eJournals Internationales Verkehrswesen 64/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0089
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Hat Marco Polo eine Zukunft?

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Werner Balsen
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Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 43 Hat Marco Polo eine Zukunft? B eim Frühsommergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs Ende Juni standen erneut die Schuldenkrise und die Strategien für die eiziente Stärkung des Euroraums im Vordergrund der Agenda - wie bei fast allen Sondertrefen und regulären Zusammenkünften der „Chefs“ in den vergangenen vier Jahren. Eher am Rande und relativ lüchtig handelten Merkel, Hollande und Co. das Thema mittelfristige Finanzplanung ab. Das aktuelle Mehrjahresbudget der EU ist bis Ende des nächsten Jahres gültig; für die Zeit von 2014 bis 2020 muss ein neuer Etatrahmen her. Die Auseinandersetzungen darüber haben längst begonnen. Bislang ist nur klar, dass zwischen EU- Kommission und Europäischem Parlament auf der einen sowie den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite derzeit noch ein tiefer Graben verläuft. Sieben EU-Länder, darunter Deutschland, haben klargestellt, dass sie nicht nur keine Erhöhung des EU-Budgets für die nächste Finanzperiode wünschen, sondern sogar von einer „substanziellen Verringerung“ des von der Kommission vorgelegten Etatentwurfs über gut 1000-Mrd.-EUR ausgehen. Der Finanzrahmen hat für die Verkehrspolitik der EU enorme Bedeutung. Finanzierungsinstrumente wie die Connecting Europe Facility (CEF) und die Projektbonds stehen und fallen damit, ob der EU-Haushalt das Geld dafür hergibt. Auch das Modal-Shift-Programm Marco Polo, das Güterverkehr „so weit wie möglich von der Straße auf andere Verkehrsträger“ verlagern will, hat nur eine Zukunft, wenn Mittel für die Fortführung vorhanden sind. Die Brüsseler Behörde hat das seit 2007 laufende und bis Ende des nächsten Jahres befristete Marco- Polo- II-Projekt evaluiert. Ihre Prüfer sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die mit dem 450- Mio.- EUR starken Programm gesetzten Ziele „nicht vollständig erreicht wurden und auch nicht erreicht werden“. Vor allem die Hofnungen auf den geplanten Modal Shift erfüllten sich nicht ausreichend, und „es gibt keinen Grund zu glauben, dass sich das bei noch laufenden Marco Polo II Projekten ändern wird“. Darüber hinaus stellten die Prüfer „nachteilige Wettbewerbsefekte“ fest. Dazu kam Kritik, die schon immer an Marco Polo geübt wurde: Die verlangte Koinanzierung und der hohe bürokratische Aufwand wirkten kontraproduktiv. Noch bevor sich die Kommission oiziell äußert, ist bereits durch- Werner Balsen EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Logistik-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON WERNER BALSEN gesickert, dass die EU auch über das nächste Jahr hinaus Geld zur Verfügung stellen will, um grenzüberschreitende Verkehre von der Straße auf Schiene und Wasserwege zu verlagern. Ob das weiterhin unter dem Namen Marco Polo geschehen wird, ist noch unklar, aber auch unerheblich. Fest steht dagegen, dass die Geldspritzen stärker an Innovationen und den Einsatz von grüner Technologie gebunden werden sollen. Das Folgeprojekt für die Förderung des Modal Shift stützt sich auf Artikel- 37 bis 39 des Kommissionsvorschlags für das Transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-T). Vor allem Artikel- 38b spricht sich für eine weitere Förderung von bewährten und innovativen Verkehrssystemen aus und bildet so die Grundlage für eine Fortsetzung der Marco-Polo-Zielsetzung. So erhalten Eisenbahngesellschaften, die am wirtschaftlich schwierigen Einzelwagenverkehr festhalten, schon im laufenden Programm einen erleichterten Zugang zu den Fördertöpfen. Voraussetzung für die Unterstützung, ist normalerweise eine Verlagerung von mindestens 60-Mio.-tkm pro Jahr. Für Eisenbahnirmen mit Einzelwagenverkehr ist diese Schwelle um die Hälfte auf 30-Mio.-tkm reduziert worden. „Serviceleister“, also Ansprechpartner für Antragsteller, wäre die TEN-T-Agentur. Sie soll für die Verwaltung des künftigen Förderprogramms zuständig sein. Finanzielle Grundlage des künftigen Förderprogramms soll die CEF sein. Ob daraus wie bei dem im nächsten Jahr auslaufenden Marco-Polo-II-Programm 450-Mio.-EUR zu mobilisieren sein werden, steht noch nicht fest. Möglicherweise ist das auch gar nicht notwendig. Denn von 50-Anträgen auf Unterstützung durch das EU-Programm Marco- Polo erfüllten im vergangenen Jahr nur 19 die Voraussetzungen. 31 standen nicht im Einklang mit den verlangten Kriterien und wurden abgelehnt. Den erfolgreichen Bewerbern wurden 35,3-Mio.-EUR zugesagt - nur gut ein Drittel der insgesamt beantragten Fördersumme. Derzeit können nicht genutzte Projektmittel nicht in andere Perioden verschoben werden, sondern gehen für Marco-Polo verloren. Sie ließen in den allgemeinen EU-Haushalt zurück. Das wird sich ändern, wenn die Projektinanzierung aus der CEF gestemmt wird. Deren Regularien erlauben die Weiterverwendung nicht abgerufener Mittel im Programm. Die CEF steht allerdings noch unter dem generellen Vorbehalt, dass die EU-Kommission ihre Vorstellungen in den Etatverhandlungen mit den Mitgliedstaaten durchsetzen kann. Deshalb dürften auch Verkehrsexperten die beiden Herbstgipfel der EU-Staats- und Regierungschefs im Oktober und im Dezember genau verfolgen. Denn neben dem Schicksal der Eurozone geht es dort auch um die Zukunft so manchen Verkehrsprojekts. ■ »Unternehmen, die in den Genuss der Fördermittel kommen wollen, müssen einen eigenen Beitrag und viel Geduld für Bürokratie aubringen.«