eJournals Internationales Verkehrswesen 64/2

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0030
31
2012
642

„Kostenloser“ ÖPNV? − Irrtum und Irrweg

31
2012
Gerd Aberle
iv6420011
KUrZ + KrItISCH Gerd Aberle Internationales Verkehrswesen (64) 2 | 2012 11 B ereits vor mehr als 35 Jahren war sie nach kurzer, aber intensiver Diskussion erledigt: die Forderung nach einer kostenlosen Nutzung des öfentlichen Personennahverkehrs in Deutschland. Mit Ausnahme weniger kleiner Kommunen wurden die Überlegungen nicht weiter verfolgt. Aktuell werden jedoch ähnliche Vorschläge wieder hervorgeholt, so beispielsweise auf dem letzten Kongress des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) Anfang Oktober- 2011. Es war ein Publikumsstatement bei einer Podiumsdiskussion zum Thema der Lösung der Finanzierungskrise im ÖPNV. Hier fehlen zur Abdeckung des aufgelaufenen Ersatzinvestitionsbedarfs im schienengebundenen ÖPNV, also der Substanzerhaltung, über 2,4- Mrd.- EUR; die jährliche Finanzierungslücke wächst um 330- Mio.- EUR. Auch für die Neuinvestitionen gibt es zukünftig noch keine verlässliche Finanzierungsbasis. Referenzgröße für die Forderung nach „kostenloser“ ÖPNV-Nutzung sind die Semestertickets, die Studierenden während ihrer Immatrikulation freie ÖPNV-Fahrten ermöglichen. Allerdings handelt es sich hier nur um eine erhebliche Ermäßigung; je Semester wird ein Betrag von etwa 110 bis 130- EUR als Zwangsbeitrag von allen Studierenden für die ÖPNV-Nutzung eingezogen. Aufgrund der hohen Studierendenzahlen und der überwiegenden Fahrten außerhalb der Spitzenbelastungszeiten erbringt dies für die ÖPNV- Unternehmen noch einen interessanten Deckungsbeitrag. Insofern zieht dieser Vergleich nicht. Zwei Gründe sprechen gegen eine generelle kostenlose ÖPNV- Nutzung: In Deutschland werden die ÖPNV-Nutzer jährlich mit rd. 15- Mrd.- EUR subventioniert (Regionalisierungs-, GVFG-/ Entlechtungsmittel, Verlustabdeckungen, Sozialtarife, Investitionszuschüsse etc.). Dadurch konnte eine auch im internationalen Vergleich herausragende Qualität erreicht werden. Die Nettoerträge durch Nutzerzahlungen (ohne Fahrgeldsurrogate) betrugen allein bei den VDV-Unternehmen im Jahre 2009 9,4-Mrd.-EUR. Wenn die Verfechter kostenfreier Nutzung eine allgemeine Pauschalabgabe anstelle individueller Nutzerzahlungen als Finanzierungsgrundlage vorschlagen, so müssten beispielsweise alle Erwerbstätigen in Deutschland etwa 220- EUR p. a. als Zwangsabgabe entrichten, um nur den Fahrgeldausfall zu kompensieren. Ob Geringverdiener dies zahlen können bzw. wollen, ist fraglich. Ebenso fraglich ist die generelle Akzeptanz, zumal ein leistungsfähiger ÖPNV nicht in allen Regionen verfügbar ist. Mehrkosten durch Verlagerungen vom »Auch hier gilt die alte Erkenntnis: Was nichts kostet, wird auch entsprechend bewertet (und behandelt)« Prof. Gerd Aberle zu themen der Verkehrsbranche Fußgänger- und Radverkehr sowie induzierte zusätzliche ÖPNV- Mobilität kommen hinzu. Sie dürften höher ausfallen als mögliche Einsparungen an Vertriebs- und Kontrollkosten. Ebenso bedeutsam ist aber, dass eine solche Regelung, würde sie vom überwiegenden Teil der Bevölkerung akzeptiert und rechtlich durchsetzbar sein, eine fundamentale Umorientierung im deutschen ÖPNV bedeutet. Die ÖPNV-Betriebe haben sich, insbesondere in der Folge der Bahnreform von 1994 und der hierdurch geschafenen Regionalisierung, stark wettbewerbsorientiert und als marktaktive Unternehmen innerhalb des staatlichen Rahmens der Gemeinwohlverplichtung positioniert. Eine fahrscheinlose Nutzung des ÖPNV würde zu verstärkter Nutzung und entsprechenden Mehrkosten aufgrund der Mobilitätsanreize führen. Vor allem würde jedoch das Selbstverständnis der ÖPNV-Unternehmen und ihrer Beschäftigten negativ beeinlusst. Sie laufen Gefahr einer Degradierung zu Sozialleistungsanbietern, von denen verstärkt Leistungen gefordert werden, aber keine konkreten Gegenleistungen in Form individueller Zahlungen erfolgen. Wie dann noch die wünschenswerte Servicequalität und ein hoher Modernitätsgrad gesichert werden können, bleibt völlig im Dunkeln. Außerdem gilt auch hier die alte Erkenntnis: Was nichts kostet, wird auch entsprechend bewertet (und behandelt). Die aufgewärmten Träume vom „kostenlosen“ ÖPNV stellen vor allem eine ineiziente Umverteilungsmaschine dar. Kostensteigerungen und höhere Finanzierungsdeizite sind zu erwarten. Die erreichte ÖPNV-Qualität würde durch die dann völlige Abhängigkeit der Unternehmen von staatlicher Alimentierung ebenso zerstört wie ihr markt- und wettbewerbsorientiertes Verhalten. „Kostenloser“ ÖPNV? − Irrtum und Irrweg