Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2011-0065
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Sicher ist sicher
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Peter Kauschke
Julia Reuter
Heiko A. von der Gracht
Terrorangriffe sind kein neues Phänomen: IRA, RAF und ETA waren schon in den 1970er Jahren aktiv. In den letzten zehn Jahren verschob sich der Terror von der nationalen auf die internationale Ebene. Die Angriffe vom 11. September waren ein Schlüsselereignis. Heute rücken gerade logistische Knotenpunkte zunehmend als Anschlagsziele ins Visier.
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LOGISTIK Supply Chain Security Internationales Verkehrswesen (63) 4 | 2011 20 Sicher ist sicher Terrorangrife sind kein neues Phänomen: IRA, RAF und ETA waren schon in den 1970er Jahren aktiv. In den letzten zehn Jahren verschob sich der Terror von der nationalen auf die internationale Ebene. Die Angrife vom 11. September waren ein Schlüsselereignis. Heute rücken gerade logistische Knotenpunkte zunehmend als Anschlagsziele ins Visier. N ichts deutet momentan darauf hin, dass die Terrorgefahr nachlässt. So berichtete der Leiter der nationalen Behörde zur Transportüberwachung in Russland von einer Verdoppelung der Anschläge auf die russische Transportinfrastruktur im Jahr 2010, verglichen mit 2009. 1 Und deutet man den Anschlag am Moskauer Flughafen Domodedovo im Januar 2011 als ein Vorzeichen, so wird dieser Trend anhalten. 2 Auch die aus dem Jemen über Europa nach Amerika verschickten Paketbomben standen vor kurzem im Fokus der internationalen Presse. Nicht nur die Sicherheit öfentlicher Personentransportsysteme erfordert somit Wachsamkeit - auch der Transport von Gütern kann ein Vehikel für Terroranschlä- Die 39 weltweit größten logistischen Schlüsselregionen Grafik: PWC ge und Angrife auf Menschenleben sein. Die Gefahrenabwehr in Lieferketten ist daher essenziell. Maßnahmen zum Schutz menschlichen Lebens und der Infrastruktur müssen fester Bestandteil der Planung von Transportsystemen und Lieferketten sein. Frachtdurchleuchtung, die Erstellung von Risikoprofilen und die ausschließliche Nutzung vertrauenswürdiger Speditionsunternehmen sind nur einige der möglichen Maßnahmen. Werden Handel, Tourismus oder Geschäftsreisetätigkeit eingeschränkt, kann eine substanzielle Belastung der Wirtschaft entstehen. 3 Die Schließung des Flughafens in Bangkok 2008 aufgrund politischer Proteste führte zu Folgeschäden in Höhe von 8,5- Mrd. USD für die thailändische Wirtschaft. Dabei wurden nicht nur die Tourismus- und Luftfahrtbranche getrofen, sondern auch sensible Exportindustrien, wie beispielsweise der Handel mit Orchideen. Hier belief sich der Schaden auf über 9-Mio. USD. 4 Um die Risiken besser zu verstehen, haben wir Daten zu Anschlägen auf Einrichtungen der Transport- und Logistikwirtschaft aus den Jahren 2004 bis 2010 analysiert. Eine umfangreiche und öfentliche Datenbank im Internet - das Worldwide Incidents Tracking System (WITS) - listet mehr als 68 000 weltweite Vorfälle seit der Einrichtung am 1.- Januar 2004 bis zum 30.- April 2010. Die Datenbank wird vom US National Counterterrorism Center (NCTC), einer amerikanischen Regierungsbehörde Internationales Verkehrswesen (63) 4 | 2011 21 zur Sammlung und Analyse von Daten zu Terrorismus und Terrorabwehr, nach dem Open-Source-Prinzip betrieben und ständig aktualisiert. 5 Wir haben die NCTC-Daten hinsichtlich der Anzahl der Attacken auf die Sektoren Luftfahrt, Schiffahrt, Straßenverkehr, Schienenverkehr und Transportinfrastruktur analysiert. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Anzahl der Anschläge in den vergangenen zehn Jahren stetig zugenommen hat. 2010 wurden trotz der seit dem 11.- September 2001 deutlich verstärkten Sicherheitsmaßnahmen 3299 Vorfälle registriert. Sowohl Sicherheitsbehörden als auch Unternehmen haben noch immer Probleme, sich auf die veränderte Gefahrensituation für Lieferketten einzustellen. Die momentanen Vorkehrungen sind mithin nicht ausreichend, um einen sicheren Warentransport zu gewährleisten. Wir gehen davon aus, dass der ansteigende Trend von Angrifen auf Lieferketten in den kommenden Jahren anhalten wird und es zunehmend zu Störungen im weltweiten Warenaustausch kommen wird. Logistische Knotenpunkte als bevorzugte Anschlagsziele Angrife auf Supply Chains verfolgen oftmals das Ziel, einen möglichst großen Schaden mit einem vergleichsweise geringen Aufwand zu erzielen. 6 Aufgrund ihrer enormen Bedeutung für die globalen Handelsströme stellen logistische Knotenpunkte wie Flug- oder Seehäfen ideale Ziele dar. Mögliche Konsequenzen einer Störung eines solchen zentralen Knotenpunktes kann man erahnen, wenn man beispielsweise den Hafenstreik von 2002 betrachtet, bei dem 29- Häfen an der Westküste der USA durch einen Streik von 10 500 Hafenarbeitern lahmgelegt wurden. Der Verlust betrug Schätzungen zufolge rund 1- Mrd. USD pro Tag und es dauerte mehr als sechs Monate, bis die Auswirkungen dieses Streiks überwunden waren. Zu diesem Zeitpunkt wurden jährlich rund 60-% des amerikanischen Frachtverkehrs mit einem Warenwert von mehr als 300- Mrd. USD an den Häfen der Westküste umgeschlagen. Da die USA an rund 20 % des globalen Seehandels beteiligt sind, waren die Auswirkungen dieses Streiks nicht nur auf die USA begrenzt, sondern beeinflussten die Wirtschaftsaktivitäten auf dem gesamten Globus. 7,8 Bei Angrifen auf Flug- und Seehäfen könnten die Auswirkungen auf die globalen Warenströme noch weitaus schlimmer sein, als im oben skizzierten Fall eines Streiks. Die Abbildung zeigt die 39 weltweit größten logistischen Schlüsselregionen, über die insgesamt rund 90 % des Welthandels abgewickelt werden. Diese verfügen meist über mehrere Häfen, Flughäfen und andere logistische Infrastruktur im Großraum einer Metropole. 9 Sie bilden zentrale Knotenpunkte für den Güterumschlag und sind somit von entscheidender Bedeutung für globale Lieferketten. Aber nicht nur die Flug- und Seehäfen sind gefährdet, auch während des Transports sind Risiken zu beachten. Die meisten der großen Seefrachtrouten verlaufen durch Meerengen wie z. B. den Suezkanal oder die Straße von Malacca, die natürlichen Kapazitätsgrenzen unterliegen und teilweise durch politisch instabile Regionen verlaufen - nicht auszuschließen, dass eines dieser Nadelöhre zeitweise unpassierbar ist und lange Ausweichrouten in Kauf genommen werden müssen. Auch verlaufen viele Routen durch Pirateriegebiete, wie den Golf von Aden oder den Golf von Guinea. Das führt schon heute zu erheblichen Mehrkosten aufgrund von Sicherheitseinrichtungen, erhöhten Versicherungsprämien, aber in manchen Fällen auch durch das „Umrouten“ von Schifen. Sollten die Angrife auf Supply Chains weiterhin zunehmen, welche Maßnahmen müssten Unternehmen dann ergreifen, um sich angemessen zu schützen? Wo wären die kritischen Stellen in einer Lieferkette und wie können Unternehmen flexibel bleiben, wenn sich die Situation zuspitzen sollte? Wie können Firmen sicherstellen, dass sowohl ihr Personal als auch ihre Technologie auf dem nötigen Stand sind, um auch in den kommenden Jahrzehnten die Supply Chain zu sichern? Um diese Fragen zu beantworten, haben wir im Rahmen unserer Studie Transportation & Logistics, Volume 4: Securing the supply chain 80 Experten aus 25 Ländern eingeladen, an unserer Befragung teilzunehmen und ihr Wissen, ihre Vorstellungen und ihre Einschätzungen der zukünftigen Sicherheitssituation zu teilen und zu diskutieren. 10 Sichere Transportwege gewährleisten Transport- und Logistikunternehmen müssen in Zukunft stärker als bisher Sicherheitsthemen in ihrer Routenplanung berücksichtigen. Sie müssen analysieren, inwieweit sie zwingend auf bestimmte Transportrouten angewiesen sind und wie sie mit möglichen Zwischenfällen umgehen. Ebenso wichtig: Transport- und Logistikunternehmen müssen sich darauf vorbereiten, schnell auf mögliche Veränderungen des Risikolevels in bestimmten Regionen reagieren zu können. Supply Chain Manager aller Branchen müssen Lösungen finden, wie mit höheren Transportkosten und längeren Transportzeiten zu verfahren ist, wenn sie auf alternative Transportrouten ausweichen müssen. Und selbst wenn Zwischenfälle ausbleiben: Mehr Sicherheit bedeutet oft mehr Transportzeit. Das gilt für die Schiffahrt, wenn zum Beispiel aufgrund der Piratengefahr bestimmte Meerengen nicht mehr befahren werden können. Aber auch andere Transportmodi sind betrofen, so die Luftfahrt infolge strengerer Sicherheitsvorschriften. In manchen Fällen könnte dies sogar soweit führen, dass Geschäftsmodelle, die auf zeitkritischen Lieferungen basieren, gänzlich aus dem Markt verschwinden. Sicherung des Cyberspace Schon heute hängt der Erfolg von Transport- und Logistikunternehmen stark von efektiven Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ab. Daher müssen virtuelle Gefahren genauso ernst genommen werden wie physische. Cyberattacken, die darauf ausgerichtet sind, physische Schäden zu verursachen, stellen eine zunehmende Gefahr für die Transport- und Logistikbranche dar. So könnten Manipulationen von Steuerungssystemen für Flughäfen, den Luftraum oder Eisenbahnnetze zu verheerenden Unfällen führen. Investitionen in Sicherheitsinitiativen zum Schutz der IT-Systeme in Supply Chains vor Cyberattacken sind daher zwingend erforderlich. Die jüngsten Angrife auf die IT-Systeme von Technologieführern wie Sony oder Lockheed Martin verdeutlichen, wie ernst diese Gefahr zu nehmen ist. Investitionen in eine sichere Zukunft Bedeuten höhere Ausgaben für Sicherheit gleichzeitig auch weniger Gewinn? Nicht unbedingt. Gezielte Investitionen in Sicherheitsmaßnahmen können vielfältige, geldwerte Vorteile nach sich ziehen, so z. B. höhere Transparenz in der Supply Chain, Verbesserungen des Bestandsmanagements, eizientere Zollabwicklung, Vermeidung von Diebstahl und nicht zuletzt verbesserte Kundenbeziehungen. Dabei kommt es auf die richtige Kombination von präventiven und reaktiven Maßnah- »Aufgrund ihrer enormen Bedeutung für die globalen Handelsströme stellen logistische Knotenpunkte wie Flug- oder Seehäfen ideale Angrifsziele dar.« LOGISTIK Supply Chain Security Internationales Verkehrswesen (63) 4 | 2011 22 men an, um das optimale Supply Chain-Sicherheitslevel zu realisieren. Unternehmen sollten wahrscheinliche, aber auch weniger wahrscheinliche Zukunftsszenarien von Störungen in ihren Lieferketten durchspielen, deren Folgen und Folgekosten abschätzen und auf dieser Grundlage Präventions- und Krisenpläne aufstellen. Strengere Standards Staatliche Organe werden in Zukunft weiterhin regulierend in die Ausgestaltung der Sicherheit von Lieferketten eingreifen. Es ist aber davon auszugehen, dass sie den Vollzug zunehmend den Unternehmen selbst oder privaten Drittanbietern überlassen werden. Transport- und Logistikunternehmen sollten in Zukunft intensiv mit staatlichen Institutionen zusammenarbeiten, um Sicherheitsstandards (weiter) zu entwickeln, die nicht nur efektiv, sondern auch in der betrieblichen Praxis eizient umsetzbar sind. Sicherheitsaudits entlang der gesamten Supply Chain werden zur Notwendigkeit werden. Aber selbst mit strengeren Standards und besseren Technologien werden Supply Chains nie zu 100 % sicher sein. Technologien können helfen, Sicherheitslevel zu verbessern. Jedoch bleibt der Mensch das kritische Glied. Sicherheit in Supply Chains bleibt eine Herausforderung, aber auch eine Chance. Unternehmen, die in der Lage sind, flexible und agile Systeme zu schafen, mit denen sie schnell und gezielt Krisen bewältigen und Gefahren möglichst schon im Vorfeld verhindern können, werden Wettbewerbsvorteile erlangen. ɷ 1 English News CN. (2011). Terror attacks at Russian transport double in 2010. 2 BBC News (24 January 2011. Moscow bombing: Carnage at Russia‘s Domodedovo airport. Aufgerufen unter: http: / / www.bbc.co.uk/ news/ world-europe-12268662 3 RUDD, M. (2011). Terrorist attack on global supply chain could threaten food, medical and fuel supplies. 2011 4 Voice of America News, Central Bank Says Bangkok Airport Closure Cost Economy $8 Billion, January 12, 2009 5 National Counter Terrorism Center. (2011). Worldwide Incidents Tracking System (WITS); Retrievd 07, June 2011 from https: / / wits.nctc.gov/ FederalDiscoverWITS/ index. do? t=Records&N=0 6 MELNIK, R.; ELDOR, R. (2007). Intelligence and Terrorism Information Center at the Israel Intelligence Heritage & Commemoration Center (IICC); Small investment, large returns: Terrorism, Media and the Economy 7 Department of Homeland Security (2007) STRAT- EGY TO ENHANCE INTERNATIONAL SUPPLY CHAIN SECURITY, Peter Kauschke, Dr. Global Business Development Transportation & Logistics Pricewaterhouse Coopers AG, Düsseldorf peter.kauschke@de.pwc.com Julia Reuter Business Development Transportation & Logistics Pricewaterhouse Coopers AG, Düsseldorf julia.reuter@de.pwc.com Heiko A. von der Gracht, Dr. Managing Director Supply Chain Management Institute Wiesbaden heiko.vondergracht@ebs.edu http: / / www.dhs.gov/ xlibrary/ assets/ plcy-internationalsupplychainsecuritystrategy.pdf 8 http: / / www.pbs.org/ newshour/ bb/ economy/ july-dec02/ docks_09-19.html 9 THE GEOGRAPHY OF TRANSPORT SYSTEMS; SECOND EDI- TION Jean-Paul Rodrigue, Claude Comtois and Brian Slack (2009), New York: Routledge, 352 pages. ISBN 978-0-415- 48324-7 10 PricewaterhouseCoopers, EBS Business School: Transportation & Logistics 2030 Volume 4: Securing the supply chain „Management der Betriebsqualität bei alternden Anlagen und knappen Kassen“ Fachtagung am 27./ 28. September 2011 Programm Anmeldungen ab sofort über die Website tu-dresden.de/ vsys Plenarvortragsreihe mit Herrn Jürgen Fenske, Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen MDir Michael Harting, Leiter der Abteilung Landverkehr im BMVBS Prof. Ronald Pörner, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie Deutschland Podiumsdiskussion Moderation Prof. K. Ringat, Geschäftsführer des RMV, Vizepräsident des VDV, Präsident der DVWG Ausgewählte Fachvorträge von Vertretern aus Verkehrsunternehmen, Industrie und Forschung Hamburger Hochbahn AG, Verkehrs-AG Nürnberg, VerkehrsGesellschaft Frankfurt am Main, Wiener Linien, Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg BOMBARDIER, SIEMENS, VDEI, VVO, ETH Zürich, TU Delft, TU Dresden Technisches Besuchsprogramm Dresdner Verkehrsbetriebe AG, Projekt Messstraßenbahn unterstützt durch Professur für Verkehrssystemtechnik Professur für Verkehrssystemtechnik Prof. Dr. Jörg Schütte Technische Universität Dresden Tel. +49 351 463-37823 E-Mail: QSYS2011 @ tu-dresden.de http: / / tu-dresden.de/ vsys
