Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2011-0067
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Christian Dahm
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Internationales Verkehrswesen (63) 4 | 2011 59 Klassenziel nicht erreicht M it der Einigung in erster Lesung hat der EU-Verkehrsministerrat die Weichen für den Recast des ersten Eisenbahnpakets gestellt, durch den der Zugang zu Serviceeinrichtungen erleichtert, die Trassenpreise harmonisiert und die Kompetenzen der nationalen Regulierungsbehörden gestärkt werden sollen. Unter dem ungarischen Vorsitz hat der Rat seine Hausaufgaben gemacht − nicht weniger, aber leider auch nicht mehr. So darf bezweifelt werden, dass der Rat letztlich eine gute Note für seinen Recast erhalten wird. Denn interne Verhandlungsdokumente belegen, dass viele Mitgliedstaaten noch immer nicht im Geiste des Richtlinienpakets zur Liberalisierung des Schienengüterverkehrs in der EU handeln. Vielmehr stehen die eigenen nationalen Interessen im Vordergrund. Und da bildet Deutschland keine Ausnahme − ganz im Gegenteil. Beobachter waren überrascht, dass Deutschland Vorbehalte dagegen vorbrachte, dass die nationalen Regulierungsbehörden gestärkt werden sollen. Bauchschmerzen bereitete Deutschland insbesondere, dass den Behörden künftig alle relevanten Informationen erteilt werden müssen, wenn sie Beschwerden nachgehen. Dass die deutsche Seite diese Vorbehalte letztlich fallen ließ, lag ofensichtlich einzig und allein daran, dass die Bundesregierung am Ende isoliert dastand. Nicht verhindern konnte Berlin zudem, dass die Unabhängigkeit der Behörde gesichert wird. Diese Vorbehalte passen gar nicht zusammen mit der Ankündigung, dass in Berlin an einem umfassenden Regulierungsgesetz gearbeitet wird, mit dem die Kompetenzen der Bundesnetzagentur gestärkt werden sollen. Deutschland wolle nicht auf die EU warten, hatte der Leiter der Abteilung Landverkehr im Bundesverkehrsministerium, Michael Harting, kürzlich angekündigt. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich Deutschland derzeit im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) dafür verantworten muss, dass die Bundesnetzagentur nicht ausreichend mit Kompetenzen ausgestattet ist, stellt sich die Frage, wer auf wen wartet. Keine Einwände hatte Deutschland dagegen, dass mit dem Recast die aufschiebende Wirkung von Einsprüchen gegen Entscheidungen des Regulierers aufgehoben wird. Diese sind künftig direkt vollziehbar. Eine Ausnahme wird nur noch bei Entscheidungen gemacht, die nicht wiedergutzumachende Konsequenzen für den Beschwerdeführer haben. Erfolgreich wehrte sich Berlin − sehr zum Unwillen der Gemeinschaft Europäischer Bahnen CER − gegen eine Verpflichtung, mehrjährige Finanzierungsverträge abzuschließen. Christian Dahm EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Logistik-Zeitung in Brüssel B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON CHRISTIAN DAHM Nichts abgewinnen konnte Deutschland auch dem Kommissionsvorschlag, dass die Betreiber von Serviceeinrichtungen stärker von marktbeherrschenden Bahnunternehmen unabhängig sein müssen. Der Rat hat diesen Kommissionsvorstoß aufgeweicht. Für die Wettbewerber der alt eingessenen Bahnen ergibt sich damit kein Fortschritt gegenüber der gegenwärtigen Situation; er wird damit zur Makulatur. Die Beispiele zeigen, dass es Deutschland mittlerweile vor allem darum geht, die Besitzstände der Deutschen Bahn (DB) zu zementieren. Die Verhandlungen im Rat haben den Beweis dafür geliefert, dass es nicht mehr weit her ist mit der gerne von Deutschland und der DB beanspruchten Vorreiterrolle bei der Bahnliberalisierung in Europa. Gekehrt wird am liebsten vor der Tür der anderen. Der Grund: Die DB fühlt sich insbesondere angesichts schwacher Regulierer in anderen EU-Ländern benachteiligt. Darum sollen diese Länder zuerst einmal ihren Rückstand auholen, bevor die Marktposition der DB weiter geschwächt und insbesondere an deren Holdingstruktur gekratzt wird. Nachhilfeunterricht in Sachen Marktöfnung könnten Deutschland und der gesamte Rat indes vom Europäischen Parlament (EP) bekommen. Dort bemühen sich die Liberalisierungsbefürworter unter Führung der EP-Berichterstatterin Debora Serracchiani, die Lücken bei der Bahnliberalisierung ein für alle Mal zu schließen. Dabei ist noch ofen, ob sich die italienische Sozialistin mit ihrer Forderung nach umgehender strikter Trennung von Netz und Betrieb vor allem gegen deutsche Abgeordnete wird durchsetzen können. Unterdessen haben die Mitglieder des EP-Verkehrsauschusses − gegen den erklärten Willen ihrer Berichterstatterin − die Abstimmung über den Recast erstmal verschoben. Das ursprünglich für Mitte Juli angesetzte Votum soll nun frühestens im Oktober stattfinden. Somit dürfte das EP-Plenum erst im November abstimmen. Die Gründe: Angesichts der Rekordzahl von rund 600 Änderungsanträgen und der Unstimmigkeiten innerhalb der Fraktionen über Kernpunkte des Recast benötigen die Europaabgeordneten mehr Zeit, um Kompromisse zu finden. Hingegen hätte Serracchiani gerne aufs Gaspedal gedrückt, damit der Recast so schnell wie möglich in Kraft treten kann. Die eiserne Verfechterin der strikten Trennung zeigt sich indes ungewohnt kompromissbereit. Und dies nicht nur, um eine Einigung nicht weiter zu verzögern, sondern auch um mit einer möglichst breiten Mehrheit in die anschließenden Verhandlungen mit dem EU-Ministerrat gehen zu können. Wie dem auch sei, zeichnet sich in jedem Fall ab, dass die Europaabgeordneten über den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ im Rat hinausgehen werden. Denn das EP will seine hart erkämpfte Position als Ko-Gesetzgeber nicht so ohne weiteres aufgeben, indem auf die Entscheidung des EuGH in den Verfahren zum ersten Eisenbahnpaket gewartet wird. Da macht es auch nichts, dass sich diese Diskussionen noch einige Monate hinziehen werden. »Das Europäische Parlament muss dem EU-Ministerrat Nachhilfeunterricht in Sachen Bahnliberalisierung erteilen.«
