Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2011-0044
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Einheitlicher EU-Verkehrsraum
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Mathhias Ruete
Ende März hat die Europäische Kommission das Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ veröffentlicht. Dieses Strategiepapier bewertet die bisherigen Entwicklungen der Verkehrspolitik, nimmt künftige Herausforderungen in den Blick und zeichnet die Rahmenbedingungen für die europäische Verkehrspolitik der nächsten zehn Jahre.
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POLITIK Weißbuch Verkehr Internationales Verkehrswesen (63) 3 | 2011 12 Einheitlicher EU-Verkehrsraum Ende März hat die Europäische Kommission das Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum - Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ veröfentlicht. Dieses Strategiepapier bewertet die bisherigen Entwicklungen der Verkehrspolitik, nimmt künftige Herausforderungen in den Blick und zeichnet die Rahmenbedingungen für die europäische Verkehrspolitik der nächsten zehn Jahre. D as weltweite Bevölkerungswachstum und die steigende Nachfrage aufstrebender Wirtschaftsmächte belasten die Umwelt und treiben die Kosten für Rohstofe in die Höhe. Die Förderung einer ressourcenschonenden Art des Wirtschaftens steht daher als oberstes Ziel im Mittelpunkt aller Politikbereiche und ist für die Kommission eine der wichtigsten Leitinitiativen der so genannten „Strategie 2020“; das Verkehrsweißbuch ist eines der Hauptbestandteile dieser Strategie. Verkehr für die Wirtschaft Der Wohlstand in der EU beruht überwiegend auf zwei Faktoren: dem Binnenmarkt und intensiven internationalen Handelsbeziehungen. Beides setzt ein eizientes Verkehrssystem voraus: Die Europäische Union baut dabei auf ein dicht ausgebautes Infrastrukturnetz und fortschrittliche Logistik. Allerdings ist mit den jüngsten EU- Erweiterungen eine gewisse Kluft zwischen dem östlichen Teil und dem westlichen Teil Europas entstanden; die Infrastruktur ist in beiden Teilen ungleich entwickelt. Eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre wird es sein, diese Kluft zu überbrücken: Wir müssen ein Verkehrssystem schafen, das allen 500 Millionen Bürgern und somit dem gesamten Kontinent gleichermaßen zur Verfügung steht. Verkehr als Teil der Wirtschaft Der Verkehr ist nicht nur Katalysator für die gesamte Wirtschaft; er ist selbst auch ein eigener Wirtschaftszweig. Die Verkehrsbranche selbst beschäftigt unmittelbar rund zehn Millionen Menschen und erwirtschaftet rund 5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Viele europäische Unternehmen sind Weltmarktführer in Bereichen des Netzausbaus, der Logistik, im Verkehrsmanage- Foto: European Commission Internationales Verkehrswesen (63) 3 | 2011 13 Um den Druck auf die Straßenverkehrsinfrastruktur zu mindern, müssen andere Verkehrsträger wie Schif und Eisenbahn stärker eingebunden werden. F oto: DB AG / Banaszak ment, in der Produktion von Verkehrsmitteln und deren Ausstattung. Angesichts der rasanten Entwicklung der Verkehrssysteme in anderen Weltregionen wird die europäische Industrie nur dann konkurrenzfähig bleiben können, wenn sie frühzeitig eine Führungsrolle im notwendigen Wandel übernimmt. Wandel ist unausweichlich Das Schicksal der gegenwärtig gebräuchlichsten Verkehrstechnologien hängt von der Verfügbarkeit fossiler Brennstofe ab. Dank ihrer hohen Energiedichte sind fossile Brennstofe besonders zweckmäßig für mobile Anwendungen und haben andere Energieträger fast ausnahmslos ersetzt: 95 % des verkehrsbezogenen Energiebedarfs werden weltweit durch Öl oder Ölerzeugnisse gedeckt. Gleichzeitig ist das Verkehrswachstum die treibende Kraft der steigenden Ölnachfrage: Nach Berechnungen der internationalen Energieagentur (IEA) wird der Bedarf von 84 Mio. Barrel pro Tag (mb/ d) im Jahr 2009 auf 100 mb/ d im Jahr 2035 steigen. Allein für die Hälfte dieses Wachstums wird China verantwortlich sein. Weltweit soll die Anzahl der Personenautos von heute etwa 750 Millionen bis 2050 auf etwa 2,2 Milliarden ansteigen. Es ist kaum vorstellbar, dass die Ölreserven ausreichen, um mit dieser rasch wachsenden Nachfrage Schritt zu halten, und dass die hohen Ölpreise des Jahres 2008 ein Einzelfall bleiben werden. Die Nutzung von Öl ist auch eine der Hauptursachen von Treibhausgasemissionen. Die internationale Staatengemeinschaft hat sich Ende 2010 in Cancún darauf geeinigt, den Temperaturanstieg durch den Klimawandel auf unter 2º C zu begrenzen. Das bedeutet für die entwickelten Länder, die Emissionen bis 2050 um 80 bis 95 % gegenüber 1990 zu verringern. Nach unseren Analysen bedeutet dies, dass bis 2050 der Treibhausgasausstoß des europäischen Verkehrssektors um mindestens 60 % gegenüber 1990 gesenkt werden muss. - Das ist eine herausfordernde Aufgabe, deren Lösung die verstärkte Anwendung von CO 2 -armen Technologien und eine verbesserte Energieeizienz erfordert. Vision für 2050 Es ist durchaus realistisch, das 60 %-Ziel zu erreichen, ohne die Mobilität zu beschränken. Aber dafür müssen der Energieverbrauch gesenkt und umweltfreundlichere Energieträger verwendet werden. Öl muss ersetzt werden, wo und wann immer dies möglich ist. Natürlich ist in Großstädten, in denen die Entfernungen kürzer sind, der Einsatz batteriebetriebener Fahrzeuge relativ problemlos möglich. Zudem werden durch die große Bevölkerungsdichte die Entwicklung von innovativer Infrastruktur und die Nutzung von öfentlichen Verkehrsmitteln erleichtert. Als Richtschnur für politisches Handeln und um den Fortschritt messbar zu machen, hat das Weißbuch zehn „Orientierungswerte“ aufgezeigt. Unter einem dieser Ziele sind zwei Visionen genannt: die Erreichung einer im Wesentlichen CO 2 -freien Stadtlogistik in größeren städtischen Zentren bis 2030 und bis 2050 der vollständige Verzicht auf Fahrzeuge, die mit konventionellem Kraftstof betrieben werden - nicht deren „Verbannung“, wie von manchen Kritikern wohl bewusst missverstanden! Der Gebrauch von „mit konventionellem Kraftstof betriebenen Pkw“ im Stadtverkehr soll bis 2030 halbiert und durch Hybrid-, Elektro- oder andere CO 2 freie Autos, durch Zufußgehen und Radfahren sowie durch öfentlichen Personenverkehr ersetzt werden, jeweils angepasst an die Gegebenheiten der jeweiligen lokalen Ebene. Bei großen Entfernungen ist die Reduzierung von Emissionen schwieriger. Für den interkontinentalen Schifsgüterverkehr und den Luftverkehr wird die dynamischste Entwicklung vorhergesagt - ihr Transportvolumen könnte sich mehr als verdoppeln. Neue Schife und Flugzeuge werden eizienter sein, aber wahrscheinlich wird das gerade genügen, um das prognostizierte Wachstum zu kompensieren. Daher werden nachhaltig produzierte Biokraftstofe der zweiten und dritten Generation benötigt, um die Emissionen zu verringern - um etwa 40 %. Im Regionalverkehr und im Güterverkehr sind der technologische Fortschritt und die Entwicklung sauberer Kraftstofe die wesentlichen Faktoren. Die Forschung muss Lösungen entwickeln für umweltschonende und eizientere Lkw und Pkw. Dies allein reicht aber nicht aus; zudem löst es nicht die Stauproblematik. Ein weiterer Faktor sind daher Eizienzgewinne, die durch das Zusammenlegen von Volumina auf den Strecken mittlerer Entfernungen erzielt werden können. Dies setzt in der Personenbeförderung die stärkere Nutzung des Eisenbahn- und Busverkehrs voraus und im Güterverkehr multimodale Lösungen, bei denen für den Fernverkehr auf Schif und Eisenbahn zurückgegrifen wird. Ohne einen stärkeren Beitrag der anderen Verkehrsträger wäre die Straßenverkehrsinfrastruktur einem großen Druck ausgesetzt. Missverständnis Aufgrund seiner - bewusst ein wenig kategorisch formulierten - „Orientierungswerte“ ist das Weißbuch vielerseits als „unrealistische Rückkehr zur Verkehrsverlagerung“ missverstanden worden. Dies ist aber nicht gemeint. Vielmehr sind diese Ziele größtenteils auf der Grundlage der Modellrechnungen der Kommission entwickelt worden. Eines dieser Ziele ist, dass der Eisenbahn- und Schifsverkehr einen Teil des Wachstums des Güterverkehrsvolumens absorbiert, entsprechend 30 % des heutigen Straßengüterfernverkehrs. Die Machbarkeit dieser Verlagerung wurde beispielsweise vom Deutschen Speditions- und Logistikverband (DSLV) in seiner Stellungnahme bestätigt. Dass der Güterverkehr trotzdem weiter wachsen wird, sowohl bis 2030 als auch bis 2050, unterstreicht die Notwendigkeit, saubere und eizientere Lkw zu entwickeln. Bei der Personenbeförderung ist das Ziel, dass die meisten Reisenden bis zum Jahr 2050 auf Alternativen zum herkömmlichen Pkw, der derzeit für 65 % der Personenkilo- POLITIK Weißbuch Verkehr Internationales Verkehrswesen (63) 3 | 2011 14 meter genutzt wird, umsteigen. Dies wäre auch der einzige Weg, die vorhersehbare Sättigung bzw. Verstopfung vieler Verkehrsknotenpunkte zu verhindern. Dazu sollte unter anderem die Länge des europäischen Hochgeschwindigkeitsschienennetzes bis 2030 verdreifacht werden. Strategie - Was tun? Das Weißbuch sieht 40 konkrete Initiativen vor, die das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das nächste Jahrzehnt darstellen, mit einem Schwerpunkt auf dem aktuellen Mandat. Die Initiativen sind in vier verschiedene Gebiete unterteilt, die wir gern mit den „vier I“ beschreiben: Binnenmarkt (englisch: internal market), Innovation, Infrastruktur und internationale Beziehungen. Binnenmarkt Innerhalb des Binnenmarkts legen wir unser Hauptaugenmerk auf die Eisenbahn. Die Märkte für den inländischen Schienenpersonenverkehr, den bedeutendsten Teilbereich, sind immer noch nicht vollständig geöfnet. Diese Barriere werden wir aus dem Weg räumen. Weiterhin werden wir dafür sorgen, dass sichergestellt wird, dass es einen unverfälschten Wettbewerb auf der Schiene gibt und dass das Eigentum am Schienennetz keine Hürde für einen freien Zugang zu Selbigem darstellt. Der einheitliche europäische Luftraum soll so bald wie möglich vollendet werden. Im Seeverkehr wird es einen so genannten „blauen Gürtel“ in den Meeren in und rund um Europa geben: Es kann heute noch vorkommen, dass ein in der EU registriertes Schif, das von Antwerpen nach Rotterdam fährt, genauso viele Verwaltungslasten zu bewältigen hat wie ein Schif von Rotterdam nach Panama. Dies soll sich dank neuer technischer Möglichkeiten ändern. Im Straßenverkehr soll zur Vereinfachung der Verwaltung und zur Erleichterung des Übergangs zu anderen Verkehrsträgern das e-Freight-Konzept eingeführt werden, die papierlose Dokumentation, Aufzeichnung und Nachverfolgung von Gütern. Außerdem werden wir vorschlagen, die Kabotagebeschränkungen in nationalen Märkten abzubauen. Dies soll mit entsprechenden Sozialregelungen für Berufskraftfahrer einhergehen, damit Mindeststandards respektiert werden. Innovation Was die Innovation angeht, besteht die Herausforderung darin, die Technologieforschung durch einen Systemansatz zu ergänzen, der Infrastruktur- und Regulierungsanforderungen, die Koordinierung zahlreicher Akteure und große Demonstrationsvorhaben zur Förderung der Markteinführung zusammenbringt. Hierfür wird ein „strategischer Technologieplan“ ausgearbeitet, unter anderem mit dem Ziel, die Nutzung neuer Fahrzeugtechnologien zu beschleunigen. Hinzu kommt die wesentliche Rolle von Informations- und Kommunikationstechnologien, um Verkehrsströme zu optimieren und die verschiedenen Verkehrsträger besser miteinander zu verbinden - ein Schlüsselelement zur besseren Nutzung der vorhandenen Kapazität. In diesem Zusammenhang wird es auch unser Ziel sein, die mittlerweile für jeden Verkehrsträger vorhandenen Navigations-, Verkehrsüberwachungs-, Verkehrsmanagementsowie Kommunikationsdienste vollständig zu nutzen und - in einem zweiten Schritt - den Austausch von Informationen zwischen den Verkehrsträgern zu ermöglichen, um multimodalen Verkehr zu erleichtern. Infrastruktur Ohne eine adäquate Infrastruktur wird ein Wandel im Verkehrssektor nicht möglich sein. Die Union kann sich einen Flickenteppich nationaler Projekte nicht länger leisten. Stattdessen braucht sie ein schlüssiges multimodales europaweites Netzwerk. Mit der Revision der Leitlinien für die TEN-V- Politik soll ein Kernnetz geschafen werden, das alle EU-Hauptstädte und die wichtigsten Wirtschaftszentren miteinander verbindet. Wir werden gemeinsame Strukturen für Güterverkehrskorridore errichten um sicherzustellen, dass Investitionen, Kapazitäten und technische Spezifikationen koordiniert verwaltet werden. Das gilt insbesondere entlang multimodaler Verkehrskorridore über größere Entfernungen und bei grenzüberschreitenden Strecken. Besondere Aufmerksamkeit werden wir dem Finanzrahmen widmen: Wir beabsichtigen, ein gemeinsames Konzept für die Infrastrukturfinanzierung zu entwickeln, um die Finanzierung aus dem TEN-V-Budget sowie aus dem Kohäsions- und Strukturfonds einheitlich zu gestalten. Dabei befürworten wir EU-Projektanleihen, um Risiken besser abzufedern und um die internationalen Finanzinstitutionen als Investoren für Verkehrsinfrastrukturprojekte zu gewinnen. Letztere müssen allerdings solide Geschäftsperspektiven bieten. Eine Bepreisung der Infrastruktur wird notwendig sein, um Verkehrsinvestitionen rentabel zu gestalten, insbesondere mit Blick auf die derzeit knappen Haushaltskassen. Während die konkrete Gestaltung in der Befugnis der Mitgliedstaaten liegt, muss die EU dafür sorgen, dass die nationalen Systeme miteinander kompatibel sind und Diskriminierungen vermeiden. Die Art und Weise, wie der Nutzer für den Verkehr bezahlt, muss sich grundsätzlich ändern. Sie muss den wirklichen Gebrauch der Infrastruktur widerspiegeln und sich dem Prinzip der Kostentragung durch die Verursacher und Nutzer annähern. Das ist von wesentlicher Bedeutung, um gegenüber Nutzern, Investoren und Dienstleistern die richtigen Preissignale auszusenden. Gleiche Wettbewerbsbedingungen, auch im Bereich der Steuern, sind Teil unserer Strategie. Als Folge der Übernahme der Kosten werden die Nutzer sozusagen im Gegenzug weniger Staus, mehr Informationen, einen besseren Service und größere Sicherheit erhalten. Internationale Beziehungen Das letzte Element unsere Strategie betrift die internationale Dimension. Wir werden insbesondere für Folgendes eintreten: b internationale Abkommen zur Öfnung der Märkte in Drittländern b stärkere Einbindung des Verkehrs in die Nachbarschaftspolitik der EU b Annahme internationaler technischer Standards auf der Grundlage europäischer Regeln und b noch stärkere Zusammenarbeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten in internationalen Organisationen. Zahlreiche Aspekte der Verkehrspolitik haben eine internationale Dimension. Deshalb müssen wir diesem Bereich im kommenden Jahrzehnt besondere Aufmerksamkeit widmen. Heute ist Europa weltweit führend im Verkehrs- und Logistikbereich. Und wir müssen daran arbeiten, dass dies so bleibt. ɷ Matthias Ruete, Dr. Generaldirektor der Generaldirektion Mobilität und Verkehr der Europäischen Kommission, Brüssel ec.europa.eu/ transport/
