eJournals Internationales Verkehrswesen 64/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0088
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Flexible Bedienformen im ÖPNV

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Johannes  Neu
Demografische Entwicklungen und anhaltende Urbanisierung sind Gründe für den Bevölkerungsrückgang im ländlichen Raum und die zunehmende Abwanderung jüngerer Menschen. Aufgabe des ÖPNV ist es, die Attraktivität ländlicher Bezirke durch gute Verkehrsanbindungen zu steigern. Alternative Bedienformen in den großen, dünn besiedelten Gebieten Skandinaviens können hier Anregungen für Deutschland geben.
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InfrasTrUkTUr ÖPNV in Skandinavien Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 40 Quelle: Johannes Neu Flexible Bedienformen im ÖPNV Demograische Entwicklungen und anhaltende Urbanisierung sind Gründe für den Bevölkerungsrückgang im ländlichen Raum und die zunehmende Abwanderung jüngerer Menschen. Aufgabe des ÖPNV ist es, die Attraktivität ländlicher Bezirke durch gute Verkehrsanbindungen zu steigern. Alternative Bedienformen in den großen, dünn besiedelten Gebieten Skandinaviens können hier Anregungen für Deutschland geben. I n ländlichen Gebieten stellt im Regelfall der Schülerverkehr die Grundlage des jeweiligen ÖPNV-Angebotskonzepts dar. Die Zahl der Schüler sinkt stetig, was bedeutet, dass die wichtigste Nutzergruppe des ÖPNV immer weiter abnimmt und das Angebot daher stark reduziert wird. Senioren werden jedoch zunehmend aktiver und haben den Wunsch, auf die öfentlichen Verkehrsmittel zurückzugreifen. Damit ihnen zumindest ein Grundangebot an Mobilität oferiert werden kann, wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche alternative Bedienungsformen entwickelt. Ähnliche Herausforderungen existieren in Skandinavien zum Teil in extremer Form - eine Betrachtung der gefundenen Alternativen kann Deutschland wichtige Anregungen und Lösungen präsentieren. 1 Eine komplette Betrachtung des ÖPNV im skandinavischen Raum wäre jedoch methodisch nicht möglich gewesen, stattdessen werden weitestgehend isolierte Beispiele aus einzelnen Gemeinden oder Regionen Der Autor: Johannes neu Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 41 Dänemarks, Finnlands, Norwegens und Schwedens vorgestellt. rahmenbedingungen Am Beispiel Finnlands wird ofensichtlich, dass lexible Angebote des ÖPNV starke Unterstützung von allen Verwaltungsebenen erhalten müssen, um dauerhaft bestehen zu können. Beispielsweise beschloss das innische Ministerium für Transport und Kommunikation im Jahr 2007 neue bedarfsabhängige Transportsysteme nur noch maximal über einen Zeitraum von drei Jahren zu fördern. Zusätzlich sind die alternativen Bedienungsformen im neuen innischen Personenverkehrsgesetz weitestgehend mit dem regulären öfentlichen Verkehr gleichgesetzt. Es erfolgt jedoch keine Finanzierung der lexiblen ÖPNV- Angebote durch den Staat. In Folge dieser veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen wurden viele zuvor erfolgreiche alternative Bedienungsformen teilweise oder komplett eingestellt. Ein langfristig stabiler, aber lexibler gesetzlicher Rahmen und die entsprechende Finanzierung bilden somit eine Grundvoraussetzung für den Fortbestand und die weitere Entwicklung von Alternativangeboten. Bestellung Alle Bedarfsverkehre besitzen die Gemeinsamkeit, dass sie zunächst bestellt werden müssen. Diese Bestellung erfolgt meist per Telefon. Um eine unübersichtliche Vielzahl an Rufnummern zu vermeiden, wie sie in vielen Provinzen Schwedens üblich ist, wurde in der Provinz Nord-Trøndelag (Norwegen) eine einzige Telefonnummer für die Bestellung aller alternativen Bedienungsangebote eingeführt. Um Bestellungen außerdem schneller abwickeln zu können, ist die Einführung einer Kundennummer in Verbindung mit der Speicherung von Nutzerdaten wie auf Bornholm (Dänemark) zu empfehlen. Durch die Kundennummer können sofort weitere Eigenschaften wie Wohnort und besondere Bedürfnisse des Kunden durch einen Mitarbeiter aufgerufen werden. Ebenfalls auf Bornholm erfolgt die Fahrgelderhebung mittels eines Kilometerkontos. Es entspricht den vom Mobilfunk bekannten „Prepaid“-Tarifen. Durch das Kilometerkonto erfolgt die Zahlung vor Antritt oder nach Abschluss der Fahrt. Auf diese Weise entsteht kein Zahlungsverkehr zwischen Fahrgast und Fahrer. Zahlungen sind in den in Skandinavien häuig eingesetzten Taxen problematisch, da diese selten über einen Fahrscheindrucker oder Möglichkeiten verfügen, elektronische Tickets zu erkennen. fahrzeugnutzung Um Fahrzeuge besser auszulasten, kann in nachfrageschwachen Gebieten das Angebot auf Verkehre mit anderen Funktionen erweitert oder in diese integriert werden. So wird beispielsweise die Öfnung von Schulbussen für den öfentlichen Verkehr gefordert, um ein Grundangebot für Bewohner zu schafen. In einigen Provinzen Schwedens wird die Planung des Schülerverkehrs in die ÖPNV-Planung integriert und die Schulanfangszeiten an die Verkehrsbedürfnisse der Bürger angepasst. So konnten die Ausgaben in der Vergangenheit bereits deutlich verringert werden. Ein fast schon klassisches Beispiel zur besseren Ausnutzung von Fahrzeugen ist die zusätzliche Beförderung von Gütern in Linienbussen. In Finnland, Norwegen und Schweden werden Fahrten für Kurierdienste in das Angebot von Überlandbussen integriert. Die Pakete können dann in großen Busstationen, einem Supermarkt oder einem Kiosk zur Abholung für den Empfänger bereitgestellt werden. Dadurch spart sich das Unternehmen die Unterhaltung eines großen Filialnetzes. Als Alternative bietet sich die Feinverteilung der Güter durch den Nahverkehr an. Dies wird in Tolga (Norwegen) praktiziert. Innerhalb des Gemeindegebiets können Pakete bis zu zehn Kilogramm an allen Haltestellen versandt und abgeholt werden. Die Versorgung mit Kurier- und Passagierdiensten kann jedoch noch weiter gehen: So bietet eine innische Firma Wäschedienste in Kooperation mit einer Reinigung an. Hierbei kann die Wäsche in einigen Kommunen an der Busstation abgegeben werden. Der Transport der Wäsche ist für den Kunden kostenlos - und die Wäscherei kann das Angebot erweitern, ohne zusätzliche Filialen errichten zu müssen. Um die Anzahl der kombinierten Fahrten im Flächenverkehr zu erhöhen, ist es möglich Umwege in Kauf zu nehmen oder die Bedienfrequenz einzelner Gebiete zu reduzieren. So werden in Schweden viele Gebiete nur zweimal pro Woche mit jeweils einer Hin- und Rückfahrt bedient. Dadurch kann ein Fahrzeug mehrere Gebiete abdecken. Auf zeitunkritische Fahrten zielt eine Neuerung im noch nicht realisierten MetroDRT- Projekt in Helsinki (Finnland) ab. Hier soll es in Zukunft die Option geben, Fahrtwünsche anzumelden, ohne sofort eine konkrete Fahrt zugewiesen zu bekommen. Fahrgast-A meldet also eine Fahrt über das Internetportal als zeitlich lexibel an. Wenn danach von Fahrgast-B eine Fahrt angemeldet wird, die sich entsprechend der deinierten Parameter mit dem Fahrtwunsch von Fahrgast-A kombinieren lässt, wird Fahrgast- A eine Nachricht zugesandt. Dieser kann entweder durch Rückruf das Fahrtangebot akzeptieren oder es verfallen lassen. Wird die angebotene Fahrt ignoriert, verbleibt der Fahrtwunsch im System und Fahrgast-A erhält weitere passende Angebote. Diese Flexibilität seitens des Nutzers wird mit einem geringeren Fahrpreis honoriert. Wenn innerhalb einer Gemeinde die Versorgung mit ÖPNV nicht mehr inanziert werden kann, besteht die Möglichkeit, Bürgerbusse zu organisieren. In der Gemeinde Kölsillre (Schweden) wird eine Kombination aus Bürgerbus und Carsharing angeboten. Der Bürgerbus wird aus dem EU- Projekt „Northern Periphery Programme“ inanziert. Aus rechtlichen Gründen wird für die Nutzung des Bürgerbusses kein Fahrpreis entrichtet. Um weitere Kosten zu sparen, fährt einer der Fahrgäste selbst. Die Bestellung erfolgt über ein Internetportal. Hier gibt der registrierte Nutzer seinen Fahrtwunsch mit genauem Start, Ziel und Fahrtzeit ein. Anschließend wird diese Fahrt auf dem Portal sichtbar. Weitere Fahrgäste können bis zum Erreichen der Kapazität des Fahrzeuges der Fahrt beitreten. Dabei dürfen die Fahrten nur innerhalb des Gemeindegebiets durchgeführt werden und sie dürfen nicht in Konkurrenz zum ÖPNV verkehren. flextrafik Bei Flextraik handelt es sich um eine neue Kombination lexibler Bedienungsformen. In den Gebieten der dänischen Aufgabenträger Movia, NT, Midttraik und Sydtraik wird der Großteil der bedarfsgesteuerten Flächenverkehre unter der Bezeichnung „Flextraik“ vermarktet. Flextraik umfasst die Bereiche Behindertentransport, Patientenfahrdienst, Krankenhaustransport und öfentlicher Verkehr. Wenn es die Gegebenheiten zulassen, werden Fahrten aus diesen Bereichen kombiniert, um eine höhere Auslastung der Fahrzeuge zu erreichen. Da es sich hierbei um eine Beförderung handelt, die einem Taxi sehr ähnlich ist, wird ein kilometerbasierter Tarif angewandt. Bei Subventionen durch die Gemeinden entspricht der Tarif etwa dem halben Taxipreis. Die Disposition erfolgt dabei auf Basis einer Fahrzeugdatenbank. Verkehrsunternehmen bieten ihre Leistung in einem festgelegten zeitlichen Abstand an. Auf einem im Internet dafür bereitgestellten Portal geben die Verkehrsunternehmen speziische Daten zu ihren Fahrzeugen und einen Preis für das jeweilige Fahrzeug inklusive Fahrer pro Stunde an. Die entsprechenden Merkmale werden nach Abschluss des Bieterprozesses in der genannten Fahrzeugdatenbank gespeichert. Wird eine Fahrt gewünscht, InfrasTrUkTUr ÖPNV in Skandinavien Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 42 indet das System automatisch in der Datenbank ein passendes Fahrzeug zu einem möglichst günstigen Preis, das den Auftrag ausführt. Die festgelegte Fahrt wird an das gewählte Fahrzeug übermittelt. Dazu besitzt jedes Fahrzeug eine Empfangs- und Sendeeinheit. Es erfolgt immer nur die Information über die nächste Fahrt, um eventuelle Anpassungen noch durchführen zu können. Mit Hilfe von GPS-Ortung wird außerdem jedes Fahrzeug überwacht. Sollte es auf Grund von Bauarbeiten oder anderen Ursachen zu Verspätungen kommen, wird automatisch ein anderes Fahrzeug eingeteilt. fazit Die Bedienung mit ÖPNV ist auch in sehr dünn besiedelten Gebieten möglich. Die Attraktivität entsprechender Bezirke kann für die Bürger durch vielfältige ÖPNV- Alternativangebote gesteigert werden. Der skandinavische Raum bietet keine universelle Lösung für die dargestellte Problematik, aber er zeigt interessante Ansätze und mobilitätsfördernde Maßnahmen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass von einer täglichen oder gar stündlichen Bedienung bestimmter Gebiete und Haltestellen abgewichen werden muss. In den am dünnsten besiedelten Regionen Skandinaviens kommt es laut Untersuchungen lediglich an zwei Wochentagen zu Beförderungsangeboten und generell zu langen Vorbestellungszeiten. Insgesamt muss besonders die integrierte Planung von Schule und Verkehr stärker verfolgt werden. Der Schülerverkehr stellt die Grundlage des Verkehrs in den nachfrageschwachen Regionen dar. Schweden zeigt hier, dass die verschiedenen Verwaltungsebenen kooperieren können und diese Zusammenarbeit ein nicht zu verachtendes Einsparpotenzial ermöglicht. Die Beförderung der Bürger kann außerdem mit lexiblen Transportangeboten erfolgen. Die Lösungsvorschläge aus Skandinavien zeigen aber auch, dass der Service immer genau an die herrschenden Rahmenbedingungen angepasst werden muss. Eine einfache Kopie einer alternativen Beförderungsform führt nicht zum Erfolg. Damit der ÖPNV in ländlichen Gebieten kostendeckender durchgeführt werden kann, sollte zudem über eine Umgestaltung der Preispolitik nachgedacht werden, z. B. indem der Preis auf Basis der gewünschten Flexibilität Johannes neu, Dipl.-Ing. TU Berlin Johannes.Neu@tu-berlin.de und der Entfernung zu Linienangeboten festgelegt wird. Diese Optionen stellen für den Kunden zwar eine höhere Belastung dar, können aber wesentlich zur Erhaltung des ÖPNVs in nachfrageschwachen Gebieten beitragen. Die Übertragbarkeit der vorgestellten Praxisbeispiele auf Deutschland ist kein technisches, sondern ein rechtliches und organisatorisches Problem. Nach Schafung der entsprechenden Rahmenbedingungen und bei Zusammenarbeit aller Verwaltungsebenen können die Herausforderungen in nachfrageschwachen Regionen bewältigt und diese Bezirke für die Bürger auf Dauer attraktiver gemacht werden. ■ 1 Auszug aus: Neu, J. (2011): Alternativer öfentlicher Personennahverkehr in nachfrageschwachen Regionen Skandinaviens; Studienarbeit am FG Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik der TU Berlin betreut von Prof. G.W. Heinze www.dvz.de Jetzt anmelden: www.dvz.de/ recht Bundesrichter Günther Pokrant berichtet über aktuelle BGH-Urteile 4. September 2012 in Frankfurt/ Main DVZ-Konferenz Transport-, Speditions- & Logistikrecht in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Speditions- und Logistikverband e.V. (DSLV) und dem Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) e.V.