Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2011-0051
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2011
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Anmerkungen zum Aussagegehalt des Fundamentaldiagramms
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2011
Justin Geistefeldt
Im Beitrag von Wolfgang Wirth in Ausgabe 12/2010 dieser Zeitschrift wurde der Aussagegehalt des Fundamentaldiagramms grundlegend in Frage gestellt. Wesentliche Kritikpunkte des Beitrags basieren auf einer Missinterpretation der Kontinuitätsgleichung. Die diesbezüglichen Schlussfolgerungen und die theoretischen Zusammenhänge des Fundamentaldiagramms werden im Folgenden näher erläutert.
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INFRASTRUKTUR Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (63) 3 | 2011 64 D as Fundamentaldiagramm ist eine wesentliche Grundlage für die Analyse und Modellierung des Verkehrsflusses auf Straßen und Autobahnen. Es stellt den empirischen Zusammenhang zwischen den makroskopischen Kenngrößen Verkehrsstärke q und Verkehrsdichte k graphisch dar. Die Kenngrößen q und k sind bei stationärem Verkehr über die Zustandsgleichung q = k · v m (1) mit der mittleren momentanen Geschwindigkeit v m verknüpft. Demzufolge müssen nur zwei der drei Größen q, k und v m bekannt sein, um die Zusammenhänge zwischen den Kenngrößen vollständig zu beschreiben. Anhand von Messungen des Verkehrsflusses in diskreten Zeitintervallen, in denen ein näherungsweise stationärer Verkehrsablauf unterstellt wird, können Wertetupel der makroskopischen Kenngrößen q, k und v m ermittelt werden. Bei lokaler Beobachtung an einem Querschnitt werden die Verkehrsstärke q und die mittlere lokale Geschwindigkeit v l direkt erfasst. Die mittlere momentane Geschwindigkeit v m entspricht dem harmonischen Mittelwert der lokal erfassten Fahrzeuggeschwindigkeiten. Die Verkehrsdichte k kann mit der Zustandsgleichung (1) berechnet werden. Im Fundamentaldiagramm werden die Messwerte der Kenngrößen q und k durch eine Punktewolke repräsentiert. Zur Darstellung der zeitlichen Abfolge der Messwerte wird das sog. dynamische Fundamentaldiagramm verwendet, bei dem die in unmittelbar aufeinander folgenden Intervallen gemessenen Wertepaare durch Linien miteinander verbunden sind. Kontinuitätsbedingung In Analogie zur Strömungsmechanik gilt für die Betrachtung eines Verkehrsstroms auf einer Straße allgemein die Kontinuitätsgleichung q(x,t) x k(x,t) t + = 0 (2) Sie lässt sich anhand eines Ausschnitts in der Weg-Zeit-Ebene herleiten (siehe Abbildung- 1). Die Kontinuitätsgleichung besagt, dass bei infinitesimaler Betrachtung die Änderung der Verkehrsstärke über den Weg ∂q/ ∂x und die Änderung der Verkehrsdichte über die Zeit ∂k/ ∂t unterschiedliche Vorzeichen und den gleichen Betrag aufweisen müssen. Entgegen der Darstellung in [1] bedeutet dies jedoch nicht, dass Zustandsübergänge, bei denen die Verkehrsstärke-q und die Verkehrsdichte k gleichzeitig zu- oder abnehmen, die Kontinuitätsgleichung verletzen. Bei Zustandsübergängen, die im dynamischen Fundamentaldiagramm dargestellt sind, muss die Veränderung von q und k jeweils über die Zeit- t betrachtet werden, während die Kontinuitätsgleichung eine räumlich-zeitliche Betrachtung voraussetzt. Abbildung-1 zeigt, dass eine Zunahme der Verkehrsdichte k im Zeitschritt von t 1 bis t 2 = t 1 - +- t mit einer Zunahme der Verkehrsstärke- q im selben Zeitschritt verbunden sein kann. Auch die weiteren Schlussfolgerungen in [1], z. B. bezüglich zulässiger und unzulässiger Formen von Hystereseschleifen im Fundamentaldiagramm, sind daher unzutrefend. Kapazität im Fundamentaldiagramm Für die Verallgemeinerung und die praktische Anwendung der Beziehungen zwischen den makroskopischen Kenngrößen q, k und v m werden funktionale Zusammenhänge auf der Basis von Verkehrsflussmodellen verwendet, die durch Regressionsrechnung aus gemessenen Wertepaaren abgeleitet werden können. Auf der Grundlage verschiedener mathematischer Funktionen wurde eine Vielzahl von Modellansätzen entwickelt [2]. Viele dieser Modelle beschreiben entweder nur den Bereich des fließenden Verkehrs oder basieren auf einem zweigeteilten Funktionsverlauf mit unterschiedlichen Ansätzen für den Anmerkungen zum Aussagegehalt des Fundamentaldiagramms Im Beitrag von Wolfgang Wirth in Ausgabe 12/ 2010 dieser Zeitschrift wurde der Aussagegehalt des Fundamentaldiagramms grundlegend in Frage gestellt. Wesentliche Kritikpunkte des Beitrags basieren auf einer Missinterpretation der Kontinuitätsgleichung. Die diesbezüglichen Schlussfolgerungen und die theoretischen Zusammenhänge des Fundamentaldiagramms werden im Folgenden näher erläutert. Internationales Verkehrswesen (63) 3 | 2011 65 INFRASTRUKTUR Wissenschaft fließenden und den zähfließenden bzw. gestauten Verkehr. Im „Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen“ HBS [3] wird für die verkehrstechnische Bemessung von Autobahnen beispielsweise die Modellfunktion nach Brilon, Ponzlet [4] verwendet, die ausschließlich für den Bereich des fließenden Verkehrs gültig ist. Für die Ermittlung der Kapazität im Fundamentaldiagramm ist es dagegen sinnvoll, einen Modellansatz zu verwenden, der alle Verkehrszustände mit einem durchgehenden Kurvenzug beschreibt. Bewährt hat sich dafür das Verkehrsflussmodell nach van Aerde [5], mit dem in der Regel eine gute Anpassung an Messdaten über die gesamte Breite der möglichen Verkehrsdichten gelingt [6]. Die Beschreibung des Fundamentaldiagramms mit einem durchgehenden Kurvenzug erfolgt dabei nicht - wie in [1] unterstellt - mit dem Ziel, die Dynamik der Verkehrszustände im Übergangsbereich zwischen dem fließenden und dem zähfließenden bzw. gestauten Verkehr nachzubilden. Vielmehr ist der durchgehende Modellansatz erforderlich, um die Kapazität als Verkehrsstärke am Scheitelpunkt der Modellfunktion ermitteln zu können. Bei zweigeteilten Modellansätzen ergibt sich der Scheitelpunkt der Modellfunktion dagegen in der Regel aus der - in gewissem Maße willkürlichen - Festlegung der Grenze zwischen dem ansteigenden und dem abfallenden Ast des Fundamentaldiagramms. Der Übergang vom fließenden in den zähfließenden und gestauten Verkehr ist in der Realität üblicherweise mit einem plötzlichen Rückgang der mittleren Geschwindigkeit in unmittelbar aufeinander folgenden Intervallen verbunden. Je nach Lage des Messquerschnitts relativ zu Engpässen ergibt sich daher in vielen Fällen eine deutliche Lücke zwischen dem ansteigenden und dem abfallenden Ast des Fundamentaldiagramms (vgl. Abbildung- 2). Messwerte im Übergangsbereich zwischen dem ansteigenden und dem abfallenden Ast resultieren häufig aus einer Mittelung von Verkehrszuständen vor und nach einem Zusammenbruch des Verkehrsflusses. Sie repräsentieren damit einen Verkehrszustand, der in der Realität nie existiert hat. Vor allem bei einer Betrachtung längerer Intervalldauern ist es daher zweckmäßig, diese Werte bei der Modellierung des q-k-v-Zusammenhangs auszuschließen. Dies kann näherungsweise anhand einer Analyse der Varianz der Geschwindigkeiten in Teilintervallen (z. B. Fünf-Minuten-Intervalle innerhalb eines Stunden-Intervalls) erfolgen [6]. Gestalt des q-v-Diagramms Für die verkehrstechnische Bemessung von Autobahnen und Landstraßen wird in der Regel anstelle des Fundamental- (q-k-) Diagramms das q-v-Diagramm verwendet. Weil die mittlere momentane Kfz-Geschwindigkeit vom Schwerverkehrsanteil abhängig ist, wird stattdessen im Allgemeinen die mittlere momentane Pkw- Geschwindigkeit in Abhängigkeit von der Kfz- Verkehrsstärke betrachtet. Für Autobahnen und Landstraßen mit mehrstreifigen Richtungsfahrbahnen weist das q-v- Diagramm im oberen Ast (fließender Verkehr) für deutsche Verkehrsverhältnisse üblicherweise eine konvexe Form auf. Dies bedeutet, dass die mittlere Pkw-Geschwindigkeit mit zunehmender Verkehrsstärke zunächst nur geringfügig und erst im Bereich knapp unter der Kapazität deutlich abnimmt. Im Bereich sehr hoher Verkehrsstärken liegen die Bemessungsdiagramme des HBS [3] für Autobahnen außerhalb der Knotenpunkte dabei eher am unteren Ende der erheblichen Bandbreite der in der Realität zu beobachtenden Geschwindigkeiten. Das q-v-Diagramm einbahnig zweistreifiger Landstraßen verläuft dagegen konkav. Entgegen der Darstellung in [1] handelt es sich dabei nicht um eine willkürliche Festlegung, sondern um eine in mehreren Untersuchungen (u. a. [7], [8]) belegte Erkenntnis, die inzwischen als Stand der Technik anzusehen ist und in das aktuelle verkehrstechnische Regelwerk [3] Eingang gefunden hat. Der Unterschied zu den q-v-Diagrammen mehrstreifiger Richtungsfahrbahnen erklärt sich durch den Einfluss des Schwerverkehrs. Auf Landstraßen, auf denen Überholungen nur unter Nutzung des Fahrstreifens des Gegenverkehrs möglich sind, bewirken bereits einzelne Lkw im Verkehrsstrom einen deutlichen Rückgang der mittleren Pkw-Geschwindigkeit. Bei hohen Verkehrsstärken ist das Geschwindigkeitsniveau aufgrund der Kolonnenbildung hinter den Lkw bereits so gering, dass sich eine weitere Zunahme der Verkehrsstärke kaum noch auf die mittlere Pkw-Geschwindigkeit auswirkt. Bei Autobahnen ist der Einfluss der Lkw auf die mittleren Pkw-Geschwindigkeiten dagegen bei geringen Abb. 1: Beispiel für eine gleichzeitige Zunahme von Verkehrsstärke und -dichte im Zeitschritt t 1 > t 2 in zwei aufeinander folgenden Weg-Zeit-Elementen mit insgesamt neun Fahrzeugtrajektorien INFRASTRUKTUR Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (63) 3 | 2011 66 allerdings nur im Kontext der zugrunde liegenden Messdaten möglich. Die Modellierung des Fundamentalbzw. q-v-Diagramms mit einem durchgehenden Kurvenzug liefert aussagekräftige Schätzwerte der im Mittel zu erwartenden Kapazität von Straßen und Autobahnen. Um die stochastischen Eigenschaften des Verkehrsablaufs, insbesondere beim Übergang vom fließenden in den zähfließenden bzw. gestauten Verkehr, präzise nachzubilden, stehen detailliertere Modellansätze und Analyseverfahren zur Verfügung, z. B. [9]. ɷ Verkehrsstärken praktisch nicht vorhanden, da Überholungen in der Regel ohne Zeitverzug möglich sind. Fazit Die Beschreibung des empirischen Zusammenhangs zwischen der Verkehrsstärke q und der Verkehrsdichte k im Fundamentaldiagramm ist ein wichtiges und aussagekräftiges Hilfsmittel für die Analyse und Modellierung des Verkehrsflusses auf Straßen und Autobahnen. Die Darstellung der q-k-Beziehung durch eine Modellfunktion stellt eine vereinfachende Abstraktion des realen Verkehrsflusses dar, die jedoch für viele verkehrstechnische Anwendungen hinreichend genau ist. Insbesondere im fließenden Verkehr können die Zustände des Verkehrsflusses - auch in ihrer dynamischen Abfolge - mit einer Modellfunktion gut nachgebildet werden. Eine vollständige Analyse des Fundamentaldiagramms ist Abb. 2: q-v- und Fundamentaldiagramm einer zweistreifigen Autobahn-Richtungsfahrbahn: Messdaten (Stunden-Intervalle) und angepasste Modellfunktion nach van Aerde [5] Justin Geistefeldt, Univ.-Prof. Dr.-Ing. Lehrstuhl für Verkehrswesen - Planung und Management Ruhr-Universität Bochum justin.geistefeldt@rub.de LITERATUR [1] WIRTH, W. (2010): Das Fundamentaldiagramm und sein Aussagegehalt. Internationales Verkehrswesen, Heft 12/ 2010, S. 30-35. [2] FGSV (2005): Hinweise zum Fundamentaldiagramm - Grundlagen und Anwendungen. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Hrsg.), Köln. [3] FGSV (2001): Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS 2001). Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Hrsg.), Köln. [4] BRILON, W.; PONZLET, M. (1995): Application of traic flow models. Proceedings of the Workshop in Traic and Granular Flow. World Scientific, Singapore. [5] VAN AERDE, M. (1995): A Single Regime Speed-Flow-Density Relationship for Freeways and Arterials. Preprint no. 950802, presented at the 74 th TRB Annual Meeting. Transportation Research Board, Washington D.C. [6] GEISTEFELDT, J. (2009): Überprüfung der verkehrstechnischen Bemessungswerte des HBS für Autobahnen. Straßenverkehrstechnik, Heft 10/ 2009, S. 643-650. [7] BRILON, W.; WEISER, F. (1997): Ermittlung von Q-V-Diagrammen für zweistreifige Straßen außerhalb geschlossener Ortschaften. Schriftenreihe Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik, Heft 747. Bundesministerium für Verkehr. Bonn. [8] WU, N. (2000): Verkehr auf Schnellstraßen im Fundamentaldiagramm - Ein neues Modell und seine Anwendungen. Straßenverkehrstechnik, Heft 8/ 2000, S. 378-388. [9] GEISTEFELDT, J.; BRILON, W. (2009): A Comparative Assessment of Stochastic Capacity Estimation Methods. In: LAM, W.H.K.; WONG, S.C.; LO, H.K. (Ed.): Transportation and Traic Theory 2009: Golden Jubilee - Proceedings of the 18th International Symposium on Transportation and Traic Theory, pp. 583-602. Springer, Dordrecht, Heidelberg, London, New York.
