Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0015
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Sind Mobilitätspakete für Neubürger sinnvoll?
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Sandra Wappelhorst
Beratungs- und Informationsangebote über alternative Mobilitätsdienstleistungen zum Auto stellen eine wichtige Maßnahme zur Sicherstellung einer umweltverträglichen und energieeffizienten Mobilität dar. Insbesondere die Bereitstellung von Mobilitätspaketen für Neubürger ist eine von vielen vielversprechenden und innovativen Maßnahmen, um den motorisierten Individualverkehr auf städtischer und regionaler Ebene vermehrt auf den Umweltverbund zu verlagern.
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MoBIlItÄt Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (64) 1 | 2012 46 D er motorisierte Individualverkehr (MIV) trägt maßgeblich zu den zunehmenden Verkehrsproblemen in Stadt und Region bei. Ein Beleg hierfür ist der in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich wachsende Motorisierungsgrad (Pkw-Dichte je 1 000 Einwohner) als ein Indikator für die individuelle Mobilität. Räumlich betrachtet ist die Pkw-Dichte im unmittelbaren Umland der größeren Städte sowie im ländlichen Raum am höchsten. Grund hierfür ist die geringere Arbeitsplatzdichte und das schlechtere Angebot im öfentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) [vgl. BBSR 2011]. Um der wachsenden privaten Motorisierung entgegenzuwirken, wird von Seiten der Städte und Gemeinden eine Bandbreite von Strategien zur Verkehrsvermeidung, Verkehrsminderung bzw. -reduzierung, Verkehrsverlagerung sowie zur verträglichen Abwicklung des notwendigen und nicht verlagerbaren Verkehrs verfolgt. In der Regel kommt ein Maßnahmenmix aus siedlungsstrukturellen, technischen, inanziellen, ordnungspolitischen, organisatorischen und informatorischen Maßnahmen zum Einsatz, um bestmöglich den zunehmenden städtischen und regionalen Verkehrsproblemen zu begegnen. Um die Erfolge dieser Maßnahmen zu erhöhen, werden häuig zielgruppenspeziische Ansätze eingesetzt. Eine erfolgversprechende und innovative Maßnahme sind in diesem Zusammenhang Mobilitätspakete für Neubürger. So zeigt die Forschungs- und Planungspraxis, dass beispielsweise eine Kontextveränderung wie ein Umzug gewohnheitsmäßige Mobilitätsmuster aubricht. Die Bereitstellung von Informationen in Form von Mobilitätspakten mit Informationen über alternative Verkehrsmittel zum Auto kann in dieser Umbruchsituation einen Einluss auf das individuelle Mobilitätsverhalten und damit auf eine umweltfreundliche Verkehrsmittelwahl haben [vgl. Bamberg/ Farrokhikhiavi 2009; Verplanken et al. 2008]. Derartige Mobilitätspakete für Neubürger wurden bereits erfolgreich in großen Städten wie München oder Frankfurt/ Main vor allem von Seiten der Stadtverwaltungen und Verkehrsunternehmen getestet und implementiert [vgl. Bamberg/ Farrokhikhiavi 2009]. So zeigt beispielsweise die Evaluation des Münchner Neubürgerpakets, dass direkter Kundenkontakt und die Bereitstellung von Informationen über alternative Verkehrsmittel zu einer Reduktion der Autonutzung um 3,3 % und einem Anstieg der ÖPNV-Nutzung um 7,6 % führt [vgl. u. a. Schreiner 2009]. Allerdings belegen Literaturauswertungen und eigene Untersuchungen [vgl. Wappelhorst 2006a; 2006b], dass sich aus räumlicher Sicht die Aktivitäten auf die größeren Sind Mobilitätspakete für Neubürger sinnvoll? Beratungs- und Informationsangebote über alternative Mobilitätsdienstleistungen zum Auto stellen eine wichtige Maßnahme zur Sicherstellung einer umweltverträglichen und energieeizienten Mobilität dar. Insbesondere die Bereitstellung von Mobilitätspaketen für Neubürger ist eine von vielen vielversprechenden und innovativen Maßnahmen, um den motorisierten Individualverkehr auf städtischer und regionaler Ebene vermehrt auf den Umweltverbund zu verlagern. Die Autorin: Sandra Wappelhorst Abb. 1: Großräumige Lage der Untersuchungsgemeinden Ottobrunn und Unterhaching Internationales Verkehrswesen (64) 1 | 2012 47 MoBIlItÄt Wissenschaft inwieweit Maßnahmen zur Behebung dieser Probleme notwendig sind. Darüber hinaus wurde der Wunsch zur Einführung von Neubürgerpaketen abgefragt sowie dessen Wirksamkeit in Bezug auf das eigene Mobilitätsverhalten. einschätzung von Verkehrsproblemen und Notwendigkeit beschränkender Maßnahmen Grundsätzlich können innovative Maßnahmen zur Förderung einer umweltverträglichen Mobilität erst dann greifen und damit langfristig einen Beitrag zur Bewältigung des städtischen und regionalen Verkehrswachstums leisten, wenn auf individueller Ebene die Notwendigkeit erkannt wird, sein eigenes Verkehrsverhalten aufgrund bestehender bzw. erkannter Verkehrsprobleme zu verändern. Deshalb wurden die Befragten zunächst gebeten, die Verkehrsprobleme, die durch den Kfz- Verkehr verursacht werden, zu beurteilen. Die Ergebnisse zeigen, dass von den Befragten die durch den Autoverkehr verursachten Verkehrsprobleme in der Landeshauptstadt München am größten eingeschätzt werden, im Mittel werden sie als „groß“ eingestuft. Im Vergleich dazu wird die Situation auf regionaler Ebene und in der Gemeinde Ottobrunn weniger schlecht beurteilt („teils/ teils“). Die geringsten Verkehrsprobleme sehen die Interviewteilnehmer in der Gemeinde Unterhaching (vgl. Abbildung-2). Die Ergebnisse zur Einschätzung der Verkehrsprobleme spiegeln sich auch in der Notwendigkeit beschränkender Maßnahmen wider: Der größte Handlungsbedarf wird in der Landeshauptstadt München gesehen, was vor dem Hintergrund der als „groß“ angesehenen Verkehrsprobleme nicht erstaunt. Auf Regions- und Gemeindeebene sind sich alle Befragten einig: Hier sind beschränkende Maßnahmen „eher nicht notwendig“ (vgl. Abbildung-3). Für die Umsetzung innovativer Mobilitätsdienstleistungen bedeuten die Ergebnisse folgendes: werden Verkehrsprobleme nicht als „groß“ wahr- Städte konzentrieren und weniger auf deren Umlandbereiche mit vergleichsweise höheren Pkw- Dichten und höherer individueller Autonutzung. Vor diesem Hintergrund ist es von Interesse, das Potenzial von Mobilitätspaketen für Neubürger in suburbanen Räumen zu untersuchen, um die positiven Verlagerungsefekte von den größeren Städten auf die regionale Ebene zu übertragen. abschätzung des Nachfragepotenzials Da es bisher an Mobilitätspaketen für Neubürger im Umland der größeren Städte mangelt und Erfahrungen bezüglich der Erfolge weitestgehend fehlen, ist eine Prognose von Nachfrage und Akzeptanz der Maßnahme zunächst schwierig. Deshalb wurde eine Befragung von Neubürgern in zwei Umlandgemeinden der Landeshauptstadt München durchgeführt, um das Potenzial eines Mobilitätspakets für Neubürger in suburbanen Räumen abzuschätzen [vgl. Wappelhorst 2011]. Als Zielgruppe wurden Bürger befragt, die kürzlich über eine Gemeindegrenze hinweg in die Untersuchungsgemeinden gezogen waren (im Folgenden als Neubürger bezeichnet) und 18- Jahre und älter waren. Als Untersuchungsräume wurden die Gemeinden Ottobrunn und Unterhaching ausgewählt, die sich etwa 10 km südöstlich vom Zentrum der Landeshauptstadt München beinden und in direkter Nachbarschaft zur Stadtgrenze Münchens liegen (vgl. Abbildung- 1). Beide Gemeinden sind gut an das leistungsfähige Schienennetz angebunden und verfügen jeweils über eine S-Bahn-Haltestelle auf ihrem Gemeindegebiet. Die Auswahl der Gemeinden erfolgte vor allem aufgrund der vergleichsweise hohen jährlichen absoluten Zuzugszahlen, um eine ausreichend große Stichprobe für die Untersuchung zu generieren. Um das Potenzial von Mobilitätspaketen für Neubürger zu evaluieren, war es darüber hinaus wichtig, dass die Gemeinden über gute alternative Mobilitätsangebote zum Auto verfügen. Insgesamt wurden 40- Face-to-face-Tiefeninterviews durchgeführt. Da von den Gemeinden aus Datenschutzgründen keine Adressen zur Verfügung gestellt werden konnten, wurde bei den Einwohnermeldeämtern ein Informationsblatt zur Untersuchung hinterlegt, in dem die Neubürger bei Interesse ihre Adresse eintragen konnten. Pro Haushalt wurde eine Person interviewt und zwar diejenige, die ihren Namen in dem Informationsblatt eingetragen hatte. Auch wenn die Befragten nicht zufällig ausgewählt wurden und damit die Studie nicht repräsentativ ist, lassen die Ergebnisse wichtige Trendaussagen zum Potenzial innovativer Mobilitätsdienstleistungen im Allgemeinen und Mobilitätspaketen für Neubürger im Speziellen zu. Ein wichtiges Ziel der Studie war es, das Potenzial von Mobilitätspaketen aus Nutzersicht zu untersuchen. Dazu mussten die Neubürger zunächst die Probleme einschätzen, die durch den Kfz-Verkehr verursacht werden und beurteilen, Abb. 2: Einschätzung der durch den Kfz-Verkehr verursachten Verkehrsprobleme MoBIlItÄt Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (64) 1 | 2012 48 nicht mit direkten Kosten bzw. Restriktionen für den einzelnen Verkehrsteilnehmer verbunden ist. Generell drückt sich die positive Resonanz auch in den Anmerkungen der Befragten aus. So wird beispielsweise die Bereitstellung von Informationen über Mobilitätsalternativen zum Pkw als ein motivierender Faktor eingeschätzt. Beeinflussung der persönlichen Verkehrsmittelnutzung Neben dem Potenzial der Maßnahme selbst war es ebenfalls von Interesse, das Potenzial dieser Maßnahme auf die persönliche Verkehrsmittelnutzung abzuschätzen. So sind 30 % der Befragten davon überzeugt, dass ein Mobilitätspaket für Neubürger einen Einluss auf ihre persönliche Verkehrsmittelnutzung hätte (vgl. Abbildung- 5). Sie gehen davon aus, dass ein Neubürgerpaket nützlich wäre und dass Informationen über alternative Verkehrsmittel ihnen helfen würden, häuiger alternative Verkehrsmittel zum Pkw zu nutzen. 10 % der Personen sind sich unschlüssig, allerdings sind auch sie der Meinung, dass ein Neubürgerpaket ein nützliches Instrument wäre, sind aber unsicher, ob die Maßnahme allein sie dazu veranlassen würde, öfter umweltfreundliche Verkehrsmittel zu nutzen. 60 % der Interviewteilnehmer sind davon überzeugt, dass ein Neubürgerpaket keinen Einluss auf ihre persönliche Verkehrsmittelnutzung hätte. 8 % dieser Personen geben Sachzwänge an, 20 % kritisieren die Leistungsmerkmale des ÖPNV und 5 % sind bereits regelmäßige Nutzer alternativer Verkehrsmittel. 18 % der Befragungsteilnehmer geben an, dass sie bereits genügend Informationen haben und 10 % informieren sich bei Bedarf vorzugsweise selber. Die Anmerkungen der Befragten machen deutlich, wie unterschiedlich der jeweilige persönliche Handlungskontext ist, der wiederum Auswirkungen auf die Verkehrsmittelwahl hat. Die befragten Neubürger lassen sich grob unterteilen nach ihrem Interesse und ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber Mobilitätsinformationen, dem Grad der Informiertheit, der Ausübung umweltbewussten Mobilitätsverhaltens oder Sachzwängen, die gegen eine Nutzung alternativer Mobilitätsangebote sprechen. Die Aussagen sind bereits ein Indikator dafür, inwieweit Mobilitätsinformationen im Hinblick auf die Maßnahme selbst Erfolg haben würden und inwieweit eine Veränderung des Modal Split potenziell möglich wäre. Interessant sind für weitere Betrachtungen vor allem die Neubürger, die neben den Befürwortern bzw. Unschlüssigen lediglich subjektive Gründe anführen, warum sie keinen Einluss auf ihre persönliche Verkehrsmittelnutzung sehen (bequeme Kritiker). D. h. bei 60 % der Befragten besteht das Potenzial einer Verhaltensänderung in Richtung umweltverträglicher Verkehrsmittel durch eine bessere Informationsbereitstellung, beispielsweise in Form von Mobilitätspaketen. genommen, so wird i. d. R. auch aus Nutzersicht nicht die Handlungsnotwendigkeit gesehen, das persönliche Verkehrsverhalten zu verändern. Auch kann davon ausgegangen werden, dass die Akzeptanz von Maßnahmen zur Behebung nicht wahrgenommener Verkehrsprobleme abnimmt. Für die Einführung von Mobilitätsdienstleistungen wie Mobilitätspakete für Neubürger bedeuten die Ergebnisse, dass zunächst eine Sensibilisierung bezüglich des gemeindlichen und regionalen Verkehrswachstums und seiner Folgen notwendig ist. Potenzial von Mobilitätspaketen für Neubürger Das Potenzial von Mobilitätspaketen für Neubürger aus Nutzersicht lässt sich unter anderem anhand des Wunsches zu dessen Einführung abschätzen. Die Ergebnisse der Neubürgerbefragung zeigen, dass sich 85 % der Interviewteilnehmer diese Maßnahme „sehr wünschen“ bzw. „wünschen“ (vgl. Abbildung-4). 10 % sind sich unschlüssig und 5 % geben an, dass sie sich die Einführung dieser Maßnahme „nicht wünschen“. Dieses insgesamt positive Ergebnis überrascht nicht, da es sich um eine Maßnahme handelt, die Abb. 3: Notwendigkeit von Maßnahmen zur Beschränkung des Kfz-Verkehrs Abb. 4: Wunsch zur Einführung eines Mobilitätspakets für Neubürger Internationales Verkehrswesen (64) 1 | 2012 49 MoBIlItÄt Wissenschaft Fazit und ausblick Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass ein Nachfragepotenzial bezogen auf ein Mobilitätspaket für Neubürger aus Nutzersicht besteht. Das Potenzial dieser Maßnahme zur Beeinlussung des persönlichen Verkehrsverhaltens wird von einem Teil der befragten Neubürger gesehen. Allerdings besteht hier noch weiterer Bedarf einer intensiven Öfentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung in den Umlandgemeinden hinsichtlich der zunehmenden Verkehrsprobleme und damit die Notwendigkeit zur Umsetzung innovativer Mobilitätsdienstleistungen im Allgemeinen und einem Neubürgerpaket im Speziellen. Daneben sei erwähnt, dass neben einer Sensibilisierung der Nutzer auch eine Sensibilisierung und die Zusammenarbeit weiterer Akteure aus Politik, Wirtschaft und öfentlichem Bereich notwendig sind. Erst dann kann das Potenzial eines Neubürgerpakets außerhalb der größeren Städte voll ausgeschöpft und erfolgreich von den Städten und Gemeinden in Kooperation mit den relevanten Akteuren umgesetzt werden. Für die Zukunft gilt es, diese Maßnahme in den suburbanen Räumen zu testen, implementieren und die Erfolge zu evaluieren, um langfristig eine lächendeckende Einführung von Mobilitätspaketen für Neubürger zu gewährleisten und damit einen Beitrag für eine umweltverträgliche und energieeiziente Mobilität im regionalen Kontext zu leisten. ɷ Abb. 5: Einluss eines Mobilitätspakets für Neubürger auf die persönliche Verkehrsmittelnutzung Sandra Wappelhorst, Dr.-Ing. Universität der Bundeswehr München Institut für Verkehrswesen und Raumplanung sandra.wappelhorst@unibw.de Literatur BAMBERG, S., FARROKHIKHIAVI, R. (2009). „Breaking Habitualised Car Use with a “Soft-Policy” Measure? - Efects of a Dialogue Marketing Campaign on New Citizen’s Daily Mobility.” Noordwijkerhout, Niederlande Bayerische Vermessungsverwaltung (2011): „Topographische Übersichtskarte 1: 500.000.“ http: / / geoportal.bayern.de/ geomis/ ? atlas. 30.10.2011 BBSR (2011). „Pkw-Dichte - Laufende Raumbeobachtung.“ Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. http: / / www.bbsr.bund.de/ cln_032/ nn_85600/ SharedDocs/ GlossarEntry/ P/ pkwdichte.html. 30.10.2011 SCHREINER, M. (2009). „Multimodales Marketing für eine nachhaltige Mobilitätskultur“. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. „Urbane Mobilität.“ 397-414 VERPLANKEN, B., WALKER, I., DAVIS, A., JURASEK, M. (2008). „Context Change and Travel Mode Choice: Combing the Habit Discontinuity and Self-Activation Hypotheses.” Journal of Environmental Psychology 9/ 2008: 15-26 WAPPELHORST, S. (2006a). „Mobilitätsmarketing für Neubürger - Aktivitäten in den Metropolregionen Deutschlands. Ergebnisse einer Befragung regionaler Planungsstellen.“ Studien zur Raumplanung und Projektentwicklung. Heft 1. Neubiberg WAPPELHORST, S. (2006b). „Mobilitätsmarketing für Neubürger - Aktivitäten in den Metropolregionen Deutschlands. Ergebnisse einer Befragung von Verkehrsverbünden und Verkehrsunternehmen.“ Studien zur Raumplanung und Projektentwicklung. Heft 3. Neubiberg WAPPELHORST, S. (2011). Mobilitätsmanagement in Metropolregionen - Förderung umweltverträglicher Verkehrsmittel durch Mobilitätsmarketing für Neubürger, Saarbrücken
