eJournals Internationales Verkehrswesen 64/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0020
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2012
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Indien erfahren

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2012
Stefan Hinrichs
Indien geht bei der Bewältigung der Folgen des schnellen ökonomischen Wachstums sehr mutige Schritte. Durch Ausnutzung aller kapazitiven Möglichkeiten bei den Fahrzeugen und der Straßeninfrastruktur wird der „Verkehr“ überhaupt machbar. Die Anwendung europäischer Bau- und Sicherheitsstandards würde Indien immense wirtschaftliche Nachteile bringen.
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INFraStrUKtUr Straßenverkehr Indien Internationales Verkehrswesen (64) 1 | 2012 61 Indien erfahren Indien geht bei der Bewältigung der Folgen des schnellen ökonomischen Wachstums sehr mutige Schritte. Durch Ausnutzung aller kapazitiven Möglichkeiten bei den Fahrzeugen und der Straßeninfrastruktur wird der „Verkehr“ überhaupt machbar. Die Anwendung europäischer Bau- und Sicherheitsstandards würde Indien immense wirtschaftliche Nachteile bringen. V orab ein paar Zahlen im Vergleich zu Deutschland: Indien ist mit 3,3- Mio.- km 2 über neunmal so groß und hat mit ca. 1,21-Mrd. Einwohner fast 15mal so viele Einwohner. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes (Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 2002 bis 2010 zwischen 5 und 10 %) 1 spiegelt sich in der Entwicklung des Straßenverkehrs wider. ƀǁ Wachstum der registrierten Kraftfahrzeuge im Zeitraum 2001 - 2006 2 jährlich 10 % (Bestand 2006: 89,6- Mio. Kfz - Deutschland: 54,9-Mio. Kfz 3 ) ƀǁ Anteile 2006: Zweiräder: 72,2 %; Pkw: 12,9 % (Deutschland: Zweiräder 10,4 %; Pkw: 83,9 %) ƀǁ Länge des gesamten (erfassten) Straßennetzes (Stand: 2008 außer National Highways 2010) 4 : länge in km davon befestigt National Highways 70 934 100 % State Highways 154 522 99 % Other Public Works Department (PWD)-Roads 863 241 83 % Rural Roads 2 577 396 34 % Urban Roads 574 516 50 % Gesamt 4 240 609 49 % entwicklung und organisation des Straßenverkehrs In den Jahren 1988 und 1989 wurde das Ministerium für Straßentransport und Schnellstraßen (MORTH) damit beauftragt, den Bau und die Erhaltung des Schnellstraßensystems voranzutreiben und die Fahrzeugtechnik umweltorientiert auszubauen. Ziel war es, einen ganzheitlichen Politikansatz zu entwickeln, um die rasanten Steigerungen im Verkehrswachstum bewältigen zu können. 5 Als Ergebnis dieses Auftrages wurde das „National Highways Development Project (NHDP)“ konzipiert. Mit der Umsetzung des NHDP wurde die neu gegründete Behörde „Highway Authority of India (NHAI)“ Abb. 1: Preistafel der Build, Operate,Transfer-(BOT)-Projekte beauftragt. Dieses Programm umfasst sieben Phasen. In Phase- I sollen die Straßenverbindungen zwischen den vier Städten Neu Delhi, Mumbai, Chennai und Kolkatta (das „Goldene Viereck“) von vier auf sechs Fahrstreifen ausgebaut werden (5846 km). Weitere 7142 km der wichtigsten Nord-Süd- und Ost-West-Verbindungen sollen ebenfalls erweitert werden. In der Phase III werden über 5000 km der National Highways im Rahmen von Build, Operate, Transfer- (BOT)-Projekten auf zwei Fahrstreifen ausgebaut und ertüchtigt. Phase V umfasst die Erweiterung von 6500 km National Highways auf sechs Fahrspuren einschließlich 5700 km des „Goldenen Vierecks“. 1000 km Hochgeschwindigkeitsstrecken sollen in Phase- VI erstellt werden. In Phase- VII sollen Ortsumgehungen und Streckenanschlüsse umgesetzt werden. Abschluss des gesamten Projekts ist für 2015 geplant. 6 Finanzierung Traditionell wurden die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur durch den Staat steuerinanziert. Gründe waren die lange Planungs- und Bauzeit sowie die unsicheren Einnahmen. Der stark gestiegene Bedarf an Verkehrsinfrastruktur, die Notwendigkeit einer Erhöhung der Eizienz beim Bauen und die Erhöhung der Konsumentenverantwortung führten zu einer umfangreichen Integration der Privatinanzierungsmodelle in die staatlichen Ausbauprogramme. Die gesamten Ausgaben des MORTH haben sich in den Jahren 1999 bis 2010 von 470 Mio. EUR auf 4,7 Mrd. EUR verzehnfacht. 7 Um die Privatinanzierung voran zu treiben, wurden Steuererleichterungen und die zollfreie Einfuhr von Straßenbaumaschinen- und -einrichtungen ermöglicht. Ziel ist es, dass der Großteil der Projekte in den Phasen-III bis VII entweder nach dem BOT-Modell auf Mautbasis oder auf Annuitätenbasis inanziert wird. 8 BOT-Projekte auf Mautbasis Bis 2009 sind 94 Projekte (69- NHAI und 25- MORTH) mit einem Gesamtwert von 6,4 Mrd. EUR vergeben worden. Von diesen sind 43 Projekte (18-NHAI und 25-MORTH) fertiggestellt und 51 im Bau. BOT-Projekte auf Annuitätenbasis 25 BOT-Projekte auf Annuitätenbasis umfassen eine Strecke von 1376 km. Davon sind Der Autor: Stefan Hinrichs INFraStrUKtUr Straßenverkehr Indien Internationales Verkehrswesen (64) 1 | 2012 62 Abb. 2: Überholmanöver Abb. 3: Werkstatt auf der Straße bereits 561 km (9 Projekte) fertig gestellt 9 . Die Zentralregierung hat zur Finanzierung der weiterhin öfentlich zu inanzierenden Straßen im Jahr 2000 einen Fonds eingerichtet (Central Road Fund - CRF). Zwei Rupien (ca. 3,3- Cent) pro Liter Treibstof ließen zweckgebunden in diesen Fonds, um den Neubau und die Erhaltung der National Highways und State Highways sowie Schienenkreuzungen zu inanzieren. 10 Im Zeitraum April 2009 - März 2010 wurden im CRF ca. 1,5 Mrd. EUR eingenommen und im entsprechenden Umfang Investitionen in die Straßeninfrastruktur getätigt 11 . In einem weiteren Fonds werden die Einnahmen für die Benutzung der öfentlich betriebenen Mautbrücken gesammelt (ca. 15 Mio. EUR im Jahr 2009). Im Rahmen der BOT-Projekte ist landesweit eine Preishöhe pro Kilometer je Fahrzeugart gesetzlich vorgegeben. Abbildung- 1 zeigt ein Beispiel. Für Brücken und Tunnel gibt es ebenfalls gesetzliche Höchstgrenzen. Diese beschreiben die Preishöhe pro Fahrt je Fahrzeugart in Abhängigkeit von den Baukosten der Ingenieurbauwerke. 12 Insgesamt wurden 2010 rd. 235 Mio. EUR an direkter Maut eingenommen. Verkehrsregeln Es gibt Verkehrsregeln, nur hält sich keiner daran. Im September 2009 wurde eine Kommission mit Vertretern von Parlament und Verwaltung eingerichtet, die den „Motor Vehicle Act 1988“ überprüfen und Verbesserungsvorschläge entwickeln sollte. Der entsprechende Abschlussbericht inkl. Neufassung des Gesetzes wurde im Januar 2011 vorgelegt. 13 Dieses Gesetz umfasst sehr viele Inhalte, die der deutschen Straßenverkehrsordnung entsprechen. Von der Notwendigkeit von Führerscheinen über die Verplichtung zur Registrierung der Kfz und die Einrichtung von Verkehrskontrollen bis hin zu einem Bußgeldkatalog für Verkehrsvergehen ist alles „geregelt“. Die Realität sieht jedoch anders aus. Verkehrsregeln und deren Einhaltung sind zumindest für Europäer nicht erkennbar. Jeder Platz zum Überholen und Reparieren wird von jedem Fahrzeugtyp genutzt. Stillstand oder Sicherheitsabstände gibt es nicht, jeder versucht entsprechend der Kfz- Größe so schnell wie möglich voranzukommen. Als Grundregel gilt: Je mehr Räder und je größer und je besser die Qualität des Fahrzeugs, desto schneller kommt man voran. Dieses „Vorrecht“ wird von allen anerkannt - Ausnahme: Kühe und Wasserbüfel. Diese „Zufallselemente“ bringen jeden zur Verzweilung, der meint, das indische Straßenverkehrsverhalten verstanden zu haben. In Abbildung-2 ist eine Verkehrssituation aus dem fahrenden Bus aufgenommen worden: Ein überholender Pkw, der keine Sicht auf den Gegenverkehr hatte, überholt den Bus sowie ein weiteres Fahrzeug. Der Versuch, gleichzeitig den langsamen Lkw (natürlich in der Kurve) zu überholen, scheitert, da drei Wasserbüfel auf der entgegengesetzten Fahrspur vorangetrieben werden. Zur Verschärfung der Situation kommt dann auch noch ein Lkw entgegen. Diese Situationen sind für indische Verkehrsverhältnisse normal, da sie mit der Hupe angekündigt werden. Dem überholenden Pkw-Fahrer wird hier selbstverständlich das Einfädeln ermöglicht - in Deutschland undenkbar. Erstaunlich ist auch, dass überall Fahrzeuge bis hin zum schweren Lkw neben oder auf der Straße repariert werden. Werkstätten scheinen nicht vorhanden zu sein. Da die Rundumerneuerung von Autoreifen unbegrenzt oft durchgeführt werden kann, ist die Anzahl der Reifenpannen sehr hoch, obwohl die Durchschnittsgeschwindigkeit deutlich geringer ist als in Deutschland. Abbildung- 3 zeigt einen solchen Reifenwechsel. Kapazitätsauslastung Besonders faszinierend ist zu sehen, wie eizient alle Fahrzeuge und Fahrwege ausgelastet werden. Egal, ob Personen- oder Last-Rikschas, Omnibusse oder Schwertransporter, alles wird maximal genutzt. Für die hier dargestellten Transporte von acht Schulkindern (Abbildung- 4) oder 4 m 3 Wolle (Abbildung- 5) wären in Europa Internationales Verkehrswesen (64) 1 | 2012 63 Kleintransporter mit dem entsprechenden Platzverbrauch auf der Straße notwendig. Hinzu kommt in Indien noch der Grundsatz „In lane driving is insane driving“, soll heißen: In der Fahrspur fahren ist ungesund! Das führt insbesondere in Großstädten dazu, dass dreispurige Highways von sechs nebeneinander fahrenden Fahrzeugen genutzt werden. Wenn möglich, wird rechts und links überholt - der Überholende muss nur hupen! Interessanterweise wurden die kapazitiven Efekte dieser inhomogenen Fahrbahnnutzung bereits 2006 mit dem Ergebnis untersucht, dass es zu einer besseren Ausnutzung kommt. So wurde die theoretisch berechnete Kapazität von sechsspurigen Straßen (drei pro Richtung) um 48 % im praktischen Verkehr gesteigert. Hierdurch gibt es in Indien eine Diskussion über den Nutzen von Fahrbahnmarkierungen! 14 Über die Verkehrsleistungen auf den Straßen sind keine verlässlichen Zahlen aktuellen Datums verfügbar. Es indet sich jedoch für das Jahr 2005 die Aussage, dass 60 % des Güterverkehrs und 87 % des Personenverkehrs auf der Straße durchgeführt wurden. 40 % des gesamten Verkehrs wird auf den National Highways (1,7 % aller Straßen) getätigt. 15 Sicherheit Die Abbildungen- 6, 7 und 8 zeigen die typischen „Symptome“ der hohen Kapazitätsauslastung der Fahrzeuge. Auf den Omnibusdächern fahren Personen mit, die Besetzung der Motorräder umfasst teilweise bis zu fünf Personen (drei Kinder und Eltern) und die Lkw werden bis zum Äußersten beladen. Gemischte Verkehre sind auf jeder Straßenart üblich (Abbildung- 9). Wie wirken sich solche Verhältnisse auf die Verkehrssicherheit aus? Die aktuellsten Zahlen liegen für 2008 vor: Indien 16 deutschland 17 Unfälle 484 704 395 500 Getötete 119 860 4 477 Verletzte 523 193 409 000 Bezogen auf den Fahrzeugbestand gibt es eine Korrelation bei der Anzahl der Unfälle und den Verletzten. Da in Indien viele Unfälle, insbesondere bei „Blechschäden“ nicht gemeldet werden (ein Haftplichtversicherungssystem ist nicht vorhanden), ist hier von einer hohen Dunkelzifer auszugehen. Ein deutlicher Unterschied ist bei den Getöteten festzustellen. Fast 120 000 Personen sind im Straßenverkehr umgekommen. Um diese hohe Zahl zu reduzieren, werden eine „Imagekampagne“ und „Ideenwettbewerbe“ vom MORTH durchgeführt. 18 Die Wirkung bleibt abzuwarten. Fazit Durch Ausnutzung aller kapazitiven Möglichkeiten sowohl bei den Fahrzeugen und bei der Straßeninfrastruktur wird der „Verkehr“ in Indien überhaupt machbar. Die Anwendung europäischer Bau- und Sicherheitsstandards würde Indien immense wirtschaftliche Nachteile bringen. Auch in der Finanzierung von Straßenbauinvestitionen geht Indien viele verschiedene Wege einschließlich der umfassenden Anwendung von Privatinanzierungsmodellen und der Zweckbindung von Steuereinnahmen. Auf dem Gebiet der Verkehrssicherheit muss die hohe Anzahl der Getöteten reduziert werden. Hier gilt es, angemessene Maßnahmen zu inden und umzusetzen. ɷ Abb. 4: Schüler-Rikscha Abb. 6: Dachpassagiere auf einem Omnibus Abb. 5: Lasten-Rikscha Abb. 7: Familienmotorrad