eJournals Internationales Verkehrswesen 64/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0026
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2012
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Lasten ziehen ohne Achsen

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2012
Bernd H. Kortschak
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SerVICe Kuriosa Internationales Verkehrswesen (64) 1 | 2012 78 Lasten ziehen ohne Achsen B ei der Eisenbahn läuft das Rad auf dem Schienenkopf und wird von ihm geführt. In der Regel sind dafür bei der Bahn Rad und Achse fest miteinander verbunden. Die Achse und die beiden starr mit ihr verbundenen Räder bilden den Radsatz. Dieser Radsatz zentriert sich zufolge der kegelförmigen Laulächen und der Neigung der Schienen selbst, wenn die Welle senkrecht zu den Schienen gehalten wird, idealerweise würde er „Sinus“ laufen. Was haben der ULF von Siemens und die Mulas in Panama gemeinsam? Gibt es nun keine Achsen, muss diese wichtige Funktion der Achse nachgebildet werden, um einen ungestörten Richtungslauf des Rads zu gewährleisten. „Beim ULF wird das fehlende Wendemoment der Achse elektrisch durch die Steuerung der Einzelradantriebe nachgeahmt. Die Antriebsmotoren der rechten und die Motoren der linken Wagenseite sind an je einen IGBT-Antriebsumrichter des Fahrzeugs geschaltet. Die Regelungen dieser Umrichter werten die Referenzdrehzahlen aus, z. B. bei der Kurvenfahrt, und steuern die richtigen Drehzahlen für die bogeninneren oder bogenäußeren Räder aus. In der Geradeausfahrt wird dem für das Erreichen der geforderten Zug- oder Bremskraft nötigen Motormoment ein sinuales Zusatzmoment derart überlagert, dass die Momentenmaxima und -minima jeweils wechselseitig auf der einen und der anderen Seite des Fahrwerks anstehen. Auf diese Weise wird erreicht, dass die Räder im Sinne des Moments beschleunigt oder verzögert werden, wodurch das Portal einen dem konventionellen Radsatz ähnlichen Sinuslauf ausführt.“ 1 Ingenieurbautechnische Herausforderungen Bei den Mulas am Panama-Kanal ist es komplizierter: Der ULF kann sich bei der Stabilisierung seines Geradeauslaufs auf eine stabile Gleisachse zwischen den zwei Schienenköpfen stützen: Nimmt man als Referenz die Normalspur von 1435 mm für Vollbahnen, so ist die sichere Befahrbarkeit der Gleislage bei einer Untergrenze von 1430 mm und infolge des kegelförmigen Radsatzes bei einer Obergrenze von 1470 mm gegeben. 2 Zwischen den beiden Mulas gibt es aber keine Gleise, auf denen sie die Schife, die sie durch die Schleusen ziehen, stabil geradeaus bewegen können. Die Schleusenmaße des Panama-Kanals wurden ursprünglich von Stevens mit 1000- x- 95- Fuß festgelegt. 3 Nachdem dieser schon der zweite Cheingenieur war, der mitten im Bau zurückgetreten war, entschied Präsident Roosevelt, die Fertigstellung des Kanals der Armee zu unterstellen und ernannte Colonel Goethals. Goethals ließ eine Untersuchung der Kosten für die Schleusentore für Breiten bis 125- Fuß vornehmen. Dann holte er die Empfehlung des Navy General Board der USA ein und die lautete auf 110- Fuß Breite (33,53 m). 4 Dabei wurden gegenwärtig in Konstruktion beindliche größte Schifsbreiten, mit dem Schlachtschif Pennsylvania von 95- Fuß und der Titanic als größtem Passagierschif mit 98- Fuß zugrunde gelegt. 5 Heute betragen die größten zugelassenen Schifsabmessungen 965-Fuß (294,13 m) in der Länge und 106- Fuß (32,31 m) in der Breite. 6 Würden die Schife mit eigener Kraft in die Schleuse fahren, würde der Schifsbug in die Schleusenachse tendieren, das Heck aber ausschlagen. 7 Aufgabe der Mulas ist es nun, durch Spannen der Seile, die künftig vielleicht sogar aus Karbon sein werden, über die Winden das Schif in der Schleusenachse zu halten, sodass es sowohl beim Heben oder Senken als auch bei der Vorwärtsbewegung des Schifes zu keiner Berührung der Schleusenwand, und damit zu keiner Beschädigung kommt. Technische Lösungen - gestern und heute Um dies zu erreichen, kombinierte Edward Schildhauser elektromechanische Winden, die die Schife ins Trockendock bugsieren mit Lokomotiven, um die Schife wie auf einem Förderband durch die Schleusen zu ziehen. 8 Bei der Spurweite wählte man 1524 mm Breitspur, die auch für die 1855 eröfnete Strecke von Balboa nach Colon zur Anwendung gekommen war. 9 Außerdem mussten die Lokomotiven bei den Schleusentoren (Gatun-Locks) Steigungen bis 50 % überwinden. Gewählt wurde das System Riggenbach, wobei die Zahnradschienen zusätzlich seitlichen Schutz bieten. 10 Dieser ist einerseits notwendig wegen der Seitenwinde, die zeitweise sehr heftig ausfallen können, und andererseits, um die Schife mittig in der Schleuse zu halten. Die ersten Lokomo- Der Autor: Bernd H. Kortschak Abb. 2: Synchron − wie durch eine Achse verbunden − ziehen zwei Zahnradlokomotiven („Mulas“ - Maultiere genannt) den 32 m breiten Autotransporter Asian Vision am 24.10.2011 durch die südliche Schleusenkammer von Pedro Miguel, der mittleren Schleusenanlage im Panama-Kanal. Foto: Autor Abb. 1: Funktionsweise des Einzelradantriebes der Niederflurstraßenbahn - ULF (Ultra-Low-Floor) ohne durchgehende Radsatzwelle Grafik: Siemens SerVICe Kuriosa Internationales Verkehrswesen (64) 1 | 2012 79 tiven von General Electric wurden 1912 gebaut, wogen 43 t und wiesen eine Winde auf, mit der vier Lokomotiven ( je zwei vorne und hinten 11 ) mit je einem Kabel Schife mit je 111,07 kN und zwei Meilen pro Stunde (3,2 km/ h) durch die Schleusen zogen und dabei mittig hielten. 40-Lokomotiven standen bei der Eröfnung bereit, eine Lokomotive kostete 13 000-US-$. 12 Als nach über 30- Dienstjahren Ersatzbeschaffungen ins Auge gefasst werden mussten, wollte man auf einen lokomotivlosen Betrieb übergehen. Doch das hätte die Produktivität der Schleusen empindlich getrofen. Dann sollten die Schife nur mehr von einem Schleusenufer aus gezogen werden. Doch die von RG LeTourneau gebauten Lokomotiven bewährten sich nicht. Aus einer Ausschreibung ging dann 1965 Mitsubishi als Sieger hervor. 13 In der dritten Liefergeneration 14 verfügen die Mitsubishi-Loks über zwei Motoren von je 290-PS, ein Gesamtgewicht von 55 t, die Stromzuführung erfolgt weiterhin mit unterirdischer 3.-Schiene (Conduit-System) - aufgerüstet von 240 auf 480 Volt. Jede Lok hat eine Zugkraft von 312 kN bei 4,8 km/ h Schleppgeschwindigkeit und zwei Kabelwinden mit je 30 kW Leistung. Die Klettergeschwindigkeit bei 50 % wurde auf 8 km/ h, die Rückfahrgeschwindigkeit, da die Lokomotiven nur in eine Richtung fahren können und über Drehscheiben gewendet werden, auf 16 km/ h gesteigert. 15 Wegen der angewachsenen Schifsdimensionen und -gewichte (Panamax-Schife 16 nützen die verfügbaren Schleusenmaße voll aus) müssen heute bis zu acht Lokomotiven gleichzeitig ein Schif durch die Schleusen bewegen, trotz gestiegener Lokomotivleistung: Während 1912 mit einer Lokomotive nur eine Anhängelast von 25 000- Pfund bewegt werden konnte, sind es heute 70 000-Pfund pro Lokomotive. 17 Um diese Leistung auch auf die Schienen zu bringen, mussten insgesamt 53 km Gleis ausgewechselt werden, wobei nicht nur schwerere Schienen von 48 kg/ m statt bisher 41 kg/ m Verwendung fanden, sondern gleichzeitig auf raschen Tausch von vormontierten Gleissegmenten im Erhaltungsfall geachtet wurde. 18 Überhaupt spielt vorbeugende Instandhaltung bei den Lokomotiven und den verwendeten Kabeln eine große Rolle: 769- Tage „without delay“ lautete die stolze Bilanz der Betreiber am Besucher- Stichtag 25.- Oktober- 2011. Was dazu wohl die Deutsche Bahn sagt? 1 Müller, R. (2011): Antriebs- und Bremskonzept des ULF, Manuskript (unveröfentlicht), Wien, S.-1 2 Vgl. Freystein, H./ Muncke, M./ Schollmeier, P. (2005): Handbuch Entwerfen von Bahnanlagen, Hamburg, S.-457 3 Vgl. McCullough, D. (1977): The Path between the Seas, The Creation of the Panama-Canal 1870-1914, New York u.- a., S.-439 4 Kaiser Wilhelm hatte angefragt, wie man auf die Breite von 110- Fuß gekommen sei, wo doch der russische Zar ein Schlachtschif mit 135-Fuß Breite plane, daher sollten die Panama-Kanal-Schleusen 45- m breit (wie beim Nord-Ostsee- Kanal) gebaut werden, doch der General Navy Board folgte diesem Hinweis nicht. Vgl. Hearings before the Committee on Interoceanic Canals United States Senate, 62nd Congress Second Session on H.R. 21969, Washington 1912, S.-8 5 McCullough (1977), S.-539 6 Vgl. Herrera, B. (2005): Transcendencia del Canal de Panama en el Comercio Mundial, Univ.-Diss., Valdivia, S.-26; am 25. Oktober 2011 war das größte transitierende Schif die CSAV RECIFE mit einer Länge von 964,9- Fuß und 105,9- Fuß Breite. Friar spricht sogar von höchstzulässigen 978-Fuß in der Länge und 108- Fuß in der Breite. Vgl. Friar, W. (2003): Portrait of the Panama Canal from Construction to the Twenty-First-Century, Portland, S.-80 7 Vgl. Ch’ng, P.W., Doctors, L. J., and Renilson, M. R. (1993): A Method of Calculating the Ship-Bank Interaction Forces and Moments in Restricted Water, in: International Shipbuilding progress 40 (1993) 421, S. 7-23, S. 12. 8 Vgl. Nasta, A.: Canal de Panama, http: / / pdf.rincondelvago. com/ canal-de-panama_1.html, Zugrif 8.12.2011, 21: 04h 9 Bei der 1999-2001 wieder eingleisig in Betrieb genommenen Panama Canal Railway wählte man aber Normalspur 1435 mm. Sie genießt zollfreien Status, damit die doppelstöckigen Landbrückenverkehre ohne Zollbehandlung der Container durchgeführt werden können. Vgl. o. V.: Die Eisenbahnen in Panama; http: / / www.ferrolatino.ch/ FLBPanamaText.htm; Zugrif 8.12.2011, 23: 10h 10 Vgl. o.-V.: Die Eisenbahnen in Panama; http: / / www.ferrolatino.ch/ FLBPanamaText.htm; Zugrif 8.12.2011, 23: 10h 11 Vgl. Haskin, F.J. (1914): The Panama Canal, New York, S.-65 12 Herrera, B. (2005), S.-24 13 Vgl. Nasta, A.: Canal de Panama, http: / / pdf.rincondelvago. com/ canal-de-panama_1.html, Zugrif 8.12.2011, 21: 04h 14 1999 zum Stückpreis von 2,3- Mio.- US-$ ausgeliefert. Vgl. Herrera (2005), S.-25 15 Vgl. o.-V.: Die Eisenbahnen in Panama; http: / / www.ferrolatino.ch/ FLBPanamaText.htm; Zugrif 8.12.2011, 23: 10h 16 Doch auch für die US-Marine werden die Schleusendimensionen zum Engpassfaktor: Nicht die maximal erzielbare Reichweite der Kampfjets bestimmt die Dimensionierung der Flugzeugträger, sondern die Panama-Kanal-Schleusen. 17 Vgl. Säuberlich, A.; Säuberlich, H. (2002): Achterbahn in Panama. Treidelloks an der Zahnstange. In: Lok Magazin 41 (2002) 252, S. 64-65; S.65 18 Vgl. o.- V.: Locomotive Upgrade, http: / / pancanl.com/ eng/ projects/ locomotive.html, Zugrif 8.12.2011, 22: 20h Bernd H. Kortschak, Prof. Dr. Dr. Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Logistik an der Fakultät Wirtschaft - Logistik - Verkehr der Fachhochschule Erfurt kortschak@fh-erfurt.de Rammler, Stephan; Weider, Marc (Hrsg.) 2011, Reihe: Mobilität und Gesellschaft, Bd. 5, 178 S., broschiert, ISBN 978-3-643-11240-8 EUR 19,90 das elektroauto Bilder für eine zukünftige Mobilität D ieser Sammelband ist ein Plädoyer für einen veränderten und erweiterten Blick auf die aktuell vieldiskutierte Elektromobilität. Das Batterie-Elektrofahrzeug wird hier als Systeminnovation verstanden, deren Stärken und deren Akzeptanz sich aus der vielfachen Vernetzung des technischen Artefakts mit neuen Mobilitätsdienstleistungen, einer anderen Energieinfrastruktur und veränderten Formen urbaner Mobilität entwickeln werden. Technische Entwicklungen müssen dabei einhergehen mit einer soziokulturellen Innovationsstrategie, in deren Mittelpunkt das Finden und Gestalten bislang unbekannter Bedeutungen und Bedeutungskontexte der neuen Mobilitätstechnologie steht. Einstieg in die postfossile Mobilitätskultur Das Batterie-Elektroauto ist in diesem Sinne als ein Baustein eines größeren gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungsprozesses zu verstehen. Für diesen Prozess liefern Szenarien, Narrationen und Zukunftsbilder einer gelingenden Gesamttransformation der modernen Mobilität einen wichtigen Impuls. Das Elektrofahrzeug bietet die Möglichkeit, so die Haupterkenntnis dieses Buches, wie durch ein „Guckloch“ einen − wenn auch nur fragmentarischen − Blick auf die sich abzeichnenden Bilder einer zukünftigen Mobilität in einer postfossilen Gesellschaft zu werfen. Die Beiträge in diesem Buch spiegeln sowohl den speziellen inhaltlichen Fokus des Instituts für Transportation Design (ITD) der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig wider, d. h. die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Designern, Sozialwissenschaftlern und Ingenieuren, als auch die in verschiedenen Projektkontexten gewonnen Forschungserkenntnisse. bg