eJournals Internationales Verkehrswesen 64/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0091
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2012
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Die Crux mit den Anschlüssen

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2012
Joachim Fledler
Uneingeschränkte Mobilität geht von einer lückenlosen Flächenbedienung aus, die nur zu Fuß, per Fahrrad, Krad oder Pkw zu gewährleisten ist. Der ÖV mit Bussen und Bahnen versucht, dies durch eine engmaschige Vernetzung der Linien zu erreichen. Mit der Folge, dass viele Fahrgäste an Knotenpunkten umsteigen müssen und durch ihre Verspätungen Anschlüsse verpassen. Wie kann hier der Kundenservice verbessert werden?
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MOBILITÄT Kundenservice Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 47 Die Crux mit den Anschlüssen Uneingeschränkte Mobilität geht von einer lückenlosen Flächenbedienung aus, die nur zu Fuß, per Fahrrad, Krad oder Pkw zu gewährleisten ist. Der ÖV mit Bussen und Bahnen versucht, dies durch eine engmaschige Vernetzung der Linien zu erreichen. Mit der Folge, dass viele Fahrgäste an Knotenpunkten umsteigen müssen und durch ihre Verspätungen Anschlüsse verpassen. Wie kann hier der Kundenservice verbessert werden? Z iel der Planer ist es, die Fahrpläne so aufeinander abzustimmen, dass das Umsteigen ohne größere Zeitverluste möglich wird. Wirklich „gute Anschlüsse“ sind allerdings bei Verspätungen vor allem der Zuführungsfahrzeuge anfällig, was immer wieder Anlass zu Klagen beeinträchtigter Umsteiger ist. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Problematik der Anschlüsse im schienengebundenen Regional- und Fernverkehr, weil dort die systembezogenen Betriebsrestriktionen (Kapazitätsengpässe, größere Zugfolgezeiten) besonders gravierend sind. Bahnkunden bevorzugen daher Direktverbindungen, sofern diese bestehen. Bequem und ohne nennenswerte Wartezeiten ist das Umsteigen allein dann möglich, wenn die Züge auf den benachbarten Gleisen desselben Bahnsteigs zeitgleich eintrefen und baldmöglichst wieder abfahren. Denn schon der Wechsel zu einem anderen Bahnsteig verursacht zeitraubende Fußwege und bedingt längere Überliegezeiten der beteiligten Züge. Noch länger dauert es in mehrstöckigen Bahnhöfen wie z. B. in Zürich. Diese Überliegezeiten werden von den Transitfahrgästen - sie brauchen nicht umzusteigen - als lästig empfunden, erst recht, falls einer der Züge verspätet ist und der andere Zug auf dessen Umsteiger wartet. Anschlussbedingte Verspätungen verursachen Zusatzverspätungen, was nach und nach die Planmäßigkeit des gesamten Netzes durcheinander bringen kann und wovon viele Unterwegszusteiger und deren etwaige Anschlussbedürfnisse in Mitleidenschaft gezogen werden. So sind bei mehrfachem Umsteigen Beförderungszeitverlängerungen von ein bis zwei Stunden keine Seltenheit. Pünktlichkeit vor anschlussgewährung Bereits 2004 wurde in der Schrift: „Verlässliche Bedienung im öfentlichen Personenverkehr - Empfehlungen zur Vermeidung von Verspätungen, Anschlussverlusten und deren Auswirkungen“ 1 die grundlegende Forderung gestellt: Nicht die Gewährung von Anschlüssen, sondern die Pünktlichkeit eines Zuges sollte oberste Priorität haben (vgl. Kasten). Eine Priorisierung der Pünktlichkeit zur Vermeidung anwachsender Fahrplanabweichungen im Netz wird den Unmut der betrofenen Fahrkunden auslösen, vor allem dann, wenn nach deren Meinung „man den Zug doch die paar Minuten hätte warten lassen können“. Insgesamt betrachtet ist dies jedoch das kleinere Übel und sollte offen angesprochen werden, z. B. „[...] weil sich anderenfalls die Unpünktlichkeit auf immer mehr Verbindungen ausweitet und immer mehr Fahrgäste ihre Anschlüsse verpassen würden.“ Bahnkunden sind oft vernünftiger, als man ihnen unterstellt. Schließlich könnten sie einmal selbst Nutznießer der Strategie „Pünktlichkeit vor Anschlussgewährung“ sein. Es geht vordringlich darum, den berechtigten Ärger zu minimieren. Zuständig dafür ist - laut FGSV-Schrift - zunächst das „verspätete Zuführungsunternehmen“, auch wenn es vielleicht nicht die Verantwortung für die eigentliche Ursache der Verspätung trägt. Als Gegenmaßnahme kommt − jedoch selten kurzfristig − die Bereitstellung einer Zusatzbeförderung für den missglückten Anschluss in Frage. Die einfachere und dazu billigere Lösung liegt in einer guten Information über die nächsten Gelegenheiten zur Weiterbeförderung jedes einzelnen Fahrgasts und eigentlich auch über die Anschlüsse an seinen folgenden Umsteige- Der Autor: Joachim fiedler Foto: DB AG MOBILITÄT Kundenservice Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 48 punkten. Gerade dies ist wegen der unterschiedlichsten Reiserouten potenzieller Informanden vom Zugbegleitpersonal nicht zu leisten. Erweitertes fahrplanblatt für mehr Gewissheit Fernreisenden bereitet schon lange vor Erreichen ihres Umsteigebahnhofes die Ungewissheit Stress, dort den Anschluss zu verpassen. Gerne verweisen die Verkehrsunternehmen diesbezüglich auf Handy, iPhone, iPad oder Laptop und die dort ersichtlichen Fahrplan- und neuerdings auch Verspätungsangaben. Hier sind jedoch die im Nachteil, die sich auf die Informationsvergabe vor Ort verlassen müssen: • Durchsagen im Zug können unverständlich sein. • Anschlusshinweise auf den Bahnhöfen werden von Nebengeräuschen überlagert. • Die zeitliche Parallelität der Durchsagen auf den Bahnhöfen sorgt für Unverständlichkeit. • Die Durchsagen müssen von den Reisenden verinnerlicht werden. Um so mehr empinden es die Kunden als nützlich, wenn sie beim Fahrscheinlösen - ob im Reisezentrum oder über Internet - den Soll-Fahrplan einschließlich sämtlicher planmäßiger Umsteigevorgänge erhalten, vorausgesetzt, sie haben angegeben, wann sie zu fahren gedenken. Leider hilft ihnen dieser Ausdruck bei verspätungsbedingten Anschlussverlusten nicht weiter. Zufriedenstellender wäre ein „Erweitertes Fahrplanblatt“, das um jeweils die nächstfolgende Fahrtmöglichkeit an allen Umsteigepunkten ergänzt wird. Ein Beispiel für dreimaliges Umsteigen soll die Idee verdeutlichen (vgl. Abbildung 1). Darin können auf einen Blick alternative Anschlussersatzfahrten selbst über verschiedene Routen und unterschiedliche Qualitäten dargestellt werden: So trift man nach etwas längerer Wartezeit in Kassel- Wilhelmshöhe bei Benutzung des ICE- 370 nur wenig später am Reiseziel Berlin- Hbf. ein, hat aber den großen Vorteil, nicht nochmals umsteigen zu müssen. Auf derartige Besonderheiten werden die Fahrgäste in der Regel nicht durch die Ansagen aufmerksam gemacht. Auf Anfrage in einem DB-Reisezentrum wäre der Ausdruck des Erweiterten Fahrplanblatts schon heute möglich, allerdings mit etwas größerem Zeitaufwand. Einer leichteren Handhabung würde eine entsprechende Software-Erweiterung dienen, die bei Eingabe der Abfahrtzeit die entsprechenden Zusatzangaben sofort mitliefert. Die vorhandenen Fahrscheinautomaten müssten entsprechend umgerüstet werden, mindestens auf „unbesetzten Haltepunkten und kleinen Bahnhöfen“, und natürlich ebenso die gängigen Online-Programme für den privaten Anwendungsbereich. kaskadenfahrplan für komplexe fahrtabläufe Verzichten könnte man auf die Zugnummern, da sie für die Fahrgäste keinen gravierenden Informationswert besitzen. Anders die Gleisangaben, die im Fall knapper Umsteigezeiten sehr geschätzt werden. Schließlich ersparen sie den zeitraubenden Gang zu den Abfahrttafeln. Selbst kompliziertere Fahrtabläufe lassen sich, wie Abbildung- 2 zeigt, verständlich darstellen: Hierbei wird für mögliche Verspätungen in jedem Teilabschnitt der Reise für den nächsten Umsteigepunkt der Anschlussersatzzug ausgewiesen, auch wenn dieser im Beispiel mal über Augsburg und mal über Mannheim oder gar über München-Pasing fährt. Das nach unten breiter werdende Erscheinungsbild der Fahrplandaten legt die Bezeichnung „Kaskadenfahrplan“ nahe. Hilfreich für die Einschätzung späterer Anschlussmöglichkeiten wäre, wenn im Zug nach jeder Abfahrt zusammen mit dem Wunsch auf „eine angenehme Fahrt“ die aktuelle „Ist-Verspätung“ genannt werden würde. Denn nicht immer liegt das Faltblatt „Ihr Reiseplan“ zum Vergleich zwischen Soll- und Ist-Zeiten aus. Zudem klingt es gut, wenn man verkünden kann: „Unser Zug ist pünktlich! “ Unerlässliche Konsequenz der geschilderten kundendienstlichen Neuerung ist es, die auf dem Erweiterten Fahrplanblatt ausgewiesenen „Anschlussersatzverbindungen“ ohne Zusatzkosten benutzen zu dürfen, allerdings lediglich bei nachgewiesenen Anschlussverlusten. Darüber ist die zuständige Transportleitung stets informiert und kann dem Zugbegleitpersonal im Anschlussersatzzug, sollten ihm bei der Fahrscheinkontrolle Zweifel kommen, die berechtigte Zugbenutzung bestätigen. Dies schließt Missbrauch nahezu aus. Nicht einzusehen wäre, dass der Fahrgast neben der Unannehmlichkeit längerer Reisezeit noch mehr bezahlen muss, wenn er die nächstmögliche Weiterfahrt u. U. in einer höhe- Pünktlichkeit geht vor anschlussgewährung „Die Broschüre der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) sieht ‚pünktlich’ bis zu einer Abweichung von 3-Minuten an. Die Deutsche Bahn setzt die Grenze bei kleiner als 6 Minuten und hat damit im Jahre 2011 Pünktlichkeitsgrade der Züge im Mittel von beeindruckenden 92,9-Prozent erreicht, 80-Prozent im Fernverkehr und 93,2-Prozent im Nahverkehr. Betrieblich erklärt sich die vermeintlich höhere Pünktlichkeit im Nahverkehr u. a. aus den kürzeren Zugläufen, da sich Verspätungen am ehesten nur an den Endhaltestellen ausgleichen lassen. Wissenschaftlich wird sowohl die Erhebungsmethode als auch die Sinnfälligkeit des DB- Pünktlichkeitsgrades angezweifelt. 2 Inkorrekt sei zunächst, ausgefallene Züge gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Des Weiteren verfälschten die vielen Unterwegshalte (pro-Zug) im Nah- und Regionalverkehr das Ergebnis, da dessen wesentlich größeres Teilkollektiv den Fernverkehr statistisch ‚benachteiligt’ und die Gesamtpünktlichkeit schönt. Grundlegender Mangel ist aber die gewählte ‚Zugpünktlichkeit’, die die Anzahl der von Verspätungen Betrofener außer acht lässt. Es besteht jedoch ein Unterschied, ob 100 oder 800-Reisende zu spät ihren Zielbahnhof erreichen. Die Schweizer Bundesbahn verwendet schon seit 2007 die ‚Kundenpünktlichkeit’, die aus Fahrgastsicht die realere Bezugsgröße ist. Abgesehen davon, dass im Nachbarland < 3-Minuten als Limit verwendet wird, in Japan sogar nur weniger als 2-Minuten! “ FGSv-SCHrIFT (2004) Abb. 1: Beispiel für dreimaliges Umsteigen Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 49 ren Zuggattung benutzt. Auch seine Zeit ist Geld! An skeptischen Meinungen zu diesem Vorschlag dürfte es nicht mangeln: • Die Erweiterten Fahrpläne verweisen auf die Wahrscheinlichkeit eines unpünktlichen Betriebes. • Die Kaskadenfahrpläne basieren auf Soll-Daten und berücksichtigen nicht den Ist-Zustand - übrigens ein Nachteil aller Fahrplanangaben! • Erweiterte Fahrplanblätter verursachen einen größeren Papieraufwand. • Fahrscheinautomaten müssen aufgerüstet werden, was nennenswerte Kosten verursacht. Verbesserter kundenservice Zur Erstellung von Kaskadenfahrplänen ist zunächst eine Zeitspanne (Zp) zwischen Soll-Ankunft des Zuführungszuges (Zufüzu) und frühester Abfahrt eines Anschlussersatzzuges (AnEzu) festzulegen. Angemessen scheinen 30-min. In aller Regel werden die Abfahrten des AnEzu später als 30 min liegen, so dass der Zufüzu mehr als 30 min Verspätung haben kann. Also wird man auch dafür im Kaskadenfahrplan mit der nächsten Weiterfahrtmöglichkeit versorgt! Trift der verspätete Zufüzu innerhalb der 30- min-Zeitspanne ein und ergibt sich zeitnah eine plan- oder außerplanmäßige Anschlussmöglichkeit, weil beispielsweise der ursprünglich vorgesehene Anschlusszug ebenfalls verspätet ist, so muss darauf im Zufüzu und auf dem Ankunftsbahnsteig nachdrücklich hingewiesen werden, da für diesen Fall der auf 30- min ausgelegte Kaskadenfahrplan keine Hilfe bietet. Informationen wie „Erfreulicherweise besteht in Richtung xyz der nächste Anschluss bereits um soundsoviel Uhr auf Gleis abc.“ oder „Der planmäßige Anschlusszug in Richtung xyz wird trotz unserer Verspätung auf Gleis abc noch erreicht“ dürften Umsteiger als echten Kundenservice einstufen und nicht als Mangel ihres Kaskadenfahrplanes werten. Im Internet verfügbare Kaskadenfahrpläne können ständig aktualisiert werden. Sowohl das Zugbegleitpersonal als auch die Besitzer der „kleinen elektronischen Wunderwerke“ wären dadurch jederzeit bestens informiert und in der Lage, gegenüber ihren „Abholern“ individuell zu disponieren. Die Zeichen der Zeit stehen für die Eisenbahnen gut, ja, sehr gut: Einerseits verärgern steigende Spritpreise in einem nie erlebten Ausmaß die Autofahrer und veranlassen sie darüber nachzudenken, künftig die öfentlichen Verkehrsmittel zu bevorzugen. Andererseits hat allein die Deutsche Bahn AG im vergangenen Jahr schon 1,6 % Fahrgäste dazu gewonnen und den Gewinn um 1,3-Mrd.-EUR gesteigert. Das sind + 25,9 %. Beides rechtfertigt den Aufwand für die Aufrüstung von Informationsprogrammen an den Fahrkartenschaltern, den Fahrscheinautomaten und im Internet. Mahnend seien der verbreiteten Selbstzufriedenheit vieler Entscheidungsträger die Worte J.- F.- Kennedys ins Gedächtnis gerufen: „Das Gute ist der Feind des Besseren.“ Ganz nebenbei stellt die FGSV-Schrift von 2004 noch eine weitere Forderung: Allen Verkehrsunternehmen mag es künftig möglich sein, ihre inanziellen Ansprüche gegenüber den Verursachern von Betriebsbeeinträchtigungen geltend machen zu können, und zwar ohne absehbar lange juristische Auseinandersetzungen, auch wenn an die Stelle des nicht mehr existenten Verursachers seine Haftplichtversicherung tritt. Denn nur so scheint es vertretbar, den Bahnunternehmen aufwendige Anschlussersatzmaßnahmen abzuverlangen. ■ 1 Zu beziehen über FGSV; Am Lyskirchen 14, 50676 Köln, oder koeln@fgsv.de. Siehe auch: Fiedler, J.: „Wir bitten um Ihr Verständnis! “, in: Der Eisenbahningenieur 2005, Heft 12, S.-40. 2 Gerd Gigerenzer (Psychologe/ Berlin), Walter Krämer (Statistiker/ Dortmund), Thomas Bauer (Ökonom/ Essen) [Westdeutsche Zeitung 07.03.12] 3 Der Verfasser ist Mitherausgeber der 6. Aulage / 2012 „Bahnwesen - Planung, Bau und Betrieb von Eisenbahnen, S-, U-, Stadt- und Straßenbahnen“, gemeinsam mit Dipl.-Ing. Wolfgang Scherz. Joachim fiedler 3 , Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. Leiter des Lehr- und Forschungsgebiets „Öfentliche Verkehrs- und Transportsysteme“ Bergische Universität Wuppertal proiedler@yahoo.de Abb. 2: Kaskadenfahrplan: Beispiel für kompliziertere Fahrtabläufe