Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2011-0066
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Einzelwagennetz muss flexibler werden
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Henning Schaumann
Der Gütertransport in Europa wies in den vergangenen Jahrzehnten starke Wachstumsraten auf. Der Modal Split zeigt einen Zuwachs beim Straßentransport, die Schiene hat ihren zunächst hohen Anteil deutlich verloren – auch im zugehörigen Einzelwagenverkehr. Ein neues Produktionssystem für den EWV kann flexibler auf Auslastungsschwankungen reagieren und die Laufzeiten der Wagen verringern.
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LOGISTIK Einzelwagenverkehr Internationales Verkehrswesen (63) 4 | 2011 23 Einzelwagennetz muss flexibler werden Der Gütertransport in Europa wies in den vergangenen Jahrzehnten starke Wachstumsraten auf. Der Modal Split zeigt einen Zuwachs beim Straßentransport, die Schiene hat ihren zunächst hohen Anteil deutlich verloren - auch im zugehörigen Einzelwagenverkehr. Ein neues Produktionssystem für den EWV kann flexibler auf Auslastungsschwankungen reagieren und die Laufzeiten der Wagen verringern. D er Einzelwagenverkehr (EWV) der verschiedenen EU-Staaten ist untereinander vernetzt, jedoch sind die Netzwerke historisch gewachsen und dienen eher nationalen Belangen. Wird eine Sendung grenzüberschreitend per EWV versendet, so sind mindestens zwei Einzelwagennetzbetreiber am Transport beteiligt und es liegen getrennt voneinander operierende Transportnetze der Betreiber vor. Dies ist aus Sicht von global agierenden Unternehmen problematisch und auch im Sinne des Informationsflusses und der Transportqualität gibt es Probleme in der internationalen Zusammenarbeit. Es scheint somit nicht verwunderlich, dass nur der Straßentransport in der Vergangenheit vom starken Mengenwachstum im Gütertransport profitieren konnte und damit zeitgleich den EWV stärker unter Handlungsdruck setzt. Abbildung-1 zeigt den Modal Split der EU27. Der grenzüberschreitende EWV hält derzeit einen Anteil von ca. 10 % am gesamten EWV [2]. Da sich erste europäische Staatsbahnen oder deren Nachfolgeorganisationen aus dem Einzelwagenverkehr zurückziehen, wie in Spanien, Dänemark oder Großbritannien, sinkt die Auslastung der EWV-Netze durch die weggefallenen Mengenströme weiter [3]. Dies ist gerade im EWV kritisch, da der Fixkostenanteil bei ca. 90 % liegt und sinkende Auslastung somit starken wirtschaftlichen Druck auf die verbliebenen Netze ausübt. Zur Verbesserung der europäischen Zusammenarbeit im EWV wurde daher die Allianz Xrail gegründet. Diese baut auf dem Trans European Transport Network (TEN-T) der EU auf und soll ein flächendeckendes europäisches Qualitätsnetzwerk für den EWV aubauen. Die Partner aus Belgien, Deutschland, Luxemburg, Österreich, Schweden, Schweiz und Tschechischen Republik arbeiten hier enger zusammen und stehen auch in Zukunft fest zum EWV [4]. Eine andere Meinung über die Zukunft des EWV vertritt die Interessengemeinschaft der Bahnspediteure, die mit großer Unzufriedenheit sieht, wie der bestehende Einzelwagenverkehr „immer weiter kollabiert“, und eine Umorientierung fordert [5]. Daher erscheint es sinnvoll, über das verwendete Netz für den EWV nachzudenken, das einen großen wirtschaftlichen Druck auf die Betreiber ausübt. Foto: DB AG LOGISTIK Einzelwagenverkehr Internationales Verkehrswesen (63) 4 | 2011 24 Abb. 1: Modal Split der EU27, eigene Darstellung, Datengrundlage [1] Abb. 2: Das Knotenpunktsystem der Schweiz im Detail, eigene Darstellung angelehnt an [6] Das Einzelwagensystem in Europa Im EWV werden die Wagen aus dem Anschlussgleis des Verladers abgeholt und über verschiedene Hierarchiebebenen des Transportnetzes zum Rangierbahnhof verfahren. Hier werden sie nach ihren verschiedenen Zielen sortiert und anschließend zum Rangierbahnhof nahe des Empfangsortes verfahren. Dort werden die Züge wieder zerlegt und in umgekehrter Reihenfolge den Anschlussgleisen des Empfangsortes individuell zugestellt. Der EWV ist damit zeit- und kostenintensiv. Abbildung-2 zeigt den prinzipiellen Aubau des EWV-Netzes am Beispiel Schweiz. Eine Besonderheit ist hier, dass durch Auslassen eines Rangierbahnhofs ein Expressfrachtnetz innerhalb des EWV-Netzes angeboten werden kann. Die starre Hierarchie des Knotenpunktsystems wird nicht mehr eingehalten. Seit der Weiterentwicklung in den 1970er Jahren hat sich das sog. „flexible Knotenpunktsystem“ für EWV-Netze durchgesetzt, das in jedem Nationalstaat individuell und nebeneinander betrieben wird. Je nach Transportaukommen einer Relation können Wagen im Netz umgeleitet werden und so aukommensschwache Relationen zwischen zwei Rangierbahnhöfen nicht bedient, sondern in stärker ausgelasteten Zügen über einen dritten Rangierbahnhof umgeleitet werden. Aukommensstarke Relationen zwischen zwei Knotenpunktbahnhöfen oder zwischen einem Knotenpunktbahnhof und einem Rangierbahnhof werden dagegen als Direktverkehre realisiert, ohne den Umweg über weitere Hierarchieebenen zu gehen [6]. Die unter Kostendruck stehenden Netze wurden landesindividuell stetig verbessert. So wurde in Deutschland beispielsweise im Jahr 2001 mit dem Projekt „Marktorientiertes Angebot Cargo“ (MORA-C) versucht, den defizitären Einzelwagenverkehr zu sanieren. Um Kosten einzusparen, wurden durch MORA-C von 2100 Güterverkehrsstellen in 2003 anschließend noch 1400 bedient [7]. Die Strategie war es hierbei, Gleisanschlüsse nicht mehr zu bedienen, die zu geringe Mengen in das Netz einspeisten, um wirtschaftlich tragbar zu sein. Zur Prozesskostenermittlung wurde das Projekt „Prozess Redesign Produktion“ (PRP) in 2003 durchgeführt. PRP ermöglichte eine deutlich eizientere Ressourcenplanung und Kostensenkungen in der Produktion und im Angebot von Verkehren [8, 9]. Die Produktivitätsefekte reichten jedoch nicht aus, um ein positives wirtschaftliches Ergebnis im EWV zu erzielen. In 2006 entschloss man sich zum neuen „Produktionssystem 200X“, das Züge des Fernbereichs auf zentrale Korridore und große Zugbildungsanlagen konzentriert. Das Kernnetz verbindet Deutschlands Ballungsräume mit verstetigten Zugfolgen gleichmäßiger über den Tag verteilt. Der Großteil des Aukommens wird jedoch weiterhin in der Nacht abgewickelt, aufgrund der Kundengewohnheiten, am Nachmittag zu verladen und am Morgen empfangen zu wollen [10]. Der Weiterbetrieb des EWV ist für DB Schenker Rail alternativlos. Die sieben Xrail-Partner wollen weiterhin den Einzelwagenverkehr in Europa fortentwickeln und haben bereits in Frankreich, Polen und Italien Einzelwagenbedienungen aufgenommen, dort wo sich andere Bahnen zurückgezogen haben [11]. Dies ist vor allem in Italien und Frankreich derzeit stark der Fall. Soll zukünftig ein europäisches Qualitätsnetzwerk aufgebaut werden, so sollte auch darüber nachgedacht werden, wie die momentan verschiedenen Netze besser vernetzt werden können. Konzeption eines alternativen Einzelwagennetzes für Europa In einer Betrachtung von alternativen Produktionsverfahren, Ergänzungskonzepten, innovativen Entwicklungen und autonomisierten Güterwagen wurde eine Bewertung auf die Eignung und auf Verbesserungspotenziale für einen zukünftigen EWV durchgeführt. Dieses wurde in den Bereichen Bahnbetrieb, Logistik und Wirtschaftlichkeit durchgeführt. Im Bereich Bahnbetrieb wurde der Betriebsaufwand für Zug- und Rangierfahrten für die Disposition, Steuerung und Überwachung geprüft. In der Logistik wurde der Zeitaufwand im Material- und Infor- Internationales Verkehrswesen (63) 4 | 2011 25 mationsfluss geprüft, der in den Prozessen Transport, Umschlag und Lagerung auftritt. Die Wirtschaftlichkeit wurde ebenso bewertet wie die Kapazität für Güterwagen. Letztlich führte dies zu einer Gesamtbewertung-[12]. Auf Grundlage dieser vergleichenden Bewertung wurden alternative Einzelwagensysteme erarbeitet. Im Folgenden wird ein System vorgestellt, das mittelfristig umsetzbar erscheint. Daher wurde auf Konzepte verzichtet, die auf autonomisierte Güterwagen zurückgreifen bzw. innovative Entwicklungen benötigen, die nicht flächendeckend verfügbar sind, wie z. B. ETCS (European Train Control System) oder eine gänzlich neue Terminalausstattung. In Tabelle- 1 sind daher nur relevante Verfahren, Konzepte und Entwicklungen als Auszug aufgeführt. Der EWV muss für die verladenen Unternehmen vor allem in deren Logistikprozesse integrierbar sein. Das hier vorgestellte Konzept soll daher im Bereich der Logistik Vorteile gegenüber dem derzeitigem System bieten. Als Produktionsverfahren eignet sich besonders das Hub-and-Spoke-System. Wird das Hub-and-Spoke-System mit den Linien-, Direkt- und Shuttlezügen aus dem Bereich Bahnbetrieb kombiniert, können diese zur Verbindung der Knoten in das Hub-and-Spoke-System integriert werden. Des Weiteren bietet das Railportkonzept die größten Vorteile gegenüber dem konventionellen EWV zur Handhabung in der Fläche. Auch zur Einbindung des Informationsflusses ist dieses Konzept geeignet. Da nur ein Hub von den Ausmaßen nicht sämtliche Verkehre bewältigen kann und zu große Umwege von nahe gelegenen Start- und Zielrelationen in Kauf genommen werden müssten, basiert das Netzwerk auf mehreren Hubs. Im Rahmen des Projekts „Diskrete Optimierungsmodelle und Algorithmen zur strategischen Planung von Transportnetzen im Einzelwagenverkehr“ wurden weiterhin Lösungsverfahren zur optimalen Ausgestaltung eines solchen Netzes entwickelt [12]. Exemplarisch wird hier ein System mit mehreren Hubs vorgestellt, die über Europa verteilt sind. Vor einer Umsetzung muss die Hubstruktur durch geeignete Verfahren jedoch abschließend ermittelt werden. Durch die schlankere Produktion der Verkehre entfallen die Knotenpunkt- und Satellitenbahnhöfe und tragen so gleichzeitig zur Beschleunigung des Materialflusses bei. Die exemplarische Darstellung geht grundsätzlich von zwei angebundenen Railports aus. Diese Darstellung wurde zur Veranschaulichung gewählt und wäre real deutlich umfangreicher. Die wirtschaftlich sinnvolle Verteilung und die Zuordnung der Railports zu einem Hub ist in der Darstellung ebenfalls nur exemplarisch zu sehen. Abbildung-3 zeigt stark vereinfacht den Aufbau des Einzelwagennetzes. Für die Zustellung, bzw. die Bereitstellung der Wagen in die Haltepunkte ist das Vorhalten zahlreicher Verbrennungstriebfahrzeuge in der Fläche zu vermeiden, da diese die Wirtschaftlichkeit der Verkehre gegenüber dem konventionellen Einzelwagenverkehr verschlechtern, siehe speziell hierzu auch [13]. Ein Zustellen durch die elektrisch angetriebene Streckenlok selbst, ist aus zeitlichen Gründen nicht möglich, da der Linienzug relativ kurze Fahrzeiten aufweisen soll, um den Materialfluss nicht unnötig zu verlangsamen. Zur Verteilung bzw. Sammlung in der Fläche bietet sich ein selbstangetriebener Güterwagen an. Das Konzept FlexCargoRail bietet hier spezielle Vorteile, da keine zusätzlichen Totlasten im Hauptlauf durch die Antriebe verursacht werden und ein Fahren im Anschlussgleis ohne Fahrdraht möglich ist. Weiterhin können die Railports für die Anlieferung per Lkw genutzt werden. Somit ist es Kunden ohne Gleisanschluss möglich, die Bahn für den Hauptlauf zu nutzen. Im Folgenden wird der Lauf eines selbstangetriebenen Wagens durch das Netz dargestellt: Tabelle 1: Vergleichender Auszug möglicher Verbesserungen/ Verschlechterungen zum EWV, eigene Darstellung LOGISTIK Einzelwagenverkehr Internationales Verkehrswesen (63) 4 | 2011 26 1. Der Wagen wird durch eigene Kraft vom Gleisanschluss zum nächstgelegenen Haltepunkt eines Linienzugs gefahren, der von einem Railport aus ringförmig bzw. linienförmig verkehrt. 2. Am Haltepunkt übernimmt der Linienzug den Wagen und verfährt diesen in den Railport. An jedem Haltepunkt eines Linienzugs werden Wagen angekuppelt und gleichzeitig aus dem Zugverband abgekuppelt. Kann die Zielrelation durch dieselbe Linie angefahren werden, wird direkt Punkt 6 durchgeführt. 3. Durch den Railport verkehrt ein Linienzug als Verbindung zwischen Hub und Railport. Dieser kuppelt vom Hub kommend Wagen für den Railport ab und auf der Rückfahrt Wagen für den Hub an. Der betrachtete Wagen wird auf der Rückfahrt an einen Linienzug angekuppelt und in den Hub verfahren. Falls der Zielbahnhof vom selben Railport mit einem anderen Linienzug erreicht werden kann, wird direkt Punkt 6 durchgeführt. 4. Im Hub wird der Linienzug aufgelöst und die Wagen zu Ausgangszügen rangiert. Falls der Ziel-Railport dem derzeitigen Hub zugeordnet ist, wird der Wagen direkt zu einem Linienzug zum entsprechenden Railport rangiert. Ansonsten wird der Wagen zuvor über einen Direktzug zum entsprechenden Hub verfahren. 5. Der Linienzug in die Railports verlässt den Hub und kuppelt den Wagen im entsprechenden Railport ab. 6. Der Wagen wird durch einen Linienzug im Railport angekuppelt und im entsprechenden Haltepunkt abgestellt. 7. Der Wagen wird aus eigener Kraft in den entsprechenden Anschluss verfahren. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat dankenswerterweise die Untersuchung „Diskrete Optimierungsmodelle und Algorithmen zur strategischen Planung von Transportnetzen im Einzelwagenverkehr“ unterstützt. ɷ LITERATUR [1] European Commission: Directorate-General for Energy and Transport in co-operation with Eurostat, in: Energy and Transport Figures, Chapter 3.2, 2010 [2] Bahnen sollen Erlöse wieder steigern, in: DVZ - Deutsche Logistik Zeitung, 014 (2011), 01.02.2011 [3] HEINRICI, T.: Kombi kontra Konventionell, in: DVZ - Deutsche Logistik Zeitung, Ausgabe BTLO/ 11, 10.05.2011 [4] Xrail Allianz: Presentation: The European wagonload Alliance, in: Panel session transport logistic, München, Mai 2011 [5] HEINRICI, T.: Speditionszüge statt Einzelwagen, in: DVZ - Deutsche Logistik Zeitung, 122 (2010), 12.10.2010 [6] BRUCKMANN, D.: Containerisierung des Einzelwagenverkehrs, Dissertation Universität Duisburg-Essen (2007) [7] BERNDT, T.: Eisenbahngüterverkehr, Teubner-Verlag (2001) [8] SILL, F.; PRAUSCHKE, C.: Kostendruck und Kostensenkung: Anwendung von Kostenmanagementmethoden in der Praxis - Beispiel Deutsche Bahn AG, in: Controlling & Management 1 (2005) [9] HEYDT, D.: PRP - Einfach clever produzieren, in: Deine Bahn 10 (2003) [10] FRICKE, E.; PENNER, H.: Der Takt der Zukunft - Das neue Produktionssystem 200X im Einzelwagenverkehr von Railion, in: Eisenbahntechnische Rundschau (ETR) 12 (2006) [11] HEINRICI, T.: Wir bieten unseren Kunden dauerhaft ein Einzelwagennetz, in: Rail Business 20/ 11 S. 12, 16.05.2011 [12] CLAUSEN, U.; SENDER, J.; SCHAUMANN, H.: Diskrete Optimierungsmodelle und Algorithmen zur strategischen Planung von Transportnetzen im Einzelwagenverkehr, TU Dortmund unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) [13] DOBESCHINSKY, H.; BITTER, S.: Untersuchungen zum Güterbahnkonzept an einer Hauptstrecke, in: Eisenbahntechnische Rundschau (ETR) 3 (2004) Henning Schaumann, Dipl.-Logist. Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML), Dortmund Abteilung Verkehrslogistik henning.schaumann@iml.fraunhofer.de Abb. 3: Vereinfachte Darstellung des Ersatzkonzepts, eigene Darstellung
