eJournals Internationales Verkehrswesen 63/6

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2011-0111
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Marktdurchdringung schafft Sicherheit

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Günther Prokop
In den vergangenen Jahren haben Fahrerassistenzsysteme (FAS) in modernen Fahrzeugen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Systeme, die bis vor Kurzem nur im Luxussegment der Premiummarken verfügbar waren, werden zunehmend „demokratisiert“ und wandern in die Kompakt- und Kleinwagenklasse. Das ist gut so, denn intelligent gemachte Fahrerassistenzsysteme haben großes Potenzial, Sicherheit, aber auch Energieffeizienz, Verkehrsfluss und Bedienkomfort zu verbessern.
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MOBILITÄT Fahrerassistenzsysteme Internationales Verkehrswesen (63) 6 | 2011 48 Marktdurchdringung scha t Sicherheit In den vergangenen Jahren haben Fahrerassistenzsysteme (FAS) in modernen Fahrzeugen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Systeme, die bis vor Kurzem nur im Luxussegment der Premiummarken verfügbar waren, werden zunehmend „demokratisiert“ und wandern in die Kompakt- und Kleinwagenklasse. Das ist gut so, denn intelligent gemachte Fahrerassistenzsysteme haben großes Potenzial, Sicherheit, aber auch Energieeizienz, Verkehrsfluss und Bedienkomfort zu verbessern. D ie Wirksamkeit von Fahrerassistenzsystemen ist oft eine Funktion der „Durchdringung“, also des Prozentsatzes von Fahrzeugen im Verkehr, die mit einem bestimmten System ausgestattet sind. In diesem Beitrag geht es um Einordnung und Trends bei diesen Systemen sowie Forschungsbedarfe. Was sind Fahrerassistenzsysteme? Unter FAS versteht man mechatronische Funktionen, die den Fahrer bei der Bewältigung der Fahraufgabe unterstützen. Diese Unterstützung bezieht sich pro System meist auf einzelne, klar definierte Fahrsituationen. Heutige FAS assistieren in der Regel in einer der drei Ebenen der Fahrzeugführung - also beim Navigieren, bei der Bahnführungs- oder der Stabilisierungsaufgabe. Der Grad der Unterstützung geschieht in diesen vier Stufen: •• Informieren: Der Fahrer erhält fahrrelevante Informationen, etwa die Außentemperatur oder Staumeldungen. •• Warnen: Die Aufmerksamkeit des Fahrers wird auf ein bestimmtes Ereignis gelenkt, zum Beispiel bei Erkennen einer Gefahr. Ein klassisches Beispiel dafür sind Aufahrwarner oder Spurwechselwarner. •• Empfehlen: Der Fahrer erhält eine mehr oder weniger intuitive Auforderung zu einem bestimmten Verhalten. Systeme, die gezielt die Blickrichtung steuern, oder das kurze Anbremsen eines Aufahrassistenten sind Beispiele dafür. •• Autarker Eingrif: Der Fahrer wird gezielt teilweise aus der Fahraufgabe ausgeschlossen. Dies wird heute praktiziert in Systemen, in denen eine Fahrerreaktion aufgrund der physiologischen Einschränkungen des Menschen nicht schnell oder gezielt genug erfolgen könnte (beispielsweise ABS- und ESP-Systeme). Zweiter Anwendungsfall sind Komfortsysteme (etwa Abstandsregeltempomat, Einparkassistent), bei denen der Fahrer Teilaufgaben - vornehmlich auf Bahnführungsebene - an das System abgibt. Im dritten heute üblichen Fall werden autarke Eingrife als Ultima- Ratio-Maßnahme verwendet, um bei einem nicht mehr verhinderbaren Unfall die wahrscheinlichen Unfallfolgen zu minimieren. Wesentliche Entwicklungsgesichtspunkte Die Hauptherausforderungen bei der Entwicklung von FAS sind heute: •• Der Umgang mit unsicherer Information: Heutige FAS beziehen einen Großteil ihrer Umfeldinformationen aus fahrzeuginternen Sensoren, die mit begrenzter Genauigkeit und Verlässlichkeit arbeiten. Diese unsicheren Informationen müssen also mit entsprechender Vorsicht verarbeitet werden. Gegebenenfalls müssen sie redundant erfasst werden, um die Systemsicherheit zu erhöhen. Bei Sicherheitssystemen kann dies zu objektiven Gefährdungen führen, bei Systemen zur Komfort- und Eizienzverbesserung zumindest zur Einschränkung der Wirksamkeit. Potenziell ergibt sich daraus ein Problem der Akzeptanz, da falsche oder unvollständige Informationen in der Regel zu unsicheren Situationsbewertungen und damit zu nicht erwartungskonformen oder objektiv nicht zielführenden Systemreaktionen führen. In der Praxis ergibt sich nach heutigem Stand der Technik daraus, dass viele Assistenzfunktionen gerade in schwierigen Fahrsituationen nicht mehr verfügbar sind. Beim Fahrer entsteht dadurch eventuell der Eindruck einer trivialen Funktionalität mit nicht ausreichendem Mehrwert. •• Verantwortung für die Fahrzeugführung: Die Übertragung von Teilen der Fahraufgabe an ein technisches System bedeutet nicht, dass dadurch die Verantwortung für die Fahrzeugführung etwa an die Entwickler des Systems übergeben würde. Dies wirft rechtlich problematische Fragen auf, etwa bei autarken Systemeingrifen in Gefährdungssituationen. Ein autarker Systemeingrif darf demnach nur dann erfolgen, wenn er in jeder denkbaren Fahrsituation objektiv geboten und durch den Fahrer jederzeit intuitiv zu unterbrechen ist. Vor allem mit der Einschränkung der unsicheren Situations- Abb. 1: Sensoren bieten ein immer genaueres Bild des Fahrzeugumfelds und ermöglichen so neue Sicherheits- und Assistenzfunktionen. Quelle: Bosch Internationales Verkehrswesen (63) 6 | 2011 49 bewertung setzt dies der Funktionalität von FAS heute relativ enge Grenzen. Diese Einschränkungen werden uns voraussichtlich noch einige Jahrzehnte an der Einführung des autonomen Fahrens hindern. •• Intuitive Mensch-Maschine-Schnittstelle: Um beim Betrieb von FAS Gefährdungen und Akzeptanzdefizite auszuschließen, sind intuitive Bedienbarkeit und Rückmeldungen der FAS an den Fahrer unabdingbar. Betriebsstatus und Unterstützungsart müssen für den Fahrer jederzeit klar erkennbar und durch ihn gezielt beeinflussbar und übersteuerbar sein. Der Grad der Unterstützung und die gewählten Informationskanäle sind stets so zu wählen, dass sie vom Fahrer jederzeit intuitiv verstanden werden und dem „Unsicherheitsgrad“ der Situationsbewertung angemessen sind. Entwicklungstrends Vordringlichste Aufgabe der System- und Fahrzeugentwickler ist die kontinuierliche Verbesserung der Umgebungssensorik und damit der Situationsbewertung. Die erforderlichen Komponenten und die Fusionsalgorithmen werden weiterentwickelt, um die Funktionsqualität, aber auch die Herstellkosten, weiter zu optimieren. Eine absicherbare Situationsbewertung mit dann verstärkt möglichen autarken Eingriffen - bis hin zur Vision des autonomen Fahrens - erfordert neue technologische Ansätze in der Umgebungssensorik, insbesondere betrift dies die Kommunikation der Fahrzeuge untereinander oder mit der Verkehrs- und Energieinfrastruktur. Die derzeitigen Aktivitäten zur Technologieentwicklung und Standardisierung sind vielfältig. Geeignete Betriebs- und Geschäftsmodelle für die erforderliche Infrastruktur fehlen derzeit aber noch. Ebenso ist hier - vor allem bei sicherheitsrelevanten Systemen - das Problem der Manipulierbarkeit übertragener Daten zu lösen. Mit verbesserter Situationsbewertung wird eine Ausweitung der Funktion auf komplexe, teilweise unstrukturierte Fahrsituationen (etwa Stadtassistenz, Baustellenassistenz) möglich. Damit können FAS gezielt eingesetzt werden, um in solchen Situationen eine Überforderungen des Fahrers zu verhindern. So steigt der mögliche Sicherheitsgewinn durch FAS noch einmal deutlich an. Zunehmend erweiterte und verbesserte Funktionalitäten erfordern einen besseren Zuschnitt der FAS auf den Fahrer. Die Zusatzbelastung des Fahrers durch Bedienung der Systeme muss deutlich geringer sein als die Entlastung durch die Systemfunktionalität. Dazu ist die Fülle der Einzelsysteme für einzelne Funktionen zunehmend zu einer „integralen Fahrerassistenz“ zusammenzufügen. Die Funktionsweise wird damit für den Fahrer logischer und entspricht besser seinen Bedürfnissen. Mit dem Wandel der individuellen Mobilität in Ballungsräumen rücken zunehmend alternative Fahrzeugkonzepte wie Kleinstautos, Scooter und elektrifizierte Fahrräder in den Blickpunkt. Die von Lkw und Pkw bekannten Funktionalitäten werden auf diese Fahrzeugkonzepte übertragen werden. Im Fokus dieser Entwicklung steht dabei zunächst der mögliche Sicherheitsgewinn. Forschungsbedarf •• Fahrer: Um die Unterstützung des Fahrers bezüglich objektiver Wirksamkeit und Fahrerakzeptanz weiter zu optimieren, ist ein deutlich besseres Verständnis der Struktur des Fahrerverhaltens und der subjektiven Wahrnehmung durch den Fahrer notwendig. Dazu sind interdisziplinäre Forschungsvorhaben von Fahrzeugtechnikern mit Psychologen und Verhaltenswissenschaftlern erforderlich. Um dem Fahrer gezielt einzelne Teile der Fahrzeugführung abnehmen zu können, sind klare Strukturierung und eingehende Kenntnis seiner Verhaltensmuster und seines Komfort- und Sicherheitsempfindens zu erforschen. •• Bewertungsgrößen für Wirksamkeit und Akzeptanz: Da die Weiterentwicklung von FAS volkswirtschaftlich weitere Kosten verursachen wird, ist eine wissenschaftlich fundierte Bewertung ihrer Wirksamkeit unabdingbar. Diese muss sich auf den Gewinn an Verkehrssicherheit, Verkehrskapazität, Energieeizienz und Komfort gleichermaßen beziehen. Insbesondere beim Aufbau einer Car-to-Infrastructure-Kommunikation sind öfentliche Investitionen erforderlich, die den wissenschaftlichen Nachweis eines adäquaten gesellschaftlichen Nutzens erfordern. •• Technologische Weiterentwicklung der Schlüsselkomponenten: Sensor- und Kommunikationseinrichtungen im und außerhalb des Fahrzeugs sind so weiterzuentwickeln, dass sie mit ausreichend hochwertiger Funktionalität in der nötigen Stückzahl zu akzeptablen Kosten verfügbar sind. Angesichts der hohen Komplexität solcher Komponenten liegen darin noch einige wissenschaftliche Herausforderungen. Zu allen drei Themenkomplexen werden seit langem an der TU Dresden die nötigen Kompetenzen gebündelt und weiterentwickelt. Zum durch Verkehrstelematik unterstützten energieeizienten Fahren wurden unter federführender Beteiligung des Instituts für Automobiltechnik Dresden - IAD Konsortien aus Herstellern, Zulieferern und Hochschulen gebildet. Die wissenschaftliche Durchleuchtung des Fahrerverhaltens als Regler und Wahrnehmer sowie umfassende Wirksamkeitsbewertungen bezüglich Sicherheit, Verkehrsfluss, Energieeizienz und Komfort sind zentrale Forschungsthemen an der TU Dresden. Angesichts ihrer weiter zunehmenden Bedeutung für die künftige individuelle Mobilität werden diese Forschungsfelder weiter ausgebaut. ɷ Günther Prokop, Prof. Dr.-Ing. Professor für Kraftfahrzeugtechnik am Institut für Automobiltechnik Dresden - IAD, Technische Universität Dresden guenther.prokop@tu-dresden.de Abb: 2: Beim schnellen Einlenken in Kurven hebt die Funktion „Dynamic Wheel Torque Control by Brake“ (DWT-B) das Motormoment an und bremst gleichzeitig das kurveninnere Rad leicht ab. Das Fahrzeug ist dadurch agiler und lässt sich mit geringerem Lenkaufwand schneller und sicherer durch Kurven steuern. Quelle: Bosch