Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2011-0112
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Mehr als nur ein Ziel - nachhaltiger Tourismus
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Thomas Sauter-Servaes
Johanna Kardel
Im Tourismus werden klimaschonende Reiseformen noch überwiegend skeptisch betrachtet. Ihre Nutzung wird nicht positiv, sondern mit Verzicht und Zusatzkosten assoziiert. Dies betrift insbesondere die Mobilität. Ein vom Bundesumweltministerium und Umweltbundesamt gefördertes Projekt des ökologischen Verkehrsclub Deutschland VCD will den umweltfreundlichen Verkehrsträger Schiene zurück ins Alternativenset der Urlaubsreise führen.
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MOBILITÄT Tourismus Internationales Verkehrswesen (63) 6 | 2011 50 Mehr als nur ein Ziel - nachhaltiger Tourismus Im Tourismus werden klimaschonende Reiseformen noch überwiegend skeptisch betrachtet. Ihre Nutzung wird nicht positiv, sondern mit Verzicht und Zusatzkosten assoziiert. Dies betrift insbesondere die Mobilität. Ein vom Bundesumweltministerium und Umweltbundesamt gefördertes Projekt des ökologischen Verkehrsclub Deutschland VCD will den umweltfreundlichen Verkehrsträger Schiene zurück ins Alternativenset der Urlaubsreise führen. K onsumentenbasierte Nachhaltigkeitsstrategien sind bislang vor allem dort erfolgreich, wo sie für die Verbraucher ohne signifikante Verhaltensänderungen kostenneutral realisierbar sind. Der Wechsel des Stromanbieters, der Kauf von Bio-Produkten, mit dem Rad zur Arbeit: Nachhaltigkeit wird gesellschaftlich immer höher bewertet. Im Tourismus werden klimaschonende Reiseformen dagegen immer noch überwiegend skeptisch betrachtet. Ihre Nutzung wird nicht mit positiven Reizen, sondern mit Verzicht und Zusatzkosten assoziiert. In der Urlaubszeit, für viele der Höhepunkt des Jahres, gilt das per se als Ausschlusskriterium. Dies betrift insbesondere die Mobilität: Die Reise ohne eigenes Auto bedeutet den Verzicht auf den gewohnten universellen Problemlöser, das Flugzeug als Sinnbild für Modernität verleiht Reiseerzählungen weiterhin Prestige und Weltläufigkeit. Die Eisenbahn als besonders umweltfreundliche Mobilitätsform wird stattdessen als teuer, unbequem und kompliziert wahrgenommen. Angesichts des Erfolgszwangs bei der Urlaubsreise führt der Widerspruch zwischen den dominierenden Vorstellungen nachhaltigen Reisens und den medial kommunizierten Reise-Traumwelten zu einer geringen Akzeptanz bahngestützter Ferienkonzepte. Touristische Mobilität mit wachsender Klimarelevanz Der Tourismus 1 ist weltweit für rund 5 % der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. 2 Dabei stammen global betrachtet rund drei Viertel aller CO 2 -Emissionen des Tourismus aus dem Verkehr, nur 20 % sind dem Beherbergungssektor zuzuschreiben. 3 Insofern spielt die Wahl des Verkehrsmittels für nachhaltigere Urlaubsformen eine entscheidende Rolle. In den deutschen Verkehrsprognosen weist der Fahrtzweck Urlaub die mit Abstand höchsten Zuwachsraten bei Verkehrsaukommen (+44 % ggü. 2004) und Verkehrsleistung (+41 % ggü. 2004) des gesamten Personenverkehrs bis 2025 auf. Demnach wären Urlaubsreisen 4 für 20 % der Gesamtleistungszunahme bis 2025 verantwortlich. 5 Der Verkehrsträger Schiene als besonders umweltfreundliche Mobilitätsform spielt im Urlaubsverkehr der Deutschen nur eine marginale Rolle. 2010 lag der Anteil bei rund 5 %. Damit hat der Schienenverkehr trotz des stetigen Ausbaus des Hochgeschwindigkeitsnetzes, gestiegener Fahrzeugqualität und verbesserter grenzüberschreitender Verbindungen gegenüber 1999 sogar noch deutlich Marktanteile verloren. 6 Das Flugzeug konnte im deutschen Urlaubsreiseverkehr dagegen in den vergangenen Jahren dramatisch an Bedeutung gewinnen. Während alle anderen Verkehrsmittel im Vergleich zu 1999 Modal-Split- Anteile einbüßten, erhöhte das Flugzeug seinen Anteil um annähernd 10 %. 2009 Foto: life-pr Internationales Verkehrswesen (63) 6 | 2011 51 Abb. 1: Anteile verschiedener Urlaubsbausteine an den touristischen CO 2 -Gesamtemissionen in % für 2005, globale Betrachtung Quelle: UNWTO 2008 nutzten rund 36 % aller Urlaubsreisenden das Flugzeug. Im grenzüberschreitenden Reiseverkehr ist das Flugzeug mit über 50 % mit Abstand der bedeutendste Verkehrsträger. 7 Die ungebrochen steigende Bedeutung des Flugzeugs führt dazu, dass die erfolgreichen CO 2 -Einsparungen in anderen Bereichen zunichte gemacht werden. Dabei ist die besondere Klimawirksamkeit der Luftverkehrsemissionen in großen Flughöhen zu beachten, die im Vergleich zu bodennahen CO 2 -Emissionen mit dem Faktor 3 wirken. 8 Hinzu kommen die geringere Treibstofeizienz von Kurz- und Mittelstreckenflügen gegenüber Langstreckenflügen und der Einsatz kleineren Fluggeräts mit höheren Verbrauchswerten je Sitzplatz. Vor diesem Hintergrund werden Flugreisende im kontinentalen grenzüberschreitenden Verkehr als besonders relevante Zielgruppe für innovative nachhaltige Reiseideen und als ein wichtiger Ansatzpunkt für eine Trendwende betrachtet. Probleme der Bahn im Urlaubsreiseverkehr Die Arbeitshypothese lautet, dass die Bahn im Wesentlichen aus zwei Gründen von den Urlaubern nicht im Verkehrsmittel-Alternativenset berücksichtigt wird. Zum einen ist den Urlaubern der Möglichkeitsraum bei der bahngestützten Urlaubsreise nicht bewusst: Aus Sicht der Urlauber reduzieren sich die Bahneigenschaften auf das Geschwindigkeitsdefizit gegenüber dem Flugzeug und die Flexibilitätseinbuße gegenüber dem Pkw. Dass auch typische Mittelmeerdestinationen sehr gut an das Schienennetz angeschlossen sind und sich im Zug ganz andere Möglichkeiten der Reisezeitnutzbarkeit bieten, wird nicht ausreichend sichtbar. Zum anderen ist die Reise mit dem ungeübten Verkehrsmittel zu kompliziert und unbequem: Sämtliche Detailinformationen stehen den Verbrauchern zwar bereits heute umfangreich zur Verfügung, aber bislang überwiegend isoliert. Notwendige Informationen beispielsweise zu grenzüberschreitenden Bahntarifen, regionalen ÖV-Erreichbarkeiten und -preisen oder adäquaten Unterkünfte sind nur mit hohem Eigenaufwand individuell zu verknüpfen. Auch die Darstellungsform ist häufig wenig ansprechend und richtet sich nicht selten an Spezialisten. Konkrete Angebote für flugzeug- und autofreie Ferien, welche auf die bekannten und gewünschten Destinationen im Mittelstreckensegment (1200 - 2000 km) zugeschnitten sind, sind Mangelware. Projekt ViaDeutschland sucht nach neuen Wegen Kernziel des im April 2011 gestarteten Projekts ViaDeutschland ist die Entwicklung breitenwirksam anschlussfähiger neuer Bilder des nachhaltigen Tourismus: erlebnisreich, einfach zu planen und in jeder Preisklasse verfügbar. Nicht die kulturelle Transformation bisheriger Reiseroutinen soll erreicht werden (diese würde eine ganz andere Projektdimension erfordern), sondern konkrete, leicht nachzuahmende klimafreundliche Reiseideen sollen entworfen und zielgruppenspezifisch kommuniziert werden. Pfiige Urlaubsvorschläge sind das Ziel, die trotz eingebautem Klimaschutzfaktor nicht vollständig von gewohnten Pfaden abweichen und Modell und Impuls für eine Vielzahl ähnlicher Angebote sein können. Ausgewählte Ideen werden von erfahrenen Reisejournalisten getestet und die dabei entstandenen Geschichten im Anschluss öfentlichkeitswirksam in überregionalen Publikumszeitungen und den neuen Medien platziert. Dabei steht die Nachhaltigkeit nicht moralisierend im Vordergrund, sondern stellt ein vorgeschaltetes Auswahlraster dar („embedded sustainability“). Als beispielhaftes Anwendungsfeld zur Veranschaulichung dieses Ansatzes wurde die Substitution von Flugdurch Bahnreisen auf Basis eines Etappenurlaub-Konzepts gewählt: Durch die Implementierung von attraktiven Zwischenzielen wird die Raumüberwindung der Urlaubsreise in bahngerechte Entfernungen aufgeteilt und die An-/ Abreise mit einem neuen Eigenwert aufgeladen. Genutzt wird dabei die Wiederentdeckung des Wegs als Ziel, die sich gegenwärtig im Boom von Kreuz- und Flussfahrten sowie der wachsenden Beliebtheit von Wander- und Radreisen zeigt. Ein Beispiel: Die Relation Köln-Nizza ist mit rund 1200 km nur bedingt für den Pkw- Reiseverkehr attraktiv. Per Flugzeug ist Nizza von Köln direkt aber emissionsintensiv erreichbar. Es gilt also, attraktive umweltfreundlichere Reisewünsche zu wecken, die vom Luftverkehr nicht realisiert werden können. Hierzu ist die attraktive Ausgestaltung des Zwischenstopps zu einem eigenständigen, werthaltigen Baustein des Urlaubs erforderlich. Dieser Urlaubsprolog vor Erreichen des eigentlichen Ferienziels ist durch konkrete Reiseanleitungen zu fördern, die sich mittelfristig in buchbaren Stop-Over-Komplettpaketen inkl. Übernachtung, Aktivitätsangeboten etc. für Freiburg oder Paris widerspiegeln könnten. Der Urlaub beginnt nicht mehr mit der Ankunft in Nizza, sondern beim Einsteigen in den Zug, beim Abendessen im Freiburger Feinschmecker-Hotel Colombi oder spätestens beim Bio-Frühstück in einem der schönsten deutschen Öko-Hotels, dem „Viktoria“ in Freiburg. Das vom Bundesumweltministerium und Umweltbundesamt geförderte VCD-Projekt führt den umweltfreundlichen Verkehrsträger Schiene zurück ins Alternativenset der Urlaubsreise. Attraktive Sommerreiseziele in Distanzsegmenten, die bisher deutlich vom Luftverkehr dominiert wurden, werden durch dieses Konzept wieder mit der Bahn sinnvoll erreichbar. Destinationspräferenzen müssen nicht gebrochen werden, MOBILITÄT Tourismus Internationales Verkehrswesen (63) 6 | 2011 52 um nachhaltigere Reiseangebote zu realisieren. Der Urlauber erlebt den Weg intensiver als Bestandteil der Reise und lässt sich auf ein Zwischenziel ein. Das alte Mobilitätsparadigma der Touristen - schnell ans Thomas Sauter-Servaes, Dr.-Ing. Referent für Nachhaltigen Tourismus, Projektleiter ViaDeutschland Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD) thomas.sauter-servaes@vcd.org Johanna Kardel, B.A. Projektmanagement ViaDeutschland Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD) johanna.kardel@vcd.org LITERATUR BMVBS (Hrsg., 2007): Prognose der deutschlandweiten Verkehrsverflechtungen 2025. FE-Nr. 96.0857/ 2005, München, Freiburg. Im Internet: http: / / www.dlr.de/ cs/ Portaldata/ 10/ Resources/ dokumente/ daten_berichte/ FE_96_857_2005_Verflechtungsprognose_2025_Gesamtbericht_20071114.pdf FUR Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e. V. (Hrsg., 2010): Die 40. Reiseanalyse RA 2010. Erste Ergebnisse ITB 2010. Berlin. Im Internet: http: / / www.fur.de/ fileadmin/ user_upload/ RA_Zentrale_Ergebnisse/ FUR_Reiseanalyse_RA2010_Erste_Ergebnisse.pdf MÄDER, CLAUDIA (2008): Klimawirksamkeit des Luftverkehrs. Publikationen des Umweltbundesamtes. Im Internet: http: / / www.atmosfair.de/ fileadmin/ user_upload/ Medienecke/ Downloadmaterial/ Wissenschaftliche_Berichte/ Umweltbundesamt_Flugverkehr0308.pdf UNWTO/ UNEP (2008): Climate Change and Tourism - Responding to Global Challenges. Madrid, Paris. Im Internet: http: / / www.uneptie.org/ shared/ publications/ pdf/ WEBx0142xPA- ClimateChangeandTourismGlobalChallenges.pdf Abb. 3: Verkehrsaufkommenswachstum vs. Verkehrsleistungswachstum bis 2025 Quelle: BMVBS 2007 Ziel und schnell zurück - wird aufgebrochen. Das Projekt entwirft Vorschläge, die vom Verbraucher einfach nachempfunden werden können und sich im imageträchtigen Tourismusgeschäft über Qualität, Erzählwert und Lebensstil positionieren. So werden langfristig neue Destinationen und nachhaltigere Urlaubsformen ins Sichtfeld der Reisenden gerückt. Urlaub gilt als die schönste Zeit des Jahres. Der Absicherung des Erlebniswerts des Urlaubs kommt daher beim Verbraucher eine große Bedeutung zu. Insofern ist es von hoher Wichtigkeit, erprobte Reiselösungen zu präsentieren und damit die Einstiegshürde so niedrig wie möglich zu halten. Die in diesem Vorhaben geplante professionelle Darstellung von Best-Practice-Routen und die Beteiligung möglichst vieler Leistungsträger bei Paketangeboten und Marketingaktionen vermitteln nicht nur eine dokumentierte Grundsicherheit im Vergleich zu eigenhändig zusammengestellten Varianten, sondern erzielen auch die bislang fehlende Sichtbarkeit im Markt. Mitte Oktober wurde der Online-Reiseführer ViaDeutschland.de oiziell gestartet. In der ersten Ausbaustufe werden insbesondere Italienurlaubern erlebnisreiche Zwischenaufenthalte in Basel, München und Zürich vorgestellt. In den kommenden Monaten folgt die Präsentation von Stop-Over-Gestaltungsideen für Reisende Richtung Frankreich, Skandinavien und Polen. Der VCD dankt dem Umweltbundesamt und dem Bundesumweltministerium für die intensive Unterstützung und finanzielle Förderung des Projekts ViaDeutschland. ɷ 1 Die UNWTO definiert Tourismus als „[…] the activities of persons travelling to and staying in places outside their usual environment for not more than one consecutive year for leisure, business and other purposes not related to the exercise of an activity remunerated from within the place visited‘, thus including international and domestic tourism, overnight and same-day trips, for all purposes of visit (leisure, business, and other)“ [UNWTO 2008, S. 107] 2 Vgl. ebd., S. 13 3 Vgl. ebd., S. 34 4 Urlaubsverkehr beinhaltet private Reisen zu touristischen Zwecken mit einer Mindestreisedauer von fünf Tagen [vgl. BMVBS 2007, S. 96] 5 Vgl. BMVWS 2007, S. 9 6 Vgl. FUR 2010, S. 5 7 Vgl. ebd. 8 Mäder 2008, S. 3 Abb. 2: Klimawirkung der Reise Köln-Nizza, CO 2 -Emission pro Person und Reise (Hin- und Rückfahrt) in kg Quellen: Umweltmobil-Check DB AG (Auto/ Bahn/ Flug), atmosfair Emissionsrechner (Flug, Kühlschrank) * Emissionswert laut atmosfair für alle Emissionen umgerechnet auf die derzeitige Erwärmungswirkung der entsprechenden Menge an CO 2 -Emissionen inkl. RFI-Multiplikator von 2,7 ** Mittelklasse-PKW mit Otto-Motor EURO 4; Fahrzeugauslastung: 3 Personen *** Kühlschrank-Jahresemission bei durchschnittlichem Strommix
