Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2012-0092
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Zielgruppen für multimodale Verkehrsinformationssysteme
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Martin Berger
Sebastian Seebauer
Multimodale, dynamische Verkehrsinformationssysteme berücksichtigen sowohl alle Verkehrsmittel als auch die aktuelle Verkehrssituation in Echtzeit. Ihre technologische Entwicklung ist in den letzten Jahren rasant fortgeschritten. Doch wie lässt sich ihre Akzeptanz steigern, um letztlich auch das Mobilitätsverhalten positiv zu beeinlussen?
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MOBILITÄT Routenplaner Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 51 Zielgruppen für multimodale Verkehrsinformationssysteme Multimodale, dynamische Verkehrsinformationssysteme berücksichtigen sowohl alle Verkehrsmittel als auch die aktuelle Verkehrssituation in Echtzeit. Ihre technologische Entwicklung ist in den letzten Jahren rasant fortgeschritten. Doch wie lässt sich ihre Akzeptanz steigern, um letztlich auch das Mobilitätsverhalten positiv zu beeinlussen? M ultimodale, dynamische Verkehrsinformationssysteme (Advanced Traveller Information Systems, ATIS) sind technologisch in ihrer Funktionalität stark ausgereift; sie werden mit interaktiven Karten und besseren Prognosemethoden immer aktueller, verlässlicher und präziser. Technisch ausgereift und breit verfügbar Online-Auskunftssysteme • liefern Tür-zu-Tür-Informationen zu Reisezeiten, Kosten, CO 2 -Emissionen für alle Verkehrsmittel, • berücksichtigen aktuelle Verkehrssituationen in ihren Routenbzw. Verbindungsempfehlungen und schätzen entsprechend Reisezeiten ab sowie • lassen sich vor bzw. während des Weges über Internet oder Smartphone teils sogar mit personalisierten Abfragen abrufen. „Weiße Flecken“ der räumlichen Verbreitung insbesondere in Ballungsräumen gibt es immer weniger. Beispielweise deckt das ATIS „AnachB“ Ostösterreich mit ca. 40 % der österreichischen Bevölkerung ab. Zielgruppen für Verkehrsinformationssysteme? Trotz des technologischen Fortschritts und der breiten Verfügbarkeit von ATIS bleibt eine breite Marktdurchdringung in der Bevölkerung bisher aus. Im Januar 2010 kannten lediglich 4,4 % aller Österreicher irgendein ATIS und nutzten es regelmäßig mindestens einmal pro Monat (meistens Google Maps). Änderungen des Mobilitätsverhaltens durch Verkehrsinformation können so kaum gelingen. Weniger beachtet sind bislang die speziischen Eigenschaften, Informationsbedürfnisse und Motive der Nutzer: Eine Ausrichtung auf Zielgruppen kann die Akzeptanz von ATIS steigern. Bisherige Forschungsarbeiten zur Zielgruppenbestimmung (vgl. Mehndiratta et al. 2000, Schröder 2002, Franken & Luley 2005, Wittowsky 2009, Trommer et al. 2010) inden übereinstimmend eine erfolgversprechende Zielgruppe für ATIS, die meist 10-30 % der Bevölkerung umfasst und durch Merkmale wie Stadtbewohner, hoher Bildungsgrad, jüngere Personen, höhere Vertrautheit mit Internet und Smartphones, eher höheres Einkommen und multimodales Verkehrsverhalten charakterisiert wird. Zwei Aspekte werden von den bisherigen Ansätzen zur Zielgruppenbestimmung wenig thematisiert: Technikainität als Aufgeschlossenheit und Interesse an modernen Informations- und Kommunikationstechnologien und die Mediennutzung beeinlussen den Zugang zu ATIS. Bevölkerungsrepräsentative Datenbasis für Österreich Datenbasis der vorliegenden Untersuchung sind 1300 Personen aus einer Grundgesamtheit von 7,1-Mio. Österreichern ab 16-Jahren, die bundesweit mittels telefonischer Interviews vom Dezember-2009 bis Januar-2010 befragt wurden. Es wurden Telefonnummern zufällig aus dem Telefonbuch ausgewählt, geschichtet nach den 83- Bezirken Österreichs. Nach Gewichtung dieser geschichteten Zufallsstichprobe anhand der Merkmale Alter, Geschlecht und Bildungsstand aus aktuellen Bevölkerungsdaten (Statistik Austria 2009) gelten die Ergebnisse als repräsentativ für die Grundgesamtheit. Clusteranalyse Die Clusteranalyse ermittelt eine empirische Typologie mit vier Clustern, die Zielgruppen repräsentieren. Eingangsgrößen der Clusteranalyse sind nach thematischer Relevanz ausgewählte aktive Variablen Die Autoren: Martin Berger, sebastian seebauer Abb. 1: Grobcharakterisierung der Cluster MOBILITÄT Routenplaner Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 52 akTIVE VarIaBLEn skaLa kEnnWErTE CLUsTEr 1 CLUsTEr 2 CLUsTEr 3 CLUsTEr 4 GEsaMT Erwartete Nutzungshäuigkeit ATIS für alltägliche Wege Ratingskala von 1=immer bis 5=nie Mittelwert Stand. Abw. t-Test 3,7 1,3 -2,7 4,2 0,9 4,0 3,9 1,2 -0,6 3,6 1,3 -2,5 4,0 1,1 - Erwartete Nutzungshäuigkeit ATIS für außergewöhnliche Wege Ratingskala von 1=immer bis 5=nie Mittelwert Stand. Abw. t-Test 2,1 0,9 -3,2 2,7 1,0 4,6 2,5 1,0 1,0 1,6 0,6 -11,0 2,40 1,0- Nutzungshäuigkeit Internet täglich wöchentlich seltener oder gar nicht Chi²-Test 10,8 % 48,2 % 41,0 % 5,9 4,8 % 24,4 % 70,8 % 44,8 24,6 % 38,1 % 37,3 % 12,7 31,0 % 69,0 % 0,0 % 78,3 12,8 % 37,9 % 49,3 %- Nutzungshäuigkeit Navigationssystem täglich wöchentlich seltener oder gar nicht Chi²-Test 10,8 % 25,9 % 63,3 % 9,2 0,0 % 4,8 % 95,2 % 85,7 66,1 % 30,5 % 3,4 % 217,3 1,1 % 19,5 % 79,3 % 11,4 13,7 % 16,0 % 70,4 %- Zahlungsbereitschaft ATIS für einmalige Auskunft Euro Mittelwert Stand. Abw. t-Test 3,2 2,7 9,9 0,4 0,7 -8,0 0,4 0,6 -7,4 0,2 0,4 -9,8 1,0 1,8- Zahlungsbereitschaft ATIS für Pauschale pro Monat Euro Mittelwert Stand. Abw. t-Test 10,3 6,6 12,1 1,4 2,7 -8,6 2,4 3,7 -3,0 0,9 2,1 -8,7 3,6 5,5- Multimodalität Index von 0=monomodal bis 1=nutzt alle Verkehrsmittel Mittelwert Stand. Abw. t-Test 0,3 0,3 1,4 0,2 0,3 -1,9 0,2 0,3 -4,4 0,5 0,1 12,6 0,3 0,3- t-Test bzw. Chi²-Test: Vergleich der Kennwerte der einzelnen Variablen innerhalb eines Clusters mit den Kennwerten der gesamten Stichprobe Tab. 1: Kennwerte der aktiven Variablen je Cluster PassIVE VarIaBLEn CLUsTEr 1 CLUsTEr 2 CLUsTEr 3 CLUsTEr 4 Technikainität als ofene Haltung gegenüber IKT (Index aus 7 Fragen) (V=0,19,p =0,00) niedrig sehr niedrig mittel hoch Gewohnheiten der Verkehrsmittelnutzung (response-frequency measure of habit; Verplanken & Orbell 2003) (V=0,17,p =0,00) Kfz- und ÖVorientiert Kfz-orientiert Kfz-ixiert multimodal Pkw-Besitz (V=0,14,p =0,00) hoch hoch hoch niedrig Inglehart-Index als Maß für Werthaltungen Materialisten * Postmaterialisten Postmaterialisten Erwerbstätigkeit niedrig niedrig hoch hoch Geschlecht * * * * Bildungsstand niedrig * mittel hoch Einkommen * * hoch * Bevölkerungsdichte am Wohnort (V=0,12,p =0,01) hoch hoch niedrig sehr hoch Legende: sehr niedrig niedrig mittel hoch sehr hoch * Mit dieser Variablen konnte keine eindeutige Beschreibung der Zielgruppe erfolgen. Tab. 2: Ausprägung der passiven Variablen je Cluster CLUsTEr 1 CLUsTEr 2 CLUsTEr 3 CLUsTEr 4 GEsaMT Gewohnheiten der Verkehrsmittelnutzung Kfz-ixiert 24,4% 32,4% 44,9% 2,3% 29,0% ÖV-ixiert 5,5% 6,0% 5,9% 7,0% 6,0% ÖV- + Kfzorientiert 6,1% 2,4% 4,2% 14,0% 5,0% multimodal 64,0% 59,2% 44,9% 76,7% 60,1% Tab. 3: Merkmalsverteilung Gewohnheiten der Verkehrsmittelnutzung nach Cluster (vgl. Tabelle- 1). Als Klassiikationsheuristik wird ein agglomerativ-hierarchisches Verfahren gewählt, während das Ward-Verfahren als Fusionsalgorithmus fungiert. Die vier Cluster werden durch Merkmalsausprägungen der aktiven und der passiven Variablen charakterisiert (vgl. Schendera 2010). Tabelle- 2 fasst im Überblick die Ergebnisse der Kreuztabellenanalyse zusammen und zeigt dabei die Zusammenhänge zwischen passiven Variablen und den jeweiligen Clustern auf. Kursiv dargestellt als wichtige Erklärungsgrößen sind passive Variablen dann, wenn Cramers-V und Signiikanzniveau einen bedeutsamen Zusammenhang indizieren. Dies trift insbesondere auf die Technikainität und die Verkehrsmittelgewohnheiten zu, deren Ergebnisse in Tabelle- 3 und Tabelle- 4 detailliert dargestellt sind. Die unterschiedlichen Zielgruppen mit ihren Charakteristika stellt Tabelle-5 dar. Ein vereinfachtes Schema (vgl. Abbildung- 1) veranschaulicht die Zusammenhänge der Akzeptanz von ATIS mit Technikainität und Verkehrsmittelgewohnheiten. Die Dimension Akzeptanz ATIS fasst die aktiven Variablen Zahlungsbereitschaft bei einmaliger Auskunft bzw. monatlicher Pauschale und die Nutzungsabsichten ATIS bei alltäglichen bzw. außergewöhnlichen Wegen zusammen. Gewohnheiten der Verkehrsmittelnutzung und Akzeptanz von ATIS hängen zusammen: Multimodalität und ÖV-Fixiertheit steigern die Akzeptanz, umgekehrt blockiert monomodale Verkehrsmittelnutzung Internationales Verkehrswesen (64) 4 | 2012 53 des Kfz die Akzeptanz trotz vorhandener Technikainität. Entsprechend dem Entwicklungspfad von ÖV-Fahrplanauskunftssystemen zu ATIS zählen ÖV-ixierte, die auf ÖV-Informationen angewiesen sind, zu den typischen Nutzern und sind daher überproportional in Cluster-4 vertreten. fazit: stärkere nutzerorientierung ist erforderlich Zur Steigerung der Akzeptanz von multimodalen, dynamischen Verkehrsinformationssystemen (ATIS) ist eine stärkere Ausrichtung auf Zielgruppen sinnvoll. Technikainität und Verkehrsmittelgewohnheiten sind zentrale Einlussfaktoren auf die Akzeptanz, wie eine clusteranalytische Segmentierung der österreichischen Bevölkerung zeigt. Zum jetzigen Zeitpunkt erreichen ATIS lediglich ein kleines, hoch technikaines Bevölkerungssegment: die „Multimodalen Technikfreaks“ (13 % der Bevölkerung) als „Early Adopters“. Um weitere Bevölkerungskreise zu erreichen, erscheint die Kombination von ATIS mit Mobilitätsmanagement-Maßnahmen sinnvoll: ATIS können Probierverhalten und Lernen nach einer einmaligen Mobilitätsberatung unterstützen. Für eine stärkere Difusion von ATIS in den Massenmarkt sind neben klassischem Marketing zur Steigerung der Bekanntheit folgende Strategien denkbar: • Der technische Entwicklungspfad zum Medium Smartphone ist vielversprechend, da er sich an hoch technikaine Early Adopters richtet, von denen ATIS in die breite Bevölkerung difundieren können. • Das Marketing von ATIS sollte auch auf das soziale Umfeld der potenziellen Nutzer abzielen, etwa durch Verknüpfung mit Social Media-Netzwerken (z. B. Facebook, Twitter), Location-based Services auf Basis automatischer Ortung (z. B. Google Latitude, Foursquare), durch Peergroup-Ansätze oder mittels viraler Marketingstrategien. • Die Nutzung von ATIS in seltenen Reisekontexten kann eine Türöfnerfunktion übernehmen. Auf Wegen, die man seltener unternimmt, ist die Akzeptanz von ATIS deutlich höher. Non-Routine-Wege können zum Erwerb erster Nutzungserfahrungen führen, die später auf Alltagswege übertragen werden. • Um sowohl den Ambitionen von Technikfreaks (Cluster-4) an Fun & Spielen zu genügen, als auch eine niederschwellige Bedienbarkeit von ATIS durch die technikfernen bzw. -unsicheren Zielgruppen (Cluster-1 und Cluster-2) zu ermöglichen, ist eine Adaptierung der Funktionalitäten von ATIS an deren unterschiedliche Bedürfnisse sinnvoll. Zum Einstieg ist ein barrierefreies, simples User Interface zielführend, während die nachgeordneten Ebenen auf spezielle Zielgruppen angepasste Module und Zusatzfunktionalitäten enthalten. Danksagung Der Aufsatz beruht auf dem Forschungsprojekt „INFO-EFFECT − Zielgruppen- CLUsTEr 1 CLUsTEr 2 CLUsTEr 3 CLUsTEr 4 GEsaMT Technikainität hoch 12,7 % 9,4 % 24,6 % 31,0 % 15,4 % mittel 72,7 % 61,2 % 59,3 % 52,9 % 62,6 % gering 14,5 % 29,4 % 16,1 % 16,1 % 22,0 % Tab. 4: Merkmalsverteilung Verkehrsmittelnutzung nach Cluster CLUsTEr CHarakTErIsTIka Cluster 1 Kfz- und ÖVorientierte Technikunsichere (24,9%) mäßig multimodal, Kfz- und ÖV-orientiert, technikunsicher, Materialisten, niedriger Bildungsstand, hohe Zahlungsbereitschaft bei mittlerer Nutzungsbereitschaft Cluster 2 Kfz-orientierte Technikferne (45,7%) Kfz-orientiert, technikfern, weder Nutzung Internet noch Navigationssysteme, geringe Zahlungsbereitschaft Cluster 3 Kfz-ixierte Techniknahe (16,6%) stark Kfz-ixiert, mittlere Technikainität, starke Nutzung von Navigationssystemen statt ATIS, Landbewohner Cluster 4 Multimodale Technikfreaks (12,8%) stark multimodal bis ÖV-ixiert, hohe Technikainität, starke Nutzung Internet, Stadtbewohner, hoher Bildungsstand, geringe Zahlungsbereitschaft bei hoher Nutzungsbereitschaft Tab. 5: Beschreibung der Cluster speziische Wirkungen von multimodalen Verkehrsinformationen auf individuelles Verkehrsverhalten“, beauftragt vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) in der Programmlinie IV2Splus. Der Endbericht ist unter http: / / www2.ffg.at/ verkehr/ studien.php? id=578 verfügbar. ■ Martin Berger, Dr.-Ing. Geschäftsführer, verkehrplus GmbH, Prognose, Planung und Strategieberatung, Graz, Weimar und Bonn martin.berger@verkehrplus.at sebastian seebauer, Dr. Post-Doc Scientist Wegener Zentrum für Klima und Globalen Wandel, Karl-Franzens-Universität Graz sebastian.seebauer@uni-graz.at LITEraTur FRANKEN, V., LULEY, T. (2005): Verkehrstelematik und Analysen zu ihrer Akzeptanz: Sachstand − Deizite − Potenziale. HEUREKA '05 Optimierung in Verkehr und Transport, 71-89 und DLR Electronic Library. http: / / elib.dlr.de/ 20983/ . MEHNDIRATTA, S., KEMP, M., PEIRCE, S., LAPPIN, J. (2000): Users of a Regional Telephone-Based Traveler Information System − A Study of TravInfo users in the San Francisco Bay Area. Transportation, 27, 391-417. SCHRÖDER, R. (2002): Zur Akzeptanz innovativer Verkehrsinformationssysteme. 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