Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0063
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2012
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City-Logistik für das 21. Jahrhundert
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2012
Stefan Spinier
Matthias Winkenbach
Ein funktionierender Gütertransport ist Voraussetzung für jede Form von sozialer und wirtschaftlicher Aktivität in unseren Städten. Gleichzeitig ergeben sich aus einem zunehmenden Güterverkehr auch Störungen und Belastungen für den innerstädtischen Lebens- und Wirtschaftsraum. Aufbauend auf echten Daten der Groupe La Poste wurde ein mathematisches Optimierungsmodell in Form eines „integrated location-routing problems” (LRP) entwickelt, das zur Bestimmung eines optimalen Infrastruktur- und Flottendesigns herangezogen werden kann.
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Internationales Verkehrswesen (64) 3 | 2012 28 E s wird beispielsweise erwartet, dass durch die fortschreitende Urbanisierung der Anteil der Bevölkerung aller OECD-Staaten, der in Städten lebt, bis zum Jahr 2020 auf ca. 83 % anwachsen wird, womit unweigerlich auch ein rapide ansteigendes Personen- und Güterverkehrsaukommen einhergehen wird [vgl. OECD 2001]. Nachhaltigkeit durch City-Logistik Dem allgemeinen Trend hin zu schlanken Prozessen, zentralisierter und geographisch von der Produktion entkoppelter Lagerhaltung sowie bedarfsorientierter Lieferung folgend konzentrieren immer mehr Unternehmen ihre Produktionskapazitäten auf eine geringere Zahl von Standorten, wobei Produktion, Beschafung und Distribution zunehmend globaler werden. Dadurch muss die häuig im Stadtgebiet erfolgende Überwindung der „letzten Meile” wesentlich stärker als bislang mit den Abläufen innerhalb der restlichen globalen Supply Chain integriert und synchronisiert werden. Ein zunehmend komplexer städtischer Güterverkehr mit einer steigenden Zahl an benötigten Transportbewegungen ist die Folge. Auch die wachsende Bedeutung von Reverse Logistics-Lösungen trägt zum Anstieg des innerstädtischen Güterverkehrs bei City-Logistik für das 21. Jahrhundert Ein funktionierender Gütertransport ist Voraussetzung für jede Form von sozialer und wirtschaftlicher Aktivität in unseren Städten. Gleichzeitig ergeben sich aus einem zunehmenden Güterverkehr auch Störungen und Belastungen für den innerstädtischen Lebens- und Wirtschaftsraum. Aufbauend auf echten Daten der Groupe La Poste wurde ein mathematisches Optimierungsmodell in Form eines „integrated location-routing problems” (LRP) entwickelt, das zur Bestimmung eines optimalen Infrastruktur- und Flottendesigns herangezogen werden kann. Die Autoren: Stefan Spinler, Matthias Winkenbach Graik: Weidmüller Interface LOgISTIK Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (64) 3 | 2012 29 LOgISTIK Wissenschaft [vgl. OECD 2003, S. 26]. Das Konzept der City- Logistik (CL) beabsichtigt, im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung die Belastungen durch den städtischen Gütertransport zu reduzieren, ohne dabei das soziale und wirtschaftliche Leben innerhalb der Stadt zu beeinträchtigen. Hierbei soll vor allem eine stärkere Koordination und Konsolidierung individueller Warenströme zu signiikanten Eizienzverbesserungen führen, die eine Reduktion der erforderlichen Transportbewegungen sowie der Anzahl, Größe und Emissionswerte der im Stadtgebiet operierenden Fahrzeuge ermöglichen. Kernpunkt des Konzepts ist die Abkehr von einer Betrachtung einzelner Warensendungen, Transportunternehmen und Fahrzeuge auf individueller Ebene und die Hinwendung zu einer Betrachtung dieser Elemente als Komponenten eines einzigen integrierten Logistiksystems. Insbesondere verfolgt CL das Ziel, zu einer optimierten Konsolidierung der Sendungen verschiedener Absender und Transporteure innerhalb ein und derselben Fahrzeuglotte zu gelangen. Vor allem der Optimierungsaspekt des Konzeptes wird jedoch in Literatur und Praxis bislang nur unzureichend berücksichtigt [vgl. Crainic et al. 2009]. City-Logistik als strategische Option für Postdienstleister Im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojektes der WHU − Otto Beisheim School of Management in Vallendar, INSEAD in Fontaine- und rückt die integrierte Betrachtung von Auslieferung und Abholung stärker in den Fokus des Interesses [vgl. OECD 2003]. Ein auch in Zukunft bedeutender Treiber für die Zunahme des städtischen Güterverkehrs ist der elektronische Handel. Der massive Zuwachs an E-Commerce getriebenen Direktlieferungen stellt die städtische Gütertransportinfrastruktur nicht nur hinsichtlich höherer Volumina, sondern auch aufgrund der zunehmenden Fragmentierung der Sendungen vor völlig neue Herausforderungen [vgl. OECD 2003]. Die Kapazitäten der städtischen Transportinfrastruktur sind physisch stark begrenzt und kaum skalierbar. Angesichts eines stetig steigenden Bedarfs an Personen- und Gütertransport innerhalb des Stadtgebiets ergeben sich hieraus zunehmend Interessenkonlikte zwischen den beteiligten Akteuren. Eine unkoordinierte Zunahme des Verkehrsaukommens führt nicht nur zu regelmäßigeren Überlastungen der Verkehrsinfrastruktur und damit zu einem efektiven Verlust an Mobilität, sondern auch zu einer verstärkten Belastung durch Luftverschmutzung, Lärm und ähnlichem. Die OECD deiniert den Begrif der nachhaltigen Entwicklung als die Zusammenführung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ziele der Gesellschaft mit der Absicht, das gegenwärtige menschliche Wohlergehen zu maximieren, ohne dabei die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zur Deckung ihrer Bedürfnisse zu mindern Abb. 1: City-Logistik als strategische Option LOgISTIK Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (64) 3 | 2012 30 wurde ein mathematisches Optimierungsmodell in Form eines „integrated location-routing problems” (LRP) entwickelt, das zur Bestimmung eines optimalen Infrastruktur- und Flottendesigns herangezogen werden kann. Die Modellierung erfolgte anhand folgender Gesichtspunkte: • Unterscheidung zweier Güterklassen: größere Sendungen zum direkten Transport zwischen einem zentralen Konsolidierungs-Hub und ihrem Bestimmungs-/ Ursprungsort und kleinere Sendungen zum indirekten Transport über eine zweite Konsolidierungsebene (Zwischendepots); • Integrierte Betrachtung von Abholung und Lieferung; • Verarbeitung komplexer Geograien und Nachfrageverteilungen; • Einbezug unterschiedlicher Fahrzeugtypen und gemischter Flotten; • Kapazitätsbeschränkte Fahrzeuge und Konsolidierungseinrichtungen; • Berücksichtigung von Zugangsbeschränkungen zu bestimmten Stadtsegmenten für bestimmte Fahrzeugtypen; • Berücksichtigung existierender Infrastruktur; • Zeitlimits für Zustellung und Abholung; • Minimierung der Gesamtkosten für Konsolidierung und Transport. Das Optimierungsproblem wurde als statisches Mixed Integer Linear Programming Model (MIP) implementiert und kann aubauend auf leistungsfähigen Solver-Algorithmen wie IBM ILOG CPLEX oder GUROBI mithilfe numerischer Optimierungsverfahren gelöst werden. Es können dabei bis zu 1 600 Stadtsegmente, bis zu 400 diskret vorgegebene Standorte für Konsolidierungseinrichtungen, vier Fahrzeugtypen und zwei Konsolidierungsebenen berücksichtigt werden. Das Modell ist auf Grundlage deterministischer Eingabedaten in der Lage, die Anzahl und Positionierung der benötigten Konsolidierungsbleau und der französischen Groupe La Poste wurde untersucht, welche Synergien Postdienstleister durch die Verbindung ihres bestehenden Postbetriebs und der Abwicklung städtischer Wareneinzelsendungen heben können. Derartige Synergien können beispielsweise dadurch entstehen, dass ein Flottenbetrieb im Umfang eines großen Postdienstleisters aufgrund von Skalen- und Verbundefekten eine höhere Fahrzeugauslastung ermöglicht. Gleichzeitig kann die Integration solcher Dienstleistungen mit bestehenden Postdiensten neben zusätzlichen Umsätzen auch Eizienzsteigerungen generieren. Angesichts der inanziellen Herausforderungen, denen viele Postdienstleister aufgrund der fortschreitenden elektronischen Substitution ihrer etablierten Produkte gegenüberstehen, stellt der Eintritt in den Markt für CL eine möglicherweise proitable Option dar, die eigene Geschäftstätigkeit aubauend auf bestehender Infrastruktur und vorhandenem Know-how stärker zu diversiizieren. Die vielschichtigen Herausforderungen eines Vorstoßes in diese Sparte sind in Abbildung- 1 illustriert. Um zu bestimmen, ob und wie die zentrale Koordination und Konsolidierung städtischer Warensendungen technisch und wirtschaftlich sinnvoll realisiert werden kann, muss die hierfür benötigte Transport- und Konsolidierungsinfrastruktur, die Zusammensetzung der benötigten Fahrzeuglotte sowie die anfallenden Investitions- und Betriebskosten ermittelt werden. Zielsetzung dieses Forschungsprojektes war es daher, ein tiefergehendes Verständnis für die eiziente und nachhaltige Erbringung von CL-Dienstleistungen zu erlangen und darauf aubauend die Groupe La Poste in ihrer Entscheidung hinsichtlich des strategischen Einstiegs in diesen Markt und des optimalen Infrastruktur- und Flottendesigns zu unterstützen. Aubauend auf echten Daten der Groupe La Poste Abb. 2: Kosten pro Stopp für unterschiedliche Fahrzeugtypen Internationales Verkehrswesen (64) 3 | 2012 31 LOgISTIK Wissenschaft einrichtungen, die Zuordnung von Stadtsegmenten zu einer bestimmten Konsolidierungseinrichtung, die Auswahl des für die Versorgung eines Stadtsegments verwendeten Fahrzeugtyps sowie die Routenführung der Fahrzeuge integriert zu optimieren. Um die Berechnungszeiten trotz der großen Modelldimensionen gering zu halten, wurde aubauend auf einer Formulierung von Smilowitz und Daganzo eine Approximationsformel für die Routenführungskosten innerhalb eines Stadtsegments entwickelt, die analytisch Heuristiken wie dem Clarke-Wright- Savings-Algorithmus [vgl. Clarke und Wright 1964] eine hinreichende Approximationsgüte aufweist [vgl. Winkenbach et al.]: f r , , A , q m t w 2 r s w c n t s w c n c f d,i d,i n i i d,i d,i s d,i o v d,i a i v d,i h v ( ) ( ) ( ) ≈ + + + + + + + Analyseergebnisse Anhand der Modellergebnisse lassen sich unter anderem Rückschlüsse auf die relativen Vor- und Nachteile einzelner Fahrzeugtypen ziehen. So lässt sich etwa feststellen, dass für den Transport kleinerer Paketsendungen Fahrzeuge mit moderater Geschwindigkeit, geringen operativen Kosten und hoher Agilität, wie zum Beispiel Transportfahrräder, weitestgehend kostenoptimal sind. Nur für Stadtsegmente, die in sehr engem Umkreis um das jeweilige Zwischenlager liegen und sehr hohe Nachfragedichten aufweisen, können zu Fuß agierende Zusteller eine kostengünstigere Anbindung schafen. Motorisierte Fahrzeuge kommen erst bei weit entfernt gelegenen Stadtsegmenten zum Einsatz (vgl. Abbildung-2). Darüber hinaus wird anhand des Models ein zentraler Trade-of bei der Infrastrukturgestaltung deutlich. Während die Gesamtkosten für Konsolidierung und Transport mit einer zunehmenden Zahl an Zwischendepots zunächst Abb. 3: Kostenoptimales Infrastrukturdesign deutlich abnehmen, da deren Einlussbereiche und damit die durchschnittlich zurückzulegenden Distanzen kleiner werden, nehmen sie ab einer bestimmten Anzahl an Zwischendepots wieder zu, sodass sich ein ausgeprägtes Kostenminimum ermitteln lässt. Der Grund für den erneuten Anstieg besteht in der mit der Zahl an Zwischendepots zunehmenden Fragmentierung des Warentransports zwischen den beiden Konsolidierungsebenen (vgl. Abbildung-3). Auf Grundlage des Models lassen sich die Gesamtkosten zudem in die wichtigsten Kostentreiber aufschlüsseln und umfangreichen Sensitivitätsanalysen unterziehen. ■ Stefan Spinler, Prof. Dr. Kühne Stiftungslehrstuhl für Logistikmanagement, WHU − Otto Beisheim School of Management, Vallendar stefan.spinler@whu.edu Matthias Winkenbach, M.Sc. Doktorand/ Wissenschaftlicher Mitarbeiter Kühne Stiftungslehrstuhl für Logistikmanagement, WHU − Otto Beisheim School of Management, Vallendar matthias.winkenbach@whu.edu QUELLEN CLARKE, G.; WRIGHT, J. W.: Scheduling of vehicles from a central depot to a number of delivery points. Operations Research, 12: 568-581, 1964. CRAINIC, T. G.; RICCIARDI, N.; STORCHI, G.: Models for evaluating and planning city logistics systems. Transportation Science, 43(4): 432-454, 2009. OECD. OECD environmental outlook 2001. Technical report, Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD Publishing, Paris, 2001. URL http: / / www.oecdbookshop.org. OECD. Delivering the goods: 21st century challenges to urban goods transport. Technical report, Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD Publishing, 2003. URL http: / / www.oecdbookshop.org. SMILOWITZ, K.R.; DAGANZO, C.F.: Cost modeling and design techniques for integrated package distribution systems. 2005. Working Paper. WINKENBACH, M.; KLEINDORFER, P. R.; ROSET, A.; SPINLER, S.: A mixed integer linear programming model for solving large-scale integrated location-routing problems for urban logistics applications at groupe la poste, unveröfentlichtes Working Paper.
