva Bechstein
Frank L. Fiedler
Dirk Ohm
Alltagsradfahrer in Südafrika sind Pioniere. Nur wenige, zumeist schwarze, einkommensschwache Nutzer haben erkannt, welche Kostenvorteile durch das Radfahren entstehen. Daraus lassen sich Potenziale für eine verstärkte Radverkehrsnutzung ableiten.
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Mobilität + Personenverkehr 27 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 11/ 2010 Abb. 1: Radfahrer auf dem Weg zur Arbeit nach Silverlakes Eva Bechstein / Frank L. Fiedler / Dirk Ohm Einblicke in den Radverkehr Südafrikas Alltagsradfahrer in Südafrika sind Pioniere. Nur wenige, zumeist schwarze, einkommensschwache Nutzer haben erkannt, welche Kostenvorteile durch das Radfahren entstehen. Daraus lassen sich Potenziale für eine verstärkte Radverkehrsnutzung ableiten. Die Autoren Dipl.-Ing. Dirk Ohm, Dipl.-Ing. Frank L. Fiedler, Dipl.-Geogr. Eva Bechstein, IVAS Ingenieurbüro für Verkehrsanlagen und -systeme Dresden; dresden@ivas-ingenieure.de I n den städtischen Regionen Südafrikas werden die wenigen vorhandenen Fahrradnutzer von der Mehrheit der Verkehrsteilnehmer als Menschen mit einem niedrigen gesellschaftlichen Status wahrgenommen. Die Gründe, trotz dieser sozialen Ausgrenzung, offensichtlicher Gefahren im Straßenraum und langen Wegstrecken, das Fahrrad täglich zu nutzen, sind weitgehend unerforscht. Die lückenhafte Datenlage verbunden mit der vagen Chance, das Fahrrad als „ernst zu nehmendes“ und vor allem kostengünstiges und umweltfreundliches Verkehrsmittel auch in Südafrika zu etablieren, gaben den Anstoß, den Radverkehr mit dem Wegezweck Arbeit in Südafrika exemplarisch im Rahmen einer Diplomarbeit an der TU Dresden im Forschungsverbund mit dem Council of Scientific Research (CSIR) Pretoria, ITS Engineers und dem Verkehrsplanungsbüro IVAS in Dresden genauer zu untersuchen. Rahmenbedingungen des Radverkehrs in Südafrika In einer Gesellschaft, in der der überwiegende Teil das Radfahren nicht beherrscht, steht der Radverkehr auch im Untersuchungsraum der City of Tshwane vor schwierigen Bedingungen: Klima: insbesondere in den Sommermonaten wechselhaftes Hochlandwetter mit hagelartigen Regenfällen und Unwettern, dafür aber stabile Wetterlagen im Winter Raumstruktur: geringe Steigungen im Stadtgebiet, aber großräumig separierte Flächennutzung, so dass stets weite Wege zwischen der Wohnung und Arbeitsstelle entstehen, die wiederum die Nutzung motorisierter Verkehrsmittel fördern; Infrastruktur: kaum vorhandene Radverkehrsanlagen (nur vereinzelt in der Nähe von Schulen), aber auch die ggf. nutzbaren Fußwege sind schlecht ausgebaut − gleichzeitig dominiert motorisierter (und oft rücksichtsloser) Kfz-Verkehr die Straßen, was zu äußerst eingeschränkter Verkehrssicherheit von Radfahrern führt [1]; Sozio-kulturelle Aspekte: Ähnlich wie in vielen Schwellenländern wird im städtischen Berufsverkehr dem eigenen Kfz der höchste, dem ÖPNV ein mittlerer und dem Fuß- und Radverkehr ein niedriger Status zugesprochen. Frauen fahren kaum Fahrrad. Im Freizeitbereich hat sich die Radnutzung bereits etabliert (vor allem durch Weiße) und einen vergleichsweise hohen sozialen Status erlangt. Im ländlichen Raum ist Radfahren durch den fehlenden ÖPNV und die ausgedünnten Strukturen auch unter Schwarzen eher Normalität. Insgesamt spiegeln sich diese Rahmenbedingungen in einem sehr geringen Anteil am Modal Split von unter 1 % [2] wider. Projekte zur Radverkehrsförderung Initiativen zur Förderung des Radverkehrs sowie zur Forschung sind sehr rar und werden vor allem von europäischer Seite angeregt. Dennoch gibt es mit dem „Shova Kalula“-Projekt seit 2001 auch einen Vorstoß von südafrikanischer Seite. „Shova Kalula“ hat das Ziel, Fahrräder an Schüler und Farmarbeiter im ländlichen Raum abzugeben, Fahrradwege zu bauen sowie zusätzlich Wissen über das korrekte Verkehrsverhalten zu vermitteln. Es ist die bisher größte Initiative für eine fahrradfreundlichere Zukunft. Durch die zentral gesteuerten Maßnahmen gibt es allerdings Probleme bei der Umsetzung und letztendlich Defizite bei der Akzeptanz [3]. Einen unabhängigen und nutzerbezogenen Ansatz stellt die Gründung der „Tshwane Bicycle Association” (TBA) im Jahr 2009 dar. Diese hat es sich als ehrenamtliche Initiative zur Aufgabe gemacht, den stark gefährdeten Nutzern eine Stimme und dem Radverkehr mehr Aufmerksamkeit zu geben. Dabei werden auch die Verwaltungen angesprochen, um infrastrukturelle Veränderungen zu initiieren. Allerdings ist die Durchsetzungskraft der TBA noch gering. Die Verankerung bei den Nutzern verschafft einer solchen Struktur jedoch eine weitaus langfristigere Perspektive als dies z. B. staatlichen Projekten gelingt [4]. Aufgabe und Herausforderungen Im Rahmen der Untersuchung war es Ziel, Charakeristiken des Berufsverkehrs der einkommensschwachen Bevölkerung mit dem Fokus auf den Radverkehr und dessen Einfluss auf geringe Mobilitätskosten zu beschreiben. Vor dem Hintergrund fest verwurzelter Vorurteile sollte auch die Motivation der Radfahrer für ihre Verkehrsmittelentscheidung untersucht werden. Mobilität + Personenverkehr 28 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 11/ 2010 Die Untersuchung in der City of Tshwane wurde aus arbeitsökonomischen Gründen auf die Townships Mamelodi und Nellmapius beschränkt. Diese sind Marginalsiedlungen, in denen „informelle Wohnstrukturen“ die Lebensweise der ökonomisch schwachen, zumeist schwarzen Bevölkerung bestimmen (siehe Abbildung 2 ). Der für die Erhebung entwickelte Fragebogen stellt den Kern der Datensammlung mit einer Befragung von Fahrradfahrern und Nutzern des ÖPNV dar. Der Befragungsinhalt bezog sich vor allem auf individuelle Ziele und Reiseweiten, das Einkommen, die Einstellungen zum Radfahren sowie soziodemografische Merkmale. Um die entsprechenden Daten zu erfassen, wurde eine Feldstudie auf Interviewbasis durchgeführt. Die Gespräche wurden protokolliert und mit teils erheblichem Aufwand von Bantu-Sprachen ins Englische bzw. in Afrikaans übersetzt. Pretests zeigten, dass eine schriftliche Befragung durch mangelndes Verständnis der Fragestellungen nicht zielführend wäre. Mobilitätsoptionen der einkommensschwachen Bevölkerung Die Gruppe der einkommensschwachen Arbeitspendler ist neben dem Zufußgehen und der gering genutzten Fahrradoption vorrangig auf das lokale ÖPNV-Angebot angewiesen. Dieses umfasst vor allem Minibustaxis, Linienbusse und Nahverkehrszüge. Die Unterschiede zwischen den Verkehrsmitteln des ÖPNV sind besonders deutlich hinsichtlich der Reisezeiten, der Sicherheit und des Preises [5]: Minibustaxis: 12 - 16-sitzige Kleinbusse, die von privaten Unternehmen auf wechselnden Routen ohne Fahrplan und nach dem Zurufprinzip verkehren - diese Verkehre weisen eine hohe Reisegeschwindigkeit und im Stadtbereich eine hohe Netzdichte auf. Nachteile sind die hohen Fahrpreise, die gefährliche Fahrweise sowie die unregelmäßige Bedienung (Abfahrt erst, wenn das Fahrzeug voll ist); Linienbus: zumeist im Auftrag der öffentlichen Hand betriebener Busverkehr mit großen aber unkomfortablen Fahrzeugen. Zeitkarten führen zu günstigen Fahrpreisen; insgesamt sind Takte und Netz jedoch häufig nicht dicht genug, um attraktive Verbindungen für den Arbeitsweg zu bieten; Nahverkehrszug: kostengünstigstes, aber auch unregelmäßig verkehrendes und in Bezug auf Kriminalität gefährlichstes Transportmittel. Darüber hinaus ist hier die Netzdichte sehr gering, und es müssen stets weite Wege zur Bahnstation zurückgelegt werden Kombinierte Verkehre wie Bike+Ride sind aufgund der Fahrraddiebstahlgefahr an den Bahn- oder Busstationen keine tatsächliche Mobilitätsoption. Der Kauf eines eigenen Kfz ist für die meisten Haushalte nicht möglich. An die seit der Fußball-WM 2010 operierenden Bus-Rapid-Transit-Systeme sind die untersuchten Townships nicht angebunden. Charakteristik der Radverkehrsnutzung und Mobilitätskosten Die durch die Interviews erfassten Daten ermöglichen eine differenzierte Bestimmung des ökonomischen und soziokulturellen Hintergrunds der Radfahrer. Im Hinblick auf Reisezeiten, Reiseweiten und Transportausgaben wurde ein umfassendes Mobilitätsbild erarbeitet. Die Studie zeigt, dass Radfahrer lange Wege bis zu ihrer Arbeitsstelle zurücklegen. Insgesamt haben über 40 % aller Radfahrer eine Pendeldistanz von mehr als 15 km je Richtung, also 30 km am Tag. Das Fahrrad wird hauptsächlich auf Strecken genutzt, auf denen alternativ nur ÖP- NV in Form des relativ teuren Minibustaxis zur Verfügung steht. 73 % der befragten Radfahrer müssten theoretisch mehr als 25 % des persönlichen, sehr bescheidenen mittleren Monatseinkommens von ca. 185 EUR für die Nutzung des Minibustaxis aufwenden. Obwohl der Großteil der Radfahrer der unteren Einkommensklasse angehört, kann nicht generell gefolgert werden, dass nur Fahrradpendler ein sehr geringes Einkommen haben. ÖPNV-Nutzer weisen nach den entsprechenden Kontrolluntersuchungen ähnliche Einkommensverhältnisse auf. Die deutlichen Einsparungen im Mobilitätsbereich von Radfahrern gegenüber ÖPNV- Nutzern ermöglichen den Radnutzern aber Ausgaben in anderen Bereichen, wodurch sich der Lebensstandard der betreffenden Haushalte erhöht. Die verbreitete Annahme, dass Radfahrer mehrheitlich nur wegen eingeschränkter finanzieller Mittel auf das Fahrrad zurückgreifen, konnte zumindest im Rahmen dieser Untersuchung widerlegt werden. Unter allen Radfahrern würden nur „deutlich längere Wege“ (73 %) und ein „eigener Kfz-Besitz“ (44 %) diese dazu bewegen, mit dem Radfahren aufzuhören. 65 % der befragten Radfahrer waren demnach freiwillige Nutzer. Nur 35 % der Radfahrer würden bei einem höheren privaten Einkommen versuchen, auf alternative Verkehrsmittel zu wechseln. Nach der Auswertung der Befragungen konnten drei Hauptgründe für die Nut- Abb. 2: Das Township Mamelodi Mobilität + Personenverkehr 29 INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN (62) 11/ 2010 zung des Fahrrades als Transportmittel zur Arbeit abgeleitet werden: eigene Kostenersparnis, das Fehlen von alternativen (direkten und schnellen) Verkehrsmitteln und die sportliche Betätigung durch das Radfahren. Trotz der aufgezeigten Bedeutung des Fahrrads weisen die Befragten auf deutliche Hemmnisse für eine Steigerung der Radverkehrsnutzung hin. Dies sind vor allem: die mangelnde Verkehrssicherheit, der schwierige Zugang zu Fahrrädern (Investitionshemmnis) sowie das schon aufgezeigte negative Image des Radfahrens zur Arbeit. Das Image ist ein wesentlicher Einflussfaktor für die Wahl des Verkehrsmittels und wiegt in einigen Fällen sogar schwerer als infrastrukturelle oder ökonomische Aspekte. Fazit und Maßnahmenansätze Besonders für einkommensschwache Haushalte erweist sich das Fahrrad als ein attraktives Verkehrsmittel im städtischen Kontext. Darüber hinaus überzeugt es auch in Südafrika durch die Möglichkeit der direkten Routenwahl von Tür-zu-Tür und die gesundheitsfördernden Effekte. Diese Vorteile sind jedoch kaum bekannt - weder dem Großteil der Arbeitspendler aus den Townships noch den südafrikanischen Verwaltungen. Es ist eine Vielzahl unterschiedlicher, aber zielgerichteter Maßnahmen notwendig, um die vorhandenen Potenziale des Radverkehrs in verdichteten Räumen zu nutzen. Ein erster Schritt ist die Bereitstellung von Fahrrädern an potenzielle Nutzer, da diese die Investitionskosten trotz kurzer Amortisierungszeiträume nicht finanzieren können. Als effektiv wird die Umsetzung durch eine Einbindung in bestehende staatliche Subventionsmaßnahmen oder durch sogenannte „Mikrokredite“ gesehen. Aber auch die Beigabe eines Fahrrads für jedes subventionierte Haus in einem Township-Gebiet kann sinnvoll sein. Zusätzlich sollten lokale Unternehmen angesprochen werden, die Bereitstellung firmeneigener Fahrräder umzusetzen und damit das verfügbare Einkommen für ihre Mitarbeiter zu erhöhen und gleichzeitig Gesundheit und Pünktlichkeit zu fördern. Daneben muss eine sichere Verkehrsinfrastruktur für Radfahrer gewährleistet sein. Die Erhöhung der Verkehrssicherheit ist eine große Herausforderung, die auch die verstärkte Überwachung von Verkehrsregeln, insbesondere für motorisierte Verkehrsteilnehmer, beinhalten muss. Darüber hinaus sind radverkehrsorientierte Siedlungsstrukturen in zukünftige räumliche Gesamtplanungen neu einzubinden. Dieser langfristige Prozess benötigt in besonderem Maße die Unterstützung durch politische Entscheidungsträger. Parallel sind auch die Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit zur Förderung des Radverkehrs auszuschöpfen. Sie sollte besonders die Imageverbesserung des Radfahrens z. B. durch die Einbeziehung prominenter schwarzer Musiker oder Sportler als Multiplikatoren zum Ziel haben. Die Wahrnehmung des Fahrrads als Transportmittel muss positiv korrigiert werden, um es als anerkanntes und vollwertiges Verkehrsmittel zu etablieren. Die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit im Rahmen der Interviews vor Ort haben gezeigt, dass die Förderung ehrenamtlichen Engagements als Interessenvertretung der Radfahrer ein sehr effektives Mittel zur Verbesserung der Situation des Radverkehrs sein kann. Die Einbeziehung in planerische Entscheidungen der Verwaltungen und die gleichzeitige finanzielle Unterstützung für den Aufbau entsprechender organisatorischer Strukturen können vor allem gegenüber kostspieligen Einmalinvestitionen der öffentlichen Hand äußerst nachhaltig sein. Die Ergebnisse der vorgestellten Untersuchung wurden auf der 29. Southern African Transport Conference im August 2010 präsentiert. Sowohl von Seiten der Verwaltungen als auch von Fachleuten wurden die Maßnahmen prinzipiell begrüßt, für die erforderlichen Umsetzungsstrategien fehlen derzeit jedoch noch weitere Akteure und Förderer. Literatur [1] V3 Consulting Engineers, Bicycle Study for the Pretoria Municipal Area: Status Quo Investigation; Pretoria, 1999 [2] Behrens, Roger, What the National Household Travel Survey reveals about non-motorised transport in the Republic of South Africa; Pretoria, 2006 [3] Department of Transport, Draft NMT policy; Pretoria, 2008 [4] Hlatshwayo Rodgers, Tshwane Bicycle Association; 2009, unveröffentlicht. [5] Dimitrov, Laverne, The effects of social exclusion and transport in South Africa; Pretoria, 2010 Weblinks der beteiligten Akteure: CSIR - www.csir.co.za (engl.) ITS engineers - www.itse.co.za (engl.) IVAS Dresden - www.ivas-ingenieure.de Summary Insight into cycling in South Africa The projects’ objective was to get insight into commuter travelling of low income households with the focus on cycling as a transport mode and its impact on reducing transport costs. Two townships within the City of Tshwane (Rep. of South Africa) were chosen as the case study area. The factors affecting bicycle use are predominantly transport costs and subjective factors. Cyclists save on average about 25% of their monthly household income if they go by bicycle instead of using minibus taxis. The majority of the cyclists indicated a strong affinity towards cycling which in consequence showed that they are not captive users. Only 35% of cyclists were determined to be captive users, meaning they would stop cycling if they could afford public transport. For these users cycling is the only option due to a lack of funds. It is essential to provide access to bicycles to potential cyclists and ensure road safety. Future policies should be tailored to the local situation to finally activate an awareness building process. Abb. 3: Mitglieder der ehrenamtlich agierenden „Tshwane Bicycle Association“
